L 6 SB 2229/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SB 1050/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 2229/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 3. Juli 2023 abgeändert.

Der Bescheid des Beklagten vom 9. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. April 2021 wird aufgehoben, soweit damit ein Grad der Behinderung von weniger als 50 festgestellt worden ist.

Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

Von den außergerichtlichen Kosten des Klägers hat der Beklagte in beiden Instanzen zwei Drittel zu tragen.



Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 30 aufgrund eingetretener Heilungsbewährung nach einer Karzinomerkrankung an der rechten Mandel.

Er ist 1969 geboren und als Maschinenbaumechaniker in Früh- und Spätschicht tätig. Der Kläger ist verheiratet und hat eine Tochter (vgl. Entlassungsbericht F1-Klinik).

Am 1. Juni 2015 beantragte er bei dem Landratsamt H1 (LRA) erstmals die Feststellung des GdB und machte ein Karzinom an der rechten Mandel mit Metastasen im rechten Ohr geltend. Im Befundbericht des K1 über die Computertomographie (CT) der Halsweichteile vom 16. März 2015 wurde eine Raumforderung im Bereich der Tonsillenregion rechts sowie eine zum Teil nekrotische Lymphknotenmetastase im Bereich der Halsgefäßscheide beschrieben.

Im pathologischen Befundbericht des B1 vom 7. April 2015 wurde eine HPV-Infektion Typ 16 (high risk) in dem Plattenepithelkarzinom angegeben.

Der Kläger wurde vom 21. April bis 8. Mai 2015 stationär im Universitätsklinikum U1 behandelt. Am 23. April 2015 sei eine Tracheostomie sowie eine Tumorresektion via lateraler Pharyngotomie rechts erfolgt. Der Eingriff sei komplikationslos verlaufen, am Folgetag jedoch eine massive Emesis aufgetreten, weshalb eine Wundrevision mit Wundspülung und Lappenrevision erfolgt sei. Im weiteren Verlauf sei es zu einem verlängerten postoperativen Aufenthalt auf der Intensivstation wegen septischer Temperaturen gekommen.

Im Verlauf sei der Schluckversuch problemlos und ohne Aspiration verlaufen. Der orale Kostaufbau sei erfolgreich gewesen. Eine logopädische Unterstützung und eine zahnärztliche Mitbehandlung seien nicht gewünscht worden. Die Durchführung einer adjuvanten Radiochemotherapie sei notwendig.

G1 bewertete versorgungsärztlich die Mund-Rachenerkrankung in Heilungsbewährung mit einem GdB von 80, den das LRA mit Bescheid vom 15. Juli 2015 seit dem 1. Juni 2015 feststellte.

Im April 2020 leitete das LRA eine Nachprüfung von Amts wegen ein. Zur Akte gelangte der onkologische Brief des Universitätsklinikums U1 vom 31. Oktober 2019, in dem als Diagnosen eine arterielle Hypertonie sowie ein benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel links beschrieben wurden. Die onkologische Nachsorge habe einen guten Allgemeinzustand gezeigt. Es bestehe ein Schwankschwindel bei schnellen Bewegungen oder bei Drehung im Bett sowie auch beim Aufrichten vom Bett mit Schwarzwerden vor Augen und Sturzneigung.

Die G2 legte im ärztlichen Bericht vom 28. März 2019 dar, dass aufgrund von Wundheilungsstörungen zwei weitere Operationen notwendig geworden seien. Anschließend habe der Kläger eine hochdosierte Bestrahlung des Rachens und des Halses in Kombination mit einer Chemotherapie erhalten. Als deren Folge bestehe eine chronische Fatigue-Symptomatik. Weiter habe diese speziell zu einer Mundtrockenheit mit dem Erfordernis geführt, den Mund regelmäßig anzufeuchten und den noch selbst produzierten zähen Speichel im Mund aufwendig zu säubern. Schließlich sei eine Atrophie der Haut und der Weichteile am Hals eingetreten. Der Kläger leide deswegen unter erheblichen Schluckbeschwerden und Lymphödemen im Gesicht, die regelmäßig, zwei- bis dreimal pro Woche, Lymphdrainagen erforderten.

Von Seiten des Tumors sei der Kläger gesund, er leide aber an den erheblichen Folgen der durchgeführten tumorspezifischen Behandlungen, insbesondere an dem nach Strahlentherapie typischen Speichelmangel. Als Folge der Lymphabflussstörungen gerate er gelegentlich unter Luftnot, die insbesondere nachts zu Schlafstörungen führe. Durch die Atrophie der Halsmuskulatur habe er chronische Schmerzen im Bereich der Kopf-/Schulter-/Halsregion.

Die Leistungsfähigkeit sei bedingt durch die Folgen der Erkrankung eingeschränkt. Er sei zwar nicht arbeitsunfähig, die Gestaltung des Arbeitsplatzes müsse aber so sein, dass er immer wieder Pausen einlegen könne, um die erforderliche Mundpflege durchzuführen.

B2, Praxis für Nervenrehabilitation, legte in der Bescheinigung vom 19. März 2019 dar, dass typische, aggravierende Bestrahlungsschäden bestünden. Es komme zu rezidivierenden Lymphstauungen im Bereich der rechten Gesichts- und Halsseite, zu narbigen Verklebungen von allen Gewebeschichten, einer deutlich reduzierten Durchblutung und Nervenreizungen, insbesondere des Nervus trigeminus und des Nervus facialis rechts. Weiter seien Zahn- und Kieferknochenmaterial zerstört worden und die Speichelproduktion quasi aufgehoben.

Es tauchten immer wieder einstrahlend-ziehende krampfartige Nervenschmerzen bei muskulärer Minder-/Fehlversorgung, eine eingeschränkte Dehnungsfähigkeit des Muskel- und Hautgewebes, welche sich besonders bei deutlichen Kopfdrehungen und dem Kopf-in-den-Nacken-Legen als ziehender Schmerz bemerkbar machten, einhergehend mit Lymphstauungen auf. Inzwischen sei es zum Verlust aller Backenzähne gekommen, im Nase-Mund-Rachenbereich bestehe durch den fehlenden Immunschutz eine erhöhte Infektanfälligkeit.

Im Entlassungsbericht der F1-Klinik über die stationäre Rehabilitation vom 26. April bis 23. Mai 2018 wurden im Vordergrund stehende rezidivierende krampfartige Schmerzen im seitlichen Nackenbereich beidseits sowie ziehende Schmerzen submandibulär beschrieben. Die Lymphödeme führten zu erheblichen Ödemen im Mundraum. Hinweise auf ein Rezidiv bestünden nicht.

Das Gewicht sei bei gutem Appetit stabil, der Nachtschlaf ungestört. Die Belastbarkeit sei gut, ohne Belastungsdyspnoe oder Angina pectoris. Die großen Gelenke seien aktiv und passiv frei beweglich. Es bestehe weder ein Druck- noch ein Dehnungsschmerz der Wirbelsäule, der neurologische Befund sei unauffällig.

Hinsichtlich des Lymphödems zeige sich eine diskrete Volumenvermehrung im Bereich von Hals und Gesicht. Weiter bestehe eine ausgeprägte Volumenvermehrung in der Mundhöhle sowie submandibulär. Die Zunge sei frei beweglich, die Ödematisierung submandibulär stark bindegewebig durchsetzt.

Aufgrund des ausgeprägten chronischen Schmerzsyndroms im Nackenbereich habe der Kläger eine Therapie durch das interdisziplinäre Schmerzteam erhalten. Neben der medikamentösen Therapie seien regelmäßige Massagen und Einreibungen durchgeführt, damit über eine moderate Linderung der Beschwerden berichtet worden. Die regelmäßig kontrollierten Blutdruckwerte hätten im normotensiven Bereich gelegen.

Während der Behandlung habe der Ödembefund im Gesicht, der Mundinnenhöhle sowie im Halsbereich qualitativ und quantitativ gebessert werden können. Mit den durchgeführten nicht medikamentösen Maßnahmen sei eine moderate Schmerzlinderung erreicht worden. Rezidivierende Schmerzen im Nackenbereich würden weiterhin angegeben.

Die Fortführung ambulanter Lymphdrainage dreimal wöchentlich werde ebenso empfohlen, wie das nächtliche Tragen der neu angefertigten Kompressionsteile. Über die Notwendigkeit der additiven Hautpflege mit rückfettenden Salben sei der Kläger informiert worden.

Im Befundbericht des F2 vom 7. Februar 2018 wurde ein sanierungsbedürftiges Gebiss mit operativer Entfernung der Zähne 26, 27, 46, 47 und 48 beschrieben. Der intra- und postoperative Verlauf sei komplikationslos gewesen. Am 1. März 2018 führte er aus, dass der Heilungsverlauf im bestrahlten Knochen sehr zögerlich gewesen sei. In der Regio 48 liege der Knochen weiterhin frei, sodass eine Revision und plastische Deckung nochmals erforderlich werde.

Das LRA erhob den Befundschein des S1, der ausführte, dass das Zeichen nach Ott (Beweglichkeit der Brustwirbelsäule [BWS]) bei 30:33 cm gelegen habe. Das Zeichen nach Schober (Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule [LWS]) betrage 10:13 cm, bei einem möglichen Finger-Boden-Abstand (FBA) von 40 cm. Das Zeichen nach Lasègue sei negativ, beide Hüften seien gut beweglich. Die Reflexe seien auslösbar, der Langsitz möglich bei bestehendem Belastungsschmerz. Am linken Sprunggelenk bestehe ein Bewegungs- und Belastungsschmerz.

Vorgelegt wurde der Bericht des Klinikums H1 über die Vorstellung in der Zentralen Notaufnahme am 10. November 2019. Es habe sich kein Gesichtsfelddefekt gezeigt, die fasziale Mimik und Ästhesie seien intakt. Motorisch bestehe ein Kraftgrad von 5/5 in der Einzelkraftprüfung der oberen und unteren Extremitäten. Arm- und Beinhalteversuch seien beidseits unauffällig, die Muskeleigenreflexe der oberen und unteren Extremität seitengleich und normal auslösbar. Sämtliche Stand- und Gangprüfungen hätten sicher durchgeführt werden können. Psychopathologisch sei der Kläger wach, bewusstseinsklar sowie in allen Qualitäten gut und sicher orientiert. Bei den Rückenbeschwerden handele es sich um Myogelosen, neurologische Ausfallsymptome bestünden keine. Eine konservative Therapie sei besprochen worden.

Die Kernspintomographie (MRT) des linken Sprunggelenks vom 6. Oktober 2017 ( K1) zeigte eine mäßige Arthrose des oberen Sprunggelenks (OSG).

Das Universitätsklinikum U1 übersandte den bereits aktenkundigen Bericht über die onkologische Nachsorge vom 30. Oktober 2019. Die Wiedervorstellung zur onkologischen Nachsorge solle in sechs Monaten erfolgen. Zur Abklärung des Schwindels werde eine orthopädische, neurologische und kardiologische Vorstellung empfohlen.

Z1 bewertete versorgungsärztlich die Mundtrockenheit mit einem Teil-GdB von 20 sowie die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule ebenfalls mit einem Teil-GdB von 20, sodass der Gesamt-GdB 30 betrage. Der Kieferknochenschaden und der Zahnschaden, der Schwindel, die Panikattacken sowie die Funktionsbehinderung des Sprunggelenks führten zu keinem Teil-GdB von mindestens 10.

Ein Orophayrynx-Karzinom werde nicht beschrieben, Heilungsbewährung sei eingetreten. Anerkannt werden könne eine Mundtrockenheit und ein Wirbelsäulenleiden ohne sensomotorische Defizite. Eine behandlungsbedürftige psychische Störung bestehe nicht, ebenso keine Bewegungseinschränkung des Sprunggelenks.

Auf die Anhörung (§ 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X]) zur Herabsetzung legte der Kläger den Bericht über die onkologische Nachsorge vom 10. Juni 2020 (G3) vor. Danach sei über eine ausgeprägte Mundtrockenheit und zähe Speichelbildung berichtet worden. Das Gesicht und der Hals würden immer wieder anschwellen, insbesondere beim Liegen in der Nacht. Nur eine regelmäßige Lymphdrainage erbringe Linderung. Die Schwellung trete gehäuft nachts im Rachenbereich auf und behindere beim Atmen und Schlucken. Dadurch sei der Nachtschlaf beeinträchtigt. Durch die zunehmende Atrophie und Fibrosierung der Halsmuskulatur als Folge der Strahlentherapie würden chronische Schmerzen im Bereich des Halses und des Nackens sowie eine zunehmende Einschränkung der Kopf- und Halsbeweglichkeit beklagt.

In der Mundhöhle seien die Schleimhäute extrem trocken, gerötet und vulnerabel. Der Gaumenbogen sei nach rechts verzogen, das Transplantat gut eingeheilt. Es finde sich kein Hinweis auf ein Tumorrezidiv oder einen Zweittumor. Pathologische Lymphknotenveränderungen bestünden nicht, die Kopf- und die Halsbeweglichkeit sei eingeschränkt und schmerzhaft. Es zeigten sich ausgeprägte posttherapeutische Veränderungen.

B2 führte aus, dass sich die geschilderten Beschwerden vollständig mit den klinischen Befunden deckten. Die psychovegetativen Beschwerden seien nur durch eine Mitschädigung des Nervus vagus zu erklären, der unmittelbar im Bestrahlungsgebiet gelegen habe. Mit einem Fortschreiten der Strahlenschädigung sei zu rechnen. Die Grunderkrankung sei nicht als abgeschlossen zu werten, eine Metastasierung nicht ausgeschlossen und eine permanente Kontrolle deshalb notwendig.

G1 bewertete versorgungsärztlich die Mundtrockenheit, Teilentfernung von Halsweichteilen, die Lymphstauung und den Schwindel nunmehr mit einem Teil-GdB von 30 sowie die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit einem Teil-GdB von 20. Es ergebe sich keine Änderung des Gesamt-GdB. Dieser sei weiter auf 30 einzuschätzen.

Mit Bescheid vom 9. Juli 2020 änderte das LRA den Bescheid vom 15. Juli 2015 ab und stellte einen GdB von nur noch 30 ab dem 14. Juli 2020 fest.

Im Widerspruchsverfahren holte das LRA einen weiteren Befundschein des S1 ein. Dieser legte dar, dass bei der klinischen Untersuchung am 19. November 2020 ein Bewegungs- und Belastungsschmerz am linken Sprunggelenk bestanden habe. Die Schulterblätter seien gleich hochstehend. Es zeige sich ein parathorakaler Druckschmerz zwischen BWK 6 und 10 beidseits. Das Zeichen nach Ott liege bei 30:33 cm, das Zeichen nach Schober bei 10:13 cm. Beide Hüften seien gut beweglich, die Reflexe auslösbar. Der Langsitz sei möglich, das Zeichen nach Lasègue beidseits negativ.

Z1 legte versorgungsärztlich dar, dass die Folgen der Tumortherapie und die Behinderungen an Knie- und Sprunggelenken streitig seien. Eine wesentliche Störung des Ernährungszustandes durch die Mundtrockenheit werde nicht beschrieben. Das Wirbelsäulenleiden sei ohne sensomotorische Defizite, die Wirbelsäule frei beweglich. Der Bewegungs- und Belastungsschmerz im Sprunggelenk erreiche bei freier Beweglichkeit nicht das Ausmaß einer Behinderung. Eine Funktionseinschränkung der Kniegelenke sei vom Orthopäden nicht mitgeteilt worden.

Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium S2 – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 15. April 2021 zurück. Der GdB sei zu Recht herabgesetzt worden. Bei der GdB-Bewertung von Geschwulstkrankheiten sei zu berücksichtigen, dass nach Beseitigung der Geschwulst nicht nur der verbliebene Organschaden, sondern auch der Umstand zu beachten sei, dass eine Heilungsbewährung abgewartet werden müsse. In dieser Zeit sei die gesamte Lebensführung über die Auswirkungen des Organschadens hinaus erheblich beeinträchtigt, wobei das Ausmaß vor allem von der Art, dem Stadium und dem Ort des Geschwulstleidens sowie vom Erkrankungsalter abhänge.

Hinsichtlich der Mund-Rachenerkrankung sei der Zeitraum der Heilungsbewährung rückfalllos abgelaufen. Die Funktionsbeeinträchtigung „Mund-Rachenerkrankung, Teilentfernung der Halsweichteile, Lymphstauung und Schwindel“ sei mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten. Die Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule (Teil-GdB 20) führe zu keiner wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Behinderung und rechtfertige keinen höheren Gesamt-GdB.

Die Folgen der Tumortherapie bei Mund-Rachenerkrankung seien ausreichend berücksichtigt. Eine schwere Störung der Nahrungsaufnahme mit Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes liege nicht vor. Der Wirbelsäulenschaden sei ohne sensomotorische Defizite. Bei frei beweglicher Wirbelsäule sei der Teil-GdB mit 20 hoch bewertet. Das Sprunggelenk sei frei beweglich, es bestehe ein Bewegungs- und Belastungsschmerz. Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung der Kniegelenke mit Bewegungseinschränkung und anhaltenden Reizerscheinungen ergebe sich aus den vorliegenden Befunden nicht.

Am 29. April 2021 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Ulm erhoben, die er trotz Erinnerung nicht begründet hat.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 3. Juli 2023 abgewiesen. Der Behinderungszustand des Klägers habe sich gegenüber dem Bescheid vom 15. Juli 2015 verbessert, nachdem Heilungsbewährung eingetreten sei. Es bestünden keine Anhaltspunkte, wonach entgegen der versorgungsärztlichen Stellungnahme eine Höherbewertung der verschiedenen Teil-GdB in Betracht käme. Einwendungen hiergegen habe der Kläger nicht vorgebracht. Auch unter Berücksichtigung der Maßstäbe zur Bildung des Gesamt-GdB sei dieser mit 30 angemessen festgestellt. Ein höherer GdB sei nicht nachgewiesen.

Am 3. August 2023 hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 3. Juli 2023 sowie den Bescheid des Beklagten vom 9. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom15. April 2021 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.

Mit Verfügung vom 19. Dezember 2023, zugestellt am gleichen Tag, ist zur Berufungsbegründung unter Hinweis auf § 106a Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine Frist bis zum 26. Januar 2024 gesetzt worden, eine Reaktion ist nicht erfolgt. Ebenso hat der Kläger auf das nochmalige Anschreiben vom 20. Februar 2024 nicht reagiert.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl für den Kläger niemand zum Termin erschienen ist, da mit der ordnungsgemäß zugestellten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist, § 110 Abs. 1 Satz 2 SGG.

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig und teilweise begründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 3. Juli 2023, mit dem die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) gegen den Bescheid vom 9. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 15. April 2021 abgewiesen worden ist.
Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung des Sach- und Streitstandes ist bei dieser Klageart der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Aufl. 2023, § 54 Rz. 33; BSG, Urteil vom 13. August 1997 – 9 RVs 10/96 –, juris, Rz. 15; BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/15 R –, juris, Rz. 13).
Die teilweise Begründetheit der Berufung folgt aus der teilweisen Begründetheit der Klage. Der Bescheid vom 9. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. April 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG), soweit der Beklagte den GdB auf unter 50 herabgesetzt hat. Zur Überzeugung des Senats ist zwar Heilungsbewährung eingetreten, wodurch die Neufeststellung des GdB ermöglicht wird. Der beim Kläger bestehende Folgezustand nach der Chemotherapie rechtfertigt aber einen Entzug der Schwerbehinderteneigenschaft nicht.

Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten der Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Dabei liegt eine wesentliche Änderung vor, soweit der Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht mehr so erlassen werden dürfte, wie er ergangen war. Die Änderung muss sich nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken. Das ist bei einer tatsächlichen Änderung nur dann der Fall, wenn diese so erheblich ist, dass sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand ist auszugehen, wenn diese einen um wenigstens 10 veränderten Gesamt-GdB rechtfertigt (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 12). Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt – teilweise – aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 – 9a RVs 55/85 –, juris, Rz. 11 m. w. N.). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des – teilweise – aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 V 2/10 R –, SozR 4-3100 § 35 Nr. 5, Rz. 38 m. w. N.).

Nach den VG, Teil B, Nr. 1c ist nach der Behandlung bestimmter Krankheiten, die zu Rezidiven neigen, insbesondere bei bösartigen Geschwulsterkrankungen, eine Heilungsbewährung abzuwarten. Der Zeitraum beträgt in der Regel fünf Jahre und zwar ab dem Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann. Die Anhaltswerte sind auf den Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen und beziehen den regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden mit ein. Soweit keine außergewöhnlichen Folgen oder Begleiterscheinungen der Krebserkrankung vorliegen, legen die VG die Höhe des GdB pauschal fest. Erst für die Zeit danach ist der GdB nach den konkreten Auswirkungen der vorliegenden Gesundheitsstörung zu bemessen. Beruht daher die Höhe des GdB auf einer Erkrankung, für welche die einschlägigen Normen einen erhöhten GdB-Wert während des Zeitraums der Heilungsbewährung ansetzen, ändert das Verstreichen dieses Zeitraums die wesentlichen, d.h. rechtserheblichen tatsächlichen Verhältnisse, die der Feststellung des GdB zu Grunde lagen (BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/15 R –, juris, Rz. 15; BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 – 9 RVs 12/95 –, juris, Rz. 14). Somit begründet schon der reine rezidivfreie Zeitablauf den Eintritt der Heilungsbewährung und damit die wesentliche Änderung. Eine Beschwerdefreiheit oder eine folgenlose Ausheilung der Erkrankung wird nicht vorausgesetzt.

Diese Voraussetzungen sind dem Grunde nach erfüllt, da gegenüber dem maßgebenden Vergleichsbescheid vom 15. Juli 2015 eine wesentliche Änderung dadurch eingetreten ist, dass Heilungsbewährung hinsichtlich der Karzinomerkrankung der rechten Mandel des Klägers vorliegt. Ein Rezidiv ist nicht aufgetreten, wie der Senat dem Befundbericht der G2 entnimmt, den er im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) verwertet. Der Beklagte war daher zur Neufeststellung des GdB dem Grunde nach berechtigt und ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass ein GdB von 80 nicht mehr erreicht wird. Eine an den Vorgaben der VG orientierte Begründung dafür, weshalb die Schwerbehinderteneigenschaft nicht mehr erreicht sein sollte, findet sich indessen weder im Bescheid noch im Widerspruchsbescheid. Eine Auseinandersetzung mit den Vorgaben der VG ist durch das SG ebenfalls nicht erfolgt.

Der Anspruch richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.

Soweit der Antrag sich auf den Zeitraum vor dem 1. Januar 2018 bezieht, richtet sich der Anspruch nach den in diesem Zeitraum geltenden gesetzlichen Vorgaben (vgl. §§ 69 SGB IX ff. a. F.), nach denen ebenso für die Bewertung des GdB die VersMedV und die VG die maßgebenden Beurteilungsgrundlagen waren.

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (BSGE 82, 176 [177 f.]). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht nach Auswertung der urkundsbeweislich verwerteten Befundunterlagen zur Überzeugung des Senats fest, dass ein GdB von 50 weiterhin erreicht wird, der Kläger also weiter schwerbehindert ist.

Die bewertungsrelevanten Funktionseinschränkungen sind einheitlich im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ zu bewerten, da der Schwerpunkt der durch die Chemotherapie bedingten Folgewirkungen, die
G2 fachkundig beschrieben hat, auf neurologischem Fachgebiet liegen. Die damit einhergehenden Einschränkungen, die anderen Funktionssystemen zugerechnet werden könnten, sind in diesem Funktionssystem mit zu bewerten, da eine Zergliederung des Folgezustandes den Vorgaben der VG nicht entspricht und in der Sache sachlich nicht gerechtfertigt ist, da dies zu einer weitgehenden Nichtberücksichtigung der Bestrahlungsfolgen führen würde (vgl. hinsichtlich einer Brustkrebserkrankung bereits ausführlich: Senatsurteil vom 14. Oktober 2021 – L 6 SB 2703/20 –, juris, Rz. 49).

Konkrete Bewertungsmaßstäbe hinsichtlich der Erkrankung des Klägers enthalten die VG nicht, sodass die Gesundheitsstörungen, die in der Tabelle nicht aufgeführt sind, in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen zu beurteilen sind (vgl. VG, Teil B, Nr. 1b).

Nach den VG, Teil B, Nr. 2.2 sind leichte Sensibilitätsstörungen im Gesichtsbereich mit einem GdB von 0 bis 10 zu bewerten, ausgeprägte, den oralen Bereich einschließende, mit einem GdB von 20 bis 30. Leichte Gesichtsneuralgien führen zu einem GdB von 0 bis 10, mittelgradige (häufigere, leichte bis mittelgradige Schmerzen, schon durch geringe Reize auslösbar) zu einem GdB von 20 bis 40.

Hiervon ausgehend rechtfertigen allein die Nervenschäden des Klägers im Gesichts- und Halsbereich einen GdB von 30. B2 hat überzeugend dargelegt, dass die Bestrahlungsschäden zu einer deutlich reduzierten Durchblutung und Nervenreizungen insbesondere des Nervus trigeminus und des Nervus facialis rechts führen, sowie eine Zerstörung von Zahn- und Kiefermaterial vorliegt. Durch letzteres ist es zum Verlust der Backenzähne gekommen, wie der Senat dem Bericht des F2 entnimmt, der darüber hinaus noch einen teilweise freiliegenden Knochen beschrieben hat. Der orale Bereich ist damit deutlich beeinträchtigt, was die Ausschöpfung des Bewertungsrahmens rechtfertigt.

Daneben ist durch die Befundberichte, insbesondere den Entlassungsbericht der F1-Klinik belegt, dass es bei dem Kläger infolge der Lymphödeme zu Volumenmehrungen im Bereich von Gesicht und Hals kommt, die in hoher Frequenz (dreimal wöchentlich) regelmäßiger Lymphdrainage bedürfen. Zum einen ist damit eine äußerlich sichtbare Beeinträchtigung dokumentiert, nämlich eine Volumenvermehrung im Gesicht trotz Therapie (vgl. Bericht der F1-Klinik). Zum anderen ist belegt, dass es zu einer ausgeprägten Volumenvermehrung in der Mundhöhle sowie submandibulär kommt. Dadurch wird zwar die Zungenbeweglichkeit nicht beeinträchtigt. Dem Befundbericht des G3 entnimmt der Senat jedoch, dass es bei dem Kläger insbesondere nachts zu einem Anschwellen im Rachenbereich kommt, wodurch es – für den Senat nachvollziehbar – zu Behinderungen beim Atmen und Schlucken kommt. Auf erhebliche Schluckbeschwerden hat die G2 ebenfalls hingewiesen. Die Lymphödeme führen damit nicht nur zu einer optischen Beeinträchtigung, sondern begründen weitergehende Einschränkungen insbesondere bei der Atmung und beim Essen wie Trinken, die über die bereits berücksichtigten neurologischen Einschränkungen (vgl. oben) hinausgehen und deshalb zusätzlich erhöhend zu berücksichtigen sind.

Weiter bestimmt VG, Teil B, Nr. 7.1., dass eine Störung der Speichelsekretion (vgl. VG, Teil B, Nr. 7.1 – vermehrter Speichelfluss, Mundtrockenheit) ein GdB von 0 bis 20 begründet. Diesbezüglich haben G2 und G3 eine nach Bestrahlung typische Mundtrockenheit mit nur zäher Speichelbildung beschrieben, sodass eine Ausschöpfung des Bewertungsrahmens gerechtfertigt ist und nach den Vorgaben der VG ein GdB von 20 anzunehmen ist.

Daneben führen die Nervenschädigungen zu rezidivierenden Schmerzen im Schulter-Nackenbereich, wie sowohl dem Rehabilitationsentlassungsbericht als auch den Berichten des G3 und der B2 und G2 zu entnehmen ist. B2 hat hierzu überzeugend dargelegt, dass eine eingeschränkte Dehnungsfähigkeit des Muskel- und Hautgewebes besteht, die sich vor allem bei Kopfdrehungen und dem Kopf-in-den-Nacken-Legen bemerkbar macht. Für die Ausprägung des Befundes spricht, dass die F1-Klinik unter medikamentöser Therapie sowie regelmäßigen Massagen nur eine moderate Linderung der Beschwerden erreichen konnte, die Beschwerden also therapeutisch nur schwer beeinflussbar sind, was dadurch unterstrichen wird, dass B2 darauf hinweist, dass mit einem Fortschreiten der Strahlenschädigung zu rechnen ist.

Die durch die Strahlenbehandlung bedingten Einschränkungen im Bereich der HWS sind daher entsprechend mittelgradigen Funktionseinschränkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt nach VG, Teil B, Nr. 18.9 zu bewerten und führen damit für sich zu einem GdB von ebenfalls 20.

Für den Fortbestand der Schwerbehinderteneigenschaft spricht letztlich, dass die G2 als Folge der Behandlung eine fortbestehende chronische Fatigue-Symptomatik beschrieben hat, was aufgrund der Chemotherapie zwanglos nachvollziehbar ist (vgl. dazu auch bereits Senatsurteil vom 16. März 2023 – L 6 SB 1695/22 –, juris, Rz. 52).
Der Teil-GdB im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ von 50 entspricht somit dem Gesamt-GdB. Befunde, die einen solchen von 80 weiter tragen würden, sind nicht objektiviert. Entgegen der versorgungsärztlichen Bewertung ist ein weiterer Teil-GdB von 20 im Funktionssystem „Rumpf“ nicht gegeben. Die durch die Bestrahlungsfolgen bestehenden Einschränkungen im Bereich der HWS sind bereits eingestellt und gewürdigt worden, eine Doppelberücksichtigung scheidet aus. Die dokumentierten Funktionseinschränkungen an der LWS mit einem Zeichen nach Schober von 10:13 cm, wie es sich aus den Befundberichten des S1 ergibt, rechtfertigt die Annahme mittelgradiger Funktionseinschränkungen nicht. Neurologische Ausfallerscheinungen sind nicht belegt, wie Z1 versorgungsärztlich ebenfalls dargelegt hat. Pathologische Befunde, die einen weiteren Teil-GdB im Funktionssystem „Beine“ rechtfertigen könnten, sind von S1 insbesondere im Bereich der Sprunggelenke (vgl. VG, Teil B, Nr. 18.14) nicht beschrieben worden.

Die Berufung des Klägers konnte daher nur teilweise Erfolg haben und war im Übrigen zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Schwerbehinderteneigenschaft bei dem Kläger fortbesteht.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.


 

Rechtskraft
Aus
Saved