L 6 VG 2783/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 VG 35/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 2783/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 8. September 2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Beklagte wendet sich mit der von ihm erhobenen Berufung gegen die erstinstanzliche Verurteilung zur Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz – OEG) i. V. m. dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG) nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 70 ab dem 1. August 2019 aufgrund körperlicher und sexueller Misshandlungen des Klägers durch dessen Vater.

Der Kläger ist 1972 als jüngstes Kind einer Familie mit 5 Kindern geboren (Bruder 6 Jahre älter, dann 3 Schwestern). Nach dem Hauptschulabschluss machte er eine Berufsausbildung zum Einzelhandelskaufmann und nachfolgend zum Substitut-Marktleiter. Er leistete Zivildienst und war danach als Steinmetz, Industrielöter, Hartlöter und Metallarbeiter bis 2014 beschäftigt. Dann wurde er arbeitsunfähig. Er bezieht Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) und seit dem 1. November 2019 eine Rente wegen Erwerbsminderung. Nach der Beendigung einer ca. 15 Jahre dauernden Beziehung lebt der Kläger mit seiner jetzigen Partnerin in einem eigenen Haus. Mit dieser hat er eine gemeinsame Tochter, die 2019 geboren wurde (vgl. ärztlicher Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik G1, Gutachten der H1, des M1 und der W1). 

Im Antrag vom 12. August 2019 auf Leistungen nach dem OEG gab der Kläger an, in seiner Kindheit Opfer des sexuellen Missbrauchs und der körperlichen Gewalt seines Vaters, F1, geworden zu sein. Deswegen leide er unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), einem Schwindel, Konzentrationsschwierigkeiten, Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion, einer Schlaflosigkeit, einer Migräne und Angst- wie Erschöpfungszuständen. Nachfolgend konkretisierte der Kläger den Zeitraum der Taten auf die Jahre 1977 und 1978. 

Zur Vorlage kam das Urteil des Landgerichts H2 vom 29. Oktober 1979 durch das sein Vater wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung, sexuellen Missbrauchs von Kindern und Schutzbefohlenen wie des Beischlafs zwischen Verwandten (der drei Schwestern des Klägers) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten und unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts B1 vom 18. Oktober 1978 zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden war.

Aus dem Bericht des den Kläger behandelnden M2 über die Behandlung des Klägers am 15. Mai 2019 ergaben sich die Diagnosen Persönlichkeitsstörung nach sexuellem Abusus in der Kindheit, rezidivierende depressive Störung, derzeit schwere Episode mit latenter Suizidalität, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, psychosomatischer Schwindel, Kombinationskopfschmerz, Hypertonie und Hypercholesterinämie.
Das S2 Krankenhaus S1 stellte nach der teilstationären Behandlung des Klägers vom 6. April bis zum 13. Mai 2016 die Diagnose PTBS. Der Kläger habe berichtet, vor zwei Jahren aus dem Berufsleben „rausgekommen“ zu sein, da er das Zwischenmenschliche nicht mehr habe ertragen können. Er habe eine schwere Kindheit mit körperlicher und sexueller Gewalt durch seinen Vater gehabt.

Der ärztliche Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik G1 über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme des Klägers vom 19. Mai bis zum 30. Juni 2015 nannte die Diagnosen PTBS, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, funktionell-statisches Wirbelsäulensyndrom, Nikotinabusus und gemischte Hyperlipidämie. Der Kläger habe über häusliche Gewalterfahrungen durch seinen Vater berichtet. Eine Akzentuierung der Symptomatik sei in den vergangenen zwei Jahren erfolgt, es träten wiederkehrende Flashbacks, Alpträume und Anspannungszustände auf.  

Aus dem vorläufigen Entlassbrief der Klinik R1 über die stationäre Behandlung des Klägers vom 3. September bis zum 8. Oktober 2014 ließen sich die Diagnosen rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome, PTBS, psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak: Abhängigkeitssyndrom und gemischte Hyperlipidämie entnehmen.

Zur Vorlage kam im Weiteren der Bescheid der Deutschen Rentenversicherung W2 (DRV) vom 25. Juli 2019 über die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. November 2019 bis zum 31. Dezember 2020.

Das Landratsamt Z1 (LRA) zog das Mitglieds- und Vorerkrankungsverzeichnis von der Krankenversicherung des Klägers bei. Hieraus ließ sich eine erstmalige Behandlung des Klägers wegen einer depressiven Episode im Mai 2011 entnehmen.  

Aus der beigezogenen Akte der DRV ergaben sich im Wesentlichen keine weiteren als die bereits aktenkundigen medizinischen Unterlagen.

Ebenso gelangte zur Akte der Bescheid des LRA vom 25. November 2019 über die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 seit dem 16. Oktober 2019. Dieser Feststellung lagen nach der Stellungnahme des Versorgungsarztes J1 eine seelische Störung, eine Depression, eine PTBS, ein Schwindel, ein Kopfschmerzsyndrom und eine Somatisierungsstörung zu Grunde, die mit einem Teil-GdB von 50 bewertet worden waren. Zudem war eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (WS) mit einem Teil-GdB von 10 berücksichtigt worden.

Das LRA erhob bei H1 ein psychiatrisches Gutachten aufgrund der ambulanten Untersuchung des Klägers am 10. März 2020. Demnach habe beim Kläger eine PTBS vorgelegen, die in eine chronische Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung übergegangen sei. Es habe nach wie vor das Vollbild einer traumaspezifischen Störung bestanden. Zudem habe der Kläger unter einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, gelitten. Es spreche vieles dafür, dass die Erkrankungen erst ca. 2014 voll zum Tragen gekommen seien. Die schädigenden Ereignisse seien mit hoher Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der PTBS bzw. der Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung alleinige Ursache gewesen; die rezidivierende depressive Störung habe sich hingegen nicht einwandfrei dem schädigenden Ereignis zuordnen lassen. Als von den Schädigungen unabhängige Entwicklungen seien beispielsweise die Trennung von der langjährigen Freundin 2015 und der Verlust des Arbeitsplatzes 2014 anzusehen gewesen. Der GdS sei ab dem 1. August 2019 mit 30 zu bewerten, hierbei seien die Schwankungen in den Befindlichkeiten mitberücksichtigt worden.

Der Kläger habe angegeben, dass sein zwischenzeitlich verstorbener Vater ein Sadist gewesen sei. Er habe Gewalt gegenüber allen Familienmitgliedern ausgeübt, beispielsweise hätten sich alle Kinder zur Strafe im Hof des Hauses auf den Splitt knien müssen. Die Kinder seien – mit dem Gesicht zur Straße – gezwungen gewesen dort auszuharren, seien von den vorbeikommenden Passanten ausgelacht und gehänselt worden. Ca. fünfmal sei es zu Übergriffen gegen ihn selbst gekommen, auch mit sexuellen Handlungen. Viele Male habe er auch die Gewalt gegenüber den anderen Familienmitgliedern mitansehen müssen. Schließlich sei sein Vater von seiner Mutter und seinen Schwestern angezeigt geworden.

Seinen Tagesablauf gestalte er je nach seiner Tagesform; manchmal „gehe nicht viel“. Er versuche, seinen Teil am Haushalt und bei der Versorgung des Babys zu erfüllen, sei allerdings rasch überfordert. Im Haushalt erledige er, was ihm möglich sei.

Eine weitere Therapie wolle er nicht mehr wahrnehmen, er gehe nur noch zu seinem M2. Verschiedene Antidepressiva habe er ausprobiert, diese hätten ihm nicht geholfen. Eine feste Medikamentation erfolge derzeit nicht, bei Bedarf nehme er Pregabalin.

Er leide unter Schmerzen, Schwindel, Anspannungsgefühlen wie Angstattacken mit erhöhtem Puls und Atembeschwerden. Von seiner Libido sei nicht mehr viel übrig geblieben, er sei erschöpft. Zudem bestünden Einschlafstörungen; wenn es abends ruhiger werde, werde er nervös, die Ruhe könne er nicht ertragen. Auch leide er unter Alpträumen, deren Inhalte ihm aber nicht erinnerlich seien.

Bis ca. 2014 habe er auf eigenen Beinen gestanden und sein Leben selbständig bewältigen können. Dann sei es nicht mehr gegangen, es habe ständig Konflikte am Arbeitsplatz gegeben, denen er nicht mehr habe standhalten können. Auch in seiner damaligen Partnerschaft seien Probleme aufgetreten.

Der Allgemeinzustand sei gepflegt und der Ernährungszustand normal gewesen. Im psychopathologischen Befund habe sich der Kläger wach, bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten voll orientiert präsentiert. Er habe sehr belastet gewirkt, habe jedoch dennoch freundlich Kontakt aufnehmen können. Während des Gesprächs sei es zu affektiven Durchbrüchen in Form von Weinen gekommen, zeitweise sei eine Auslenkung kaum noch möglich gewesen. Die Antriebslage habe wechselnd mit einem Rückzug von sozialen Beziehungen, einem Verlust der Tagesstruktur sowie einer inneren Unruhe imponiert. Darüber hinaus hätten eine permanente innere Anspannung, eine erhöhte Schreckhaftigkeit, eine gedrückte Affektlage und eine angespannte Psychomotorik bestanden. In Bezug auf die Kindheitserlebnisse habe sich ein deutliches Vermeidungsverhalten mit triggerbaren Intrusionen und Flashbacks gezeigt. Zudem habe der Kläger unter ausgeprägten Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen wie Ängsten und Angstattacken gelitten.

Versorgungsärztlich stimmte der H3 dem Gutachten vollumfänglich zu.

Das LRA stellte daraufhin durch Erstanerkennungsbescheid vom 1. Juli 2020 fest, dass der Kläger in den Jahren 1977/1978 Opfer von Gewalttaten i. S. des OEG geworden sei. Als Schädigungsfolgen wurden eine „Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ anerkannt. Der GdS betrage 30 ab dem 1. August 2019. Ab diesem Zeitpunkt wurde dem Kläger eine Beschädigtengrundrente i. H. v. 151 € bzw. ab dem 1. Juli 2020 i. H. v. 156 € bewilligt. Zudem wurde ihm wegen der anerkannten Schädigungsfolgen Heilbehandlung gewährt.

Mit dem deswegen erhobenen Widerspruch verfolgte der Kläger die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 100. Die Schädigungsfolgen wirkten sich in allen Lebensbereichen aus. Auch die rezidivierende depressive Störung sei entgegen dem Gutachten eine Schädigungsfolge. Zu sämtlichen Einbrüchen in seinem Leben wäre es ohne die Schädigungen in seiner Kindheit nicht gekommen. Des Weiteren sei zu berücksichtigen, dass er auch einen Schockschaden erlitten habe, da er die Misshandlungen seiner Geschwister und seiner Mutter habe mitansehen müssen. Hierauf sei im Gutachten nicht eingegangen worden.

Im Widerspruchverfahren führte der Versorgungsarzt H3 aus, eine abweichende Entscheidung sei nicht angezeigt. Infolge der Schädigung seien nicht alle Lebensbereiche des Klägers gleich betroffen. Nach der Trennung von seiner langjährigen Partnerin sei er in der Lage gewesen, eine Familie zu gründen. Beruflich habe von außen betrachtet eine stabile Phase mit einer mehr als elfjährigen Beschäftigungszeit in einem Steinmetzbetrieb vorgelegen. Laut dem überzeugenden Gutachten lasse sich die depressive Symptomatik nicht einwandfrei der Schädigung zuordnen. 

Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2020 zurück. Der angefochtene Bescheid entspreche nach nochmaliger Überprüfung der Sach- und Rechtslage. H1 habe gutachterlich die psychischen Beeinträchtigungen des Klägers umfassend berücksichtigt, dies beinhaltet auch das Beobachten von Gewalt gegenüber den anderen Familienmitgliedern. Die rezidivierende depressive Störung sei erstmals 2014 diagnostiziert worden und habe deshalb gutachterlich nicht einwandfrei dem schädigenden Ereignis zugeordnet werden können. Der Verlauf in den Jahren davor habe sich nicht sicher rekonstruieren lassen. Jedenfalls habe der Kläger einer regelmäßigen Berufstätigkeit nachgehen können und habe keine therapeutischen Maßnahmen in Anspruch nehmen müssen. Als schädigungsunabhängige Entwicklungen seien beispielsweise der Verlust des Arbeitsplatzes im Jahr 2014 und die Trennung von der langjährigen Freundin im Jahr 2015 anzusehen.

Mit der am 4. Januar 2021 beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobenen Klage hat der Kläger zuletzt die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG nach einem GdS von 70 ab dem 1. August 2019 verfolgt.

Das SG hat bei M1 aufgrund der ambulanten Untersuchungen des Klägers am 28. und am 31. Mai 2021 ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten erhoben. Beim Kläger habe infolge der Schädigung eine tiefgreifende Störung der Persönlichkeit vorgelegen, die mit einem GdS von 30 zu bewerten sei. Da nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand aber die phasische Depression multifaktoriell bedingt sei und damit nicht auf eine monokausale Ursache zurückgeführt werden könne, sei die ab 2014 nachweisbare Verschlimmerung der Depression nicht als rechtlich wesentlich durch die kindliche Traumatisierung einzuschätzen gewesen. Die nun nachweisbaren mittelschweren bis schweren soziale Anpassungsstörungen bzw. deren Verschlimmerung hätten nicht zweifelsfrei auf die traumatischen Kindheitserlebnisse zurückgeführt werden können.

Der Kläger habe angegeben, schon immer unter psychischen Problemen zu leiden, nach einem Vorfall bei seinem Arbeitgeber sei es 2014 nicht mehr gegangen. Aktuell sei er einmal monatlich bei M2 in Behandlung, derzeit nehme er Escitalopram ein; er nehme einfach ein, was zu Hause sei. In körperlicher Hinsicht habe er unter Kopfschmerzen/Migräne, Muskelschmerzen und Schwindel, wenn es ihm schlecht gehe, gelitten. In psychischer Hinsicht habe er von einer Müdigkeit, einem gestörten Selbstbewusstsein, einer großen Scham, Angstzuständen, Schwierigkeiten unter Leuten, einem sozialen Rückzug, nächtlichen Alpträumen mit Schlafstörungen und von einem fehlenden sexuellen Verlangen berichtet. 

Seinen Tagesablauf habe der Kläger mit Aufstehen um 8.30 Uhr wegen seiner Tochter, dem Vorbereiten des Frühstücks, dem gemeinsamen Frühstück und danach der Beschäftigung mit seiner Tochter beschrieben. Das Mittagessen werde von seiner Partnerin zubereitet. Dann lege er sich hin, könne die Nähe nicht mehr ertragen, werde rastlos. Beim Einschlafen habe er Probleme, er schlafe nicht im gemeinsamen Schlafzimmer.

Der Allgemein- und Ernährungszustand seien regelrecht gewesen, das äußere Erscheinungsbild leidlich gepflegt. Der Gesamteindruck habe sich als massiv gehemmt präsentiert, das Ausdrucksverhalten und die Mimik als maskenhaft verschoben, der Kontakt abweisend. Der Antrieb habe massiv reduziert, die Stimmung missmutig und der Affekt starr imponiert, eine vermehrte Ängstlichkeit sei hingegen nicht nachweisbar gewesen. Zusammenfassend sei auf psychischem Gebiet während der Untersuchung eine schwere Störung von Krankheitswert nachzuweisen gewesen.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG bei W1 ein weiteres nervenärztliches Gutachten nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 31. Januar 2022 erhoben. Diese hat als Diagnosen eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung bzw. eine komplexe PTBS gestellt. Eine zusätzliche rezidivierende depressive Episode habe nicht vorgelegen, deshalb habe der Kläger unter keinen Gesundheitsstörungen gelitten, die nicht durch das schädigende Ereignis verursacht worden seien. Es habe eine schwere psychische Störung mit mindestens mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vorgelegen; der Kläger habe seine berufliche Tätigkeit aufgeben müssen und schwerwiegende Probleme in sozialen Beziehungen mit der Trennung von Partnerinnen und Bekannten erlitten. Nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG) ergebe sich insofern ein GdS von 50 bis 70. Im Fall des Klägers, in dem auch diskutiert werden könnte, ob die sozialen Anpassungsschwierigkeiten als schwer zu bezeichnen seien, sei die Betroffenheit so ausgeprägt, dass der GdS 70 betrage.

Der Kläger habe nach seinen Angaben unter einer Depression, insbesondere mit Störung des Antriebs, Schmerzen, Magenproblemen, Schwindelgefühlen bei Belastung und Müdigkeit im Wechsel mit starker Anspannung gelitten. Es habe ihn belastet, dass er nicht so leistungsfähig sei. Er könne nicht mehr unter Menschen sein, denke, dass er anders als andere Menschen sei, und habe deshalb Angst im Kontakt mit Menschengruppen entwickelt. Er wolle auch keine Konfrontation, seine Lösung bei Konfrontationen sei, sich zurückzuziehen und weg zu gehen. Einmal monatlich gehe er zum Psychiater, in Psychotherapie sei er nicht mehr. Schon als Kind sei er depressiv gewesen.

2008 habe es an seiner Arbeitsstelle viele Differenzen gegeben und dann sei er wegen einer Fistel am Darmausgang lange arbeitsunfähig gewesen. Der innere Druck sei schlimmer geworden und letztendlich sei er 2008 entlassen worden. In seiner nachfolgenden Beschäftigung hätten ihn zu viele Kollegen von früher gekannt, in dieser Zeit sei alles wieder aufgebrochen. 2014 habe er sich das Leben nehmen wollen. Damals sei seine Beziehung zu Ende gegangen, er habe das Unverständnis der Partnerin nicht mehr ertragen können, habe sich ihr gegenüber aber auch nicht öffnen können. Sexuelle Beziehungen seien für ihn immer verkorkst und letztendlich nicht wirklich wichtig gewesen, das mache in der Beziehung zur jetzigen Partnerin auch Probleme. Er habe in Beziehungen nie richtig funktioniert; er könne andere Menschen einfach nicht zu dicht an sich heranlassen, könne sie nicht in sich reinschauen lassen.

Hinsichtlich des Tagesablaufs habe der Kläger ausgeführt, vor seiner Tochter aufzustehen und das Frühstück vorzubereiten. Dann spiele er mit dieser, gehe auch mit ihr auf den Spielplatz. Wegen seiner psychischen Probleme habe er lange Zeit das Haus nicht verlassen können, das sei ihm jetzt wieder möglich. Wenn seine Partnerin weg sei, mache er das Essen und beaufsichtige weiter seine Tochter. Wenn sie aber zu Hause sei, ziehe er sich zurück.

Auf eine körperliche Untersuchung sei auf ausdrücklichen Wunsch des Klägers verzichtet worden. Der Allgemeinzustand sei gut, der Ernährungszustand eher untergewichtig gewesen. Psychisch sei der Kläger zurückhaltend, motorisch unruhig, mit Tränen in den Augen bei gutem Aufmerksamkeitsniveau ohne Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnisstörungen gewesen. Der Antrieb habe normal imponiert, die Stimmung angespannt und die affektive Ressonanzfähigkeit deutlich reduziert.

Diagnostisch sei vom Vorliegen einer andauernden posttraumatischen Persönlichkeitsänderung auszugehen gewesen. In diesem Zusammenhang spreche man auch von einer sog. komplexen PTBS. Darunter verstehe man ein Krankheitsbild, bei dem nicht nur Symptome der klassischen PTBS wie z. B. Flashbacks vorhanden seien, sondern auch ausgeprägte Affektregulationsstörungen, eine negative Selbstwahrnehmung, Beziehungsstörungen, Schuldgefühle, ein vermindertes Selbstwertgefühl, ein sozialer Rückzug, Schmerzen, eine Verzweiflung und eine Hoffnungslosigkeit. Diese Symptomatik erscheine depressiv, sei aber nicht als „klassische" depressive Episode zu betrachten, sondern eben Ausdruck der posttraumatischen Persönlichkeitsänderung. Es sei deshalb auch im Gegensatz zu den Voruntersuchern nicht zusätzlich die Diagnose einer depressiven Episode oder einer rezidivierenden Depression gestellt worden.

Der Beklagte hat das Gutachten der W1 versorgungsärztlich auswerten lassen und ist diesem entgegengetreten. Nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme des G2 könne den Ausführungen der W1 wonach auch die depressive Symptomatik schädigungsbedingt sei, nicht gefolgt werden. Diese monokausale Betrachtungsweise mit Ausblenden von dokumentierten schwerwiegenden schädigungsunabhängigen lebensgeschichtlichen Belastungsfaktoren werde dem derzeit gültigen multifaktoriellen Ursachengefüge von depressiven Störungen nicht gerecht und sei nicht nachvollziehbar. Es wurde vorgeschlagen, eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme des M1 einzuholen.
Mit Verfügung vom 31. August 2022 hat das SG zur Beendigung des Verfahrens die vergleichsweise Einigung der Beteiligten auf die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 50 vorgeschlagen. Der GdS von 50 liege in der Mitte der von den Sachverständigen vorgeschlagenen GdS-Werte von 30 und 70. Neben der Frage der Überzeugungskraft der vorliegenden Gutachten sei problematisch, ob bei der Prüfung der Kausalität i. S. einer wesentlichen Verursachung eine Trennung zwischen den Auswirkungen der Gewalttaten einerseits und den zusätzlichen Folgen der ggf. vorliegenden depressiven Erkrankung andererseits im Hinblick auf den Gesamtschädigungszustand des Klägers möglich sei. Wäre eine Trennung nicht möglich, käme es für die Frage der Entschädigung allein darauf an, ob die Folgen der Gewalttat das Schadensbild wesentlich mitbestimmten. Dies sei eine Abwägungsentscheidung, die schwierig sei und ggf. auch mehrere Gerichtsinstanzen beschäftigen könnte.

Der Kläger hat dem Vergleichsvorschlag zugestimmt, der Beklagte hingegen nicht.
  
Das SG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. September 2022 den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 1. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2020 verurteilt, dem Kläger ab dem 1. August 2019 Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 70 zu gewähren. Der Beklagte habe als Schädigungsfolge eine „Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ anerkannt ohne abzugrenzen, welche Funktionseinschränkungen er auf die Schädigungsfolge beziehe. Ebenso wenig habe der Beklagte die seines Erachtens schädigungsunabhängig bestehende Depression mit daraus resultierenden Funktionseinschränkungen von der Anerkennung als Schädigungsfolge ausdrücklich ausgeschlossen. Damit resultiere bereits aus den bindend gewordenen Feststellungen im Bescheid vom 1. Juli 2020, dass der Beklagte verpflichtet sei, alle in rechtlich wesentlichem Kausalzusammenhang stehenden Folgen der Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung in die Bewertung des GdS einzustellen. Hierzu gehörten nach den Ausführungen der Sachverständigen insbesondere ausgeprägte Affektregulationsstörungen, eine negative Selbstwahrnehmung, Beziehungsstörungen, Schuldgefühle, ein vermindertes Selbstwertgefühl, ein sozialer Rückzug, Schmerzen, eine Verzweiflung und eine Hoffnungslosigkeit.

Das SG hat dazu geneigt, den gutachterlichen Ausführungen der W1 zu folgen, hat letztlich aber offengelassen, ob beim Kläger neben der unstreitig bestehenden andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung bzw. komplexen PTBS eine rezidivierende Depression zu diagnostizieren sei oder nicht. Denn es ergäben sich vorliegend nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür, Auswirkungen von Funktionseinschränkungen, welche auf der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung beruhten, von denen aufgrund der Depression hinreichend sicher abzugrenzen zu können. Angesichts dessen bestehe eine Verpflichtung des Beklagten zur Entschädigung sämtlicher Auswirkungen der Funktionseinschränkungen, denn die anerkannten Schädigungsfolgen seien rechtlich wesentliche Ursache für deren Entstehung.
Es seien auch keine Anhaltspunkte erkennbar gewesen (solche seien auch vom Beklagten nicht vorgetragen oder gar im Bescheid vom 1. Juli 2020 benannt), die einer (eventuell vorliegenden) Depression eine überragende Bedeutung für die bestehenden Funktionseinschränkungen im Vergleich zu den Folgen der schwerwiegenden kindlichen Traumatisierungen mit Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung verliehen.

Das SG hat der Bewertung des GdS durch W1 zugestimmt, wonach beim Kläger von einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten auszugehen sei, die einen GdS von 70 bedinge. Hierfür sprächen insbesondere die komplette berufliche und weitgehend soziale Ausgliederung des Klägers aus dem Leben. Insoweit habe auch der Gutachter M1 für die Zeit ab 2014 eine mittelschwere bis schwere soziale Anpassungsstörung beschrieben.

Am 23. September 2022 hat der Beklagte gegen das ihm am 13. September 2022 zugestellte Urteil des SG Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.

Er bezieht sich zur Berufungsbegründung auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des G2. Demnach widersprächen das Gutachten der W1 und auch das Urteil des SG, indem eine gesondert multikausal verursachte Depression abgelehnt werde, nahezu allen zur Vorlage gekommenen Behandlungsberichten und zuvor erhobenen Gutachten. Nach der Nationalen Versorgungsleitlinie/S3 Leitlinie Unipolare Depression hätten monokausale Erklärungen für Depressionen bislang nicht überzeugen können. Zudem mache die Heterogenität der Symptome depressiver Störungen es auch unwahrscheinlich, dass ein Faktor allein für die Entstehung einer Depression verantwortlich sei. Auch die Einschätzung des SG, dass es nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür gebe, um die funktionellen Auswirkungen der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung von denen der Depression hinreichend sicher abgrenzen zu können, könne nicht überzeugen. Eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung sei charakterisiert durch eine feindliche oder misstrauische Haltung der Welt gegenüber, sozialem Rückzug, Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit, eine chronische Nervosität und eine Entfremdung. Darüber hinaus seien vom Kläger aber Antriebsstörungen, Schmerzen, ein belastungsabhängiger Schwindel, eine Müdigkeit, konzentrative Schwierigkeiten, eine depressive Verstimmung und eine allgemeine Leistungsminderung als aktuelle Beschwerden genannt worden. Die Anregung, eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme des M1 einzuholen, werde bekräftigt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 8. September 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,

            die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. In den Gutachten der H1 und des M1 werde nicht hinreichend berücksichtigt, dass seine gesamte psychische Entwicklung aufgrund seiner Lebensgeschichte beeinträchtigt gewesen sei. Er verfüge über keine Bewältigungsstrategien und Kraftquellen, um traumatische Erfahrungen verarbeiten zu können. Nur mit Mühe und Not habe er es geschafft, bis 2014 sein Leben zu bewältigen. Vor diesem Hintergrund sei das Gutachten der W1 überzeugend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143144 SGG), auch im Übrigen zulässig, und begründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 8. September 2022, mit dem der Beklagte auf die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) des Klägers unter Abänderung des Bescheides vom 1. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2020 (§ 95 SGG) zur Gewährung von Beschädigtenversorgung ab dem 1. August 2019 nach einem GdS von 70 verurteilt worden ist.

Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).

Das Urteil des SG vom 8. September 2022 kann bereits deshalb im Berufungsverfahren keinen vollumfänglichen Bestand haben, weil das SG den Beklagten verurteilt hat, dem Kläger „ab 01.08.2019 Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 70 zu gewähren“. Eine solches Grundurteil nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG ist bereits nicht möglich. Denn der Begriff „Beschädigtenversorgung“ bezeichnet keine bestimmte Leistung, sondern umfasst grundsätzlich alle nach dem OEG i. V. m. dem BVG zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 9 Abs. 1 BVG). Selbst wenn im vorliegenden Fall als „Versorgung“ lediglich Geldleistungen in Betracht kämen, die gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG auch nur Gegenstand eines Grundurteils sein können, kann ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG sein (vgl. BSG, Beschluss vom 27. September 2018 – B 9 V 16/18 B –, juris, Rz. 8 f. m. w. N.).

Die weitere Begründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 1. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Durch den vorgenannten Bescheid hat der Beklagte dem Kläger als konkrete Versorgungsleistung nach dem OEG i. V. m. dem BVG ab dem 1. August 2019 eine Beschädigtengrundrente nach einem GdS von 30 bewilligt. Im Wege einer an § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsrundsatzes orientierten Auslegung des klägerischen Begehrens (vgl. hierzu BSG, Beschluss vom 27. September 2018 – B 9 V 16/18 B –, juris, Rz. 9) hat der Kläger demnach im erstinstanzlichen Verfahren die Gewährung einer Beschädigtengrundrente nach einem GdS von 70 ab dem 1. August 2018 verfolgt. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger weitere Versorgungsleistungen, etwa eine Heilbehandlung begehrt hat, ergeben sich aus seinem Vorbringen, das eine solche Leitung nicht einmal ansatzweise thematisiert hat, nicht.

Nach Auswertung der im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren zur Vorlage gekommenen medizinischen Unterlagen und ärztlichen Meinungsäußerungen wie der erhobenen Sachverständigengutachten hat sich der erkennenden Spruchköper jedoch nicht davon überzeugen können, dass der Kläger ab dem 1. August 2019 einen Anspruch auf Beschädigtengrundrente nach einem höheren GdS als 30 hat. Soweit sich aus dem Gutachten der W1 ein GdS von 70 ergeben hat, waren deren Ausführungen für den Senat nicht schlüssig. Auch die weiteren Erwägungen des SG im streitgegenständlichen Urteil vom 8. September 2022 haben den Senat nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der Kläger aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ab dem 1. August 2019 einen Anspruch auf Beschädigtengrundrente nach einem höheren GdS als 30 hat.    

Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, u. a. auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG).
Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS – bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit <MdE> bezeichnet – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2).

Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG i. V. m. dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):

Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG i. V. m. § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist.

Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 23 ff.).

In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern i. S. v. § 176 und § 176a StGB hat das BSG den Begriff des tätlichen Angriffes noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Es ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also eine sexuelle Handlung, eine Straftat war (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 17, Rz. 28 m. w. N.). Auch der „gewaltlose“ sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein (vgl. BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 4/93 –, BSGE 77, 7, <8 f.> und – 9 RVg 7/93 –, BSGE 77, 11 <13>). Diese erweiternde Auslegung des Begriffes des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten.

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit i. S. des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Bei dem „Glaubhafterscheinen“ i. S. des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15).

Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend – seit Juli 2004 – den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (Teil C, Nrn. 1 bis 3 der Anlage zu § 2 VersMedV; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 17).

Infolge des Bescheides vom 1. Juli 2020 steht zwischen den Beteiligten bindend (§ 77 SGG) fest, dass der Kläger in den Jahren 1977 bis 1978 Opfer von vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffen i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden ist. Der vom Kläger gegen den vorgenannten Bescheid erhobene Widerspruch und auch die nachfolgende Klage habe sich nicht gegen diese für ihn vorteilhafte Feststellung gerichtet. Auf die Bindungswirkung wirkt sich ebenso nicht aus, dass eine Rechtsgrundlage für die vorgenannte Feststellung nicht besteht (vgl. BGS, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 12).

Der Senat weist jedoch darauf hin, dass nach der gebotenen gründlichen Auswertung der Aktenlage begründete Zweifel an dem Opferstatus des Klägers schon allein deswegen bestehen, weil dieser, ohne im Übrigen zu einem Zeitpunkt konkret zu schildern, was ihm sexuell widerfahren sein soll (berichtet wird nur die von ihm beobachtete Onanie des Vaters in der Öffentlichkeit), zwei Jahre vor der Verurteilung seines Vaters Taten ausgesetzt sein will. Der Vater hat aber nach dem strafrechtlichen Urteil nur seine Schwestern missbraucht, also auch nicht seinen Bruder, folgerichtig wurden bislang nur diese nach dem OEG entschädigt. Die berichteten körperlichen Strafen halten sich hingegen im Rahmen des damals geltenden Züchtigungsrechts gegenüber Kindern (vgl. Senatsurteil vom 20. April 2013 – L 6 VG 1623/22 –, juris, Rz. 80). Dessen ungeachtet hat der Kläger den streitgegenständlichen Antrag erst 41 Jahre danach und zwar im Kontext mit zwei einschneidenden Ereignissen gestellt, nämlich dem Verlust seines Arbeitsplatzes wie dem Auseinanderbrechen seiner langjährigen Beziehung, was allein schon zu einer kritischen Hinterfragung hätte führen müssen.

Der streitige Bescheid hat weiter als Schädigungsfolge bindend eine „Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ festgestellt. Auch diese Feststellung hat der Kläger nicht angegriffen. Anders als das SG meint, folgt aber hieraus, auch wenn keine hierauf zurückzuführenden Schädigungsfolgen genannt worden sind und die Anerkennung einer Depression mit den aus ihr resultierenden Funktionseinschränkungen nicht ausdrücklich als Schädigungsfolge abgelehnt worden ist, nicht, dass sämtliche Funktionsstörungen, die hypothetisch auf der anerkannten Schädigungsfolge beruhen könnten, bei der Bemessung des GdS zu berücksichtigen sind. Denn jede Funktionsstörung, die sich aus der anerkannten Schädigungsfolge abstrakt ergeben kann, muss im jeweiligen Einzelfall auch konkret rechtlich-wesentlich auf die schädigende Handlung, den vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, zurückgeführt werden können. Zudem resultiert auch aus der unzutreffenden Anerkennung einer Schädigungsfolge nicht per se ein höherer Anspruch auf Beschädigtengrundrente. Das ist ein Rechtsgedanke, der schon in der Regelung der „speziell sozialrechtlichen Bescheidkorrektur“ des § 48 Abs. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zum Ausdruck kommt, wonach der Begünstigte zwar den rechtswidrigen Vermögensvorteil behalten darf, dieser aber zukünftig abgeschmolzen werden wird, damit das „Unrecht nicht weiter wächst“ (so BSG, Urteil vom 15. September 1988 – 9/4b RV 15/87SozR 1300 § 48 Nr. 51 S. 145, gerade zur fehlerhaften Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge; bestätigt durch BSG, Urteil vom 20. März 2007 – B 2 U 38/05 R –, SozR 4-1300 § 48 Nr. 10), er also in Zukunft aufgrund seiner bestandkräftigen Rechtsposition keinesfalls mehr erhält (vgl. insgesamt auch Senatsurteil vom 28. April 2022 – L 6 VS 420/21 –, juris, Rz. 81). 

Die funktionellen Einschränkungen des Klägers, die für die Höhe des GdS (VG, Teil A, Nr. 2, a)) und damit der Beschädigtengrundrente maßgeblich sind, aufgrund der als vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch Bescheid vom 1. Juli 2020 anerkannten Handlungen (vgl. oben) wirken sich, wie der Senat den Gutachten des M1 und der W1 wie dem im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung <ZPO>) verwerteten Gutachten der H1 im Verwaltungsverfahren entnimmt, im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ aus. Schädigungsfolgen, die in anderen Funktionssystemen zu berücksichtigen wären, sind dem Senat nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme nicht ersichtlich und hat auch der Kläger nicht geltend gemacht.

Nach den insoweit maßgeblichen VG, Teil B, Nr. 3.7 begründen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdS von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdS von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdS von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdS von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach F30.- oder F40.- ICD-10 GM handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das BSG in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdS-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht, denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztlicher oder der gleichgestellten (§§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 28 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung <SGB V>) psychotherapeutischen Behandlung durch – bei gesetzlich Versicherten zugelassene – Psychologische Psychotherapeuten in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung i. S. der GdS-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2010 – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).

Demnach ist letztlich für die Bewertung der Höhe des GdS, wie sich auch den VG, Teil A, Nr. 2, a) entnehmen lässt, aufgrund der hierbei anzustellenden finalen Betrachtungsweise hinsichtlich der Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen die exakte Diagnosestellung nicht entscheidend. Insofern greifen die gutachterlichen Ausführungen der W1, wenn sie allein aus diagnostischen Gründen eine rezidivierende depressive Störung des Klägers – zumal im Gegensatz zu nahezu allen im verwaltungs- und gerichtlichen Verfahren zur Vorlage gekommenen medizinischen Unterlagen, ärztlichen Meinungsäußerungen wie nicht zuletzt den Gutachten der H1 und des M1 – ablehnen und deshalb alle beim Kläger bestehenden funktionellen Beeinträchtigungen auf die schädigenden Handlungen zurückführen, wesentlich zu kurz.

W1 lässt gänzlich unberücksichtigt, dass der Kläger neben den streitgegenständlichen Handlungen weiteren lebensgeschichtlichen Belastungen ausgesetzt war, die unabhängig von diagnostischen Gesichtspunkten zu funktionellen Beeinträchtigungen geführt haben, wie sowohl H1 als auch M1 für den Senat überzeugend herausgearbeitet haben, die aber nicht rechtlich-wesentlich durch die streitgegenständlichen Schädigungen verursacht worden sind (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 2. Juni 2022 – L 6 VG 2800/21 –, juris, Rz. 92). Dabei sind die Trennung von seiner Partnerin nach einer 15-jährigen Beziehung und starke berufliche Konflikte zu nennen. 2008 hat der Kläger seine damalige Arbeitsstelle verloren und 2014 die von ihm zuletzt ausgeübte Beschäftigung, wie der Senat den Ausführungen des Klägers im Rahmen der gutachterlichen Untersuchungen entnimmt. Zudem war der Kläger im Jahr 2008, so seine Angaben gegenüber W1, wegen einer Fistel am Darmausgang längere Zeit arbeitsunfähig erkrankt und auch damit psychisch belastet, zumal diese Arbeitsunfähigkeit letztlich zur arbeitgeberseitigen Kündigung der damaligen Arbeitsstelle geführt hat.

Auch steht der monokausalen Betrachtung der W1 entgegen bzw. vermag deren Gutachten nicht hinreichend zu erklären, dass der Kläger nach seinen Angaben bei H1 bis ca. 2014 und damit 36 Jahre nach den behaupteten schädigenden Handlungen in den Jahren 1977/1978 gleichwohl sein Leben hat selbständig bewältigen können. Er war in der Lage, die Schule abzuschließen und eine Berufsausbildung zu absolvieren wie auch über mehrere Jahre verschiedenen beruflichen Tätigkeiten nachzugehen. Zudem hat er neben einem unauffälligen sexuellen Leben auch eine langjährige Beziehung führen, eine neue Partnerschaft eingehen und eine Familie gründen können.

Dem urkundsbeweislich verwerteten Mitglieds- und Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenversicherung des Klägers entnimmt der Senat darüber hinaus bereits 2011 seine ärztliche Behandlung wegen einer depressiven Episode. 2011 sollen sich die rechtlich-wesentlich durch die Schädigungen verursachten Gesundheitsstörungen aber nach dessen eigenen Angaben (vgl. oben) noch nicht funktionell ausgewirkt, mithin müssen für die 2011 aufgetretene und behandlungsbedürftige depressive Episode andere Faktoren ursächlich gewesen sein. Auch dies steht demnach den gutachterlichen Ausführungen der W1 und damit deren Überzeugungskraft entgegen. 

Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen und damit differenzierten Kausalitätsbetrachtung hat der Beklagte die aus der streitgegenständlichen Schädigung verbliebenen Funktionsstörungen, die Schädigungsfolgen, mit einem GdS von 30 zur Überzeugung des Senats jedenfalls mehr als ausreichend bewertet. Der Kläger leidet demnach unter einer stärkeren Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen), die mit einem GdS von 30 bis 40 zu bewerten ist. Nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme sind jedoch seine funktionellen Beeinträchtigungen im vorliegenden Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ nicht derart ausgeprägt, dass eine Ausschöpfung des Bewertungsrahmens oder gar die Annahme einer schweren Störung (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten (GdS von 50 bis 70) begründbar ist.

Hiergegen spricht, dass der Kläger, wie der Senat seinen Ausführungen gegenüber W1 entnimmt, durchaus in der Lage ist, seinen Tagesablauf in einem Umfang strukturiert zu gestalten, der der Annahme eines höheren GdS als 30 entgegensteht. So ist es ihm bei Abwesenheit seiner Partnerin möglich, seine minderjährige Tochter, ein Kleinkind, vollumfänglich zu versorgen. Er bereitet die Mahlzeiten vor, beaufsichtigt seine Tochter, spielt mit dieser und geht mit ihr sogar auf den Spielplatz, kann damit das Haus verlassen und begibt sich in die Gesellschaft anderer Menschen, was ihm in der Vergangenheit nicht möglich war. W1 hat dementsprechend auch den Antrieb des Klägers als nicht eingeschränkt befundet. Neben der hinreichenden notwendigen Strukturierung des Tagesablaufs bei der Beaufsichtigung seiner Tochter ergibt sich hieraus auch die Fähigkeit der Verantwortungsübernahme des Klägers nicht nur für sich selbst, sondern auch für eine in dieser Hinsicht hilfebedürftige Person, für ein Kleinkind, was deutlich Auswirkungen der schädigungsbedingten Funktionsstörungen, die einen höheren GdS als 30 begründen, entgegensteht.

Auch war es dem Kläger, worauf der Versorgungsarzt H3 im Widerspruchsverfahren überzeugend hingewiesen hat, trotz der berichteten Schädigungen nicht nur lange Zeit möglich, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen (vgl. hierzu auch oben), sondern auch, gerade nachdem sich nach seinen Angaben im Jahr 2014 sein Gesundheitszustand massiv verschlechtert haben soll, mit seiner neuen Partnerin eine Beziehung einzugehen und letztlich eine Familie zu gründen, seine Tochter wurde 2019 geboren. Das unterstreicht, dass er positiv und lebensbejahend in die Zukunft schauen und entsprechende Lebensentscheidungen wie nicht zuletzt den Hauskauf mit entsprechenden Schulden eingehen konnte, welches ebenso eine längerfristige Perspektive beinhaltet. Hieraus schließt der Senat ebenso auf eine ausreichende Bewertung der schädigungsbedingten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdS von 30. Denn die bei einem höheren GdS, insbesondere bei einem von 70, wie ihn W1 vertreten hat, vorliegenden sozialen Anpassungsschwierigkeiten stünden dem Führen einer Partnerschaft und der Gründung einer Familie wie der Beaufsichtigung und Verantwortungsübernahme für ein Kleinkind (vgl. oben) diametral entgegen.    

Zuletzt spricht auch die vom Kläger (nicht) in Anspruch genommene Behandlung gegen eine Bewertung mit einem höheren GdS als 30. Denn, wie bereits ausgeführt (vgl. oben), äußert sich die Stärke des empfundenen Leidensdrucks nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztlicher oder der gleichgestellten (§§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 28 Abs. 3 SGB V) psychotherapeutischen Behandlung durch – bei gesetzlich Versicherten zugelassene – Psychologische Psychotherapeuten in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung i. S. der GdS-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2010 – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31). Der Kläger befindet sich nach seinen Ausführungen in den gutachterlichen Untersuchungen jedoch lediglich bei M2 einmal monatlich und damit nicht engmaschig in psychiatrischer Behandlung. Eine psychotherapeutische Behandlung erfolgt nicht, auch die medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten sind nicht ausgeschöpft. So hat der Kläger gegenüber H1 ausgeführt, dass zum damaligen Zeitpunkt eine feste Medikamentation nicht erfolgt ist, nur bei Bedarf habe er Pregabalin eingenommen. Das hat er auch zuletzt gegenüber W1 eingeräumt.

Die vorliegenden medizinischen Unterlagen, ärztlichen Meinungsäußerung und erhobenen Sachverständigengutachten haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen Grundlagen vermittelt. Eine weitere Beweiserhebung, auch eine nochmalige Befragung des M1, wie vom Beklagten angeregt, war deshalb nicht durchzuführen. Bei weiteren Sachverhaltsermittlungen würde es sich um Ermittlungen ins Blaue hinein handeln und um eine Ausforschung des Sachverhaltes, zu der der Senat nicht verpflichtet ist (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – B 9 V 20/18 B –, juris, Rz. 19).

Nach alledem waren auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG vom 8. September 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.


 

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