L 12 U 1077/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 10 U 6388/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 U 1077/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21.01.2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Verletztenrente aufgrund des Arbeitsunfalls vom 25.07.2016 über den 31.12.2017 hinaus streitig.

Der 1988 geborene Kläger zog sich im Rahmen der bei der Beklagten versicherten Tätigkeit als Praktikant bei der A1 GmbH am 25.07.2016 bei der Arbeit mit einer Fräsmaschine eine Rissquetschverletzung der linken Hand mit Amputation des Zeigefingerendglieds, Ausriss der tiefen Beugesehne und einer offenen Fraktur des Daumengrundgelenks sowie eine distalen Radiusfraktur links zu (D-Arztbericht des S1, M1 S2, vom 25.07.2016). Es erfolgte unter anderem eine Reposition der Frakturen sowie eine Replantation des ausgerissenen Fingerendgliedgelenks. Aufgrund von Anzeichen einer psychischen Unfallfehlverarbeitung erfolgte ab Dezember 2016 eine Psychotherapie durch die B1, die von einer posttraumatischen Belastungsstörung ausging. Im Verlaufsbericht vom Februar 2017 berichtete die Psychotherapeutin über einen weitgehend positiven Verlauf. Der Kläger beendete die Psychotherapie im März 2017, da er keine psychischen Probleme mehr habe. Im August 2017 wurde das funktionell und optisch störende replantierte Zeigefingerendglied wieder amputiert und eine Stumpfbildung des Zeigefingers links in Höhe des mittleren Glieds vorgenommen.

Die Beklagte veranlasste eine ambulante Heilverfahrenskontrolle, die der F1 in seiner Eigenschaft als Beratungsarzt der Beklagten am 19.02.2018 durchführte. Hierauf gestützt kam F1 in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom April 2018 zum Ergebnis, der Grob- und Feingriff sei gut machbar, wenn auch partiell der Mittelfinger den nicht vorhandenen Zeigefinger ersetzen müsse. Er bewertete die Minderung der Erwerbsfähigkeit für die Zeit bis 26.08.2016 mit 100 v.H., bis 31.10.2016 mit 50 v.H., bis 20.08.2017 mit 30 v.H., bis 23.08.2017 mit 100 v.H. und bis 31.12.2017 mit 20 v.H. Seit dem 01.08.2018 bewertete er die MdE mit 10 v.H.

Mit Bescheid vom 05.06.2018 bewilligte der Beklagte dem Kläger für den Zeitraum vom 26.07.2016 bis 31.12.2017 unter Zugrundelegung der vom F1 empfohlenen MdE eine Rente in Höhe von insgesamt 7.289,53 €. Darüber hinaus bestehe kein Anspruch auf Rente. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2018 zurück.

Gegen den ihm am 20.10.2018 bekannt gegebenen Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 20.11.2018 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und beantragt, ihm weiterhin Verletztenrente zu gewähren.

Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Bezüglich der Einzelheiten der Aussage des F1 vom Dezember 2018, der B1, gleichfalls vom Dezember 2018, sowie des S1 vom Januar 2019 und vom Mai 2020 wird auf die Gerichtsakten verwiesen.

Zu den Akten sind ferner ein Bericht des M2 S2 vom Februar 2019 über eine ambulante Vorstellung des Klägers sowie ein D-Arztbericht des H1 vom Oktober 2020 über eine dortige Vorstellung des Klägers wegen Schmerzen im linken Handgelenk und der Hand gelangt.

Das SG hat weiterhin D1, mit der Erstattung eines Gutachtens von Amts wegen beauftragt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom Oktober 2020, beruhend auf einer ambulanten Untersuchung des Klägers, eine Teilamputation des linken Zeigefingers im basalen Mittelglied nebst Narben sowie mittelgradige Bewegungseinschränkungen des linken Handgelenks, endgradige Bewegungseinschränkungen im linken Daumengrundgelenk und eine Vermeidung des Einsatzes des teilamputierten Zeigefingers aufgrund massiv ausgeprägter Sensibilitätsstörungen festgestellt. Er hat die durch den Arbeitsunfall bedingte MdE angesichts des fehlenden Einsatzes des Amputationstumpfes, der gravierenden Sensibilitätsstörungen des teilamputierten linken Zeigefingers und einer Einschränkung der Handgelenksbeweglichkeit bei erheblicher Achsabknickung der Speiche mit 20 v.H. eingeschätzt.

Die Beklagte ist dem Gutachten entgegengetreten und hat zur Begründung ausgeführt, unter Berücksichtigung des Befundberichts des M2 vom Dezember 2017 und des Berichts über eine allgemeine Heilverfahrenskontrolle von F1 vom Februar 2018 seien die von D1 im Rahmen seines Gutachtens erhobenen Befunde nicht nachvollziehbar. Die von D1 angenommene Nicht-Einsetzbarkeit des teilamputierten linken Zeigefingers sehe man als nicht erwiesen an, da sie im Wesentlichen auf den subjektiven Angaben des Klägers und seiner Mitarbeit beruhen würden. Auch würden die genannten Befundberichte ein deutlich geringeres Ausmaß an Bewegungseinschränkung im linken Unterarm und Handgelenk dokumentieren. Eine Achsabknickung würde schon gar nicht vorliegen.

Der Sachverständige hat in einer daraufhin eingeholten ergänzenden Stellungnahme vom Mai 2021 an seiner bisherigen Einschätzung festgehalten.

Das SG hat mit Urteil vom 21.01.2022 die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 05.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.10.2018 verurteilt, dem Kläger über den 31.12.2017 hinaus Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. zu gewähren und hat sich dabei auf das Gutachten des D1 gestützt.

Gegen das der Beklagten am 21.03.2022 zugestellte Urteil hat diese am 11.04.2022 Berufung eingelegt und zu deren Begründung ihr bisheriges Vorbringen gegen das Gutachten des D1 wiederholt und vertieft. Ergänzend hat sie ausgeführt,
selbst wenn man davon ausginge, dass die von D1 erhobenen Befunde eine MdE um 20 v.H. rechtfertigen würden, käme eine Neubewertung der MdE – unter Berücksichtigung der Befundberichte vom 11.12.2017 und 19.02.2018 – erst ab der von D1 durchgeführten Untersuchung am 23.09.2020 in Betracht.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21.01.2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Berichterstatter hat die ergänzende sachverständige Stellungnahme des D1 vom April 2023 veranlasst, in welcher dieser ausgeführt hat, er halte die gravierenden Sensibilitätsstörungen und die hieraus resultierende fehlende Einsatzfähigkeit des teilamputierten Zeigefingers des Klägers für nicht vorgetäuscht, sondern für sehr wahrscheinlich, könne jedoch nicht zu 100 % ausschließen, dass eine Aggravation vorliege, da er sich auf die Angaben des Klägers stützen müsse.

Der Berichterstatter hat weiterhin den B2 mit einer neurologisch-psychiatrischen Fachbegutachtung von Amts wegen beauftragt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom Oktober 2023, gestützt auf eine ambulante Untersuchung des Klägers, Hinweise auf eine depressive Symptomatik verneint. Er hat einen Zustand nach posttraumatischer Belastungsstörung, differenzialdiagnostisch: Anpassungsstörung, ohne fortdauernde Symptomatik sowie Hypästhesien im Bereich des linken Zeigefingerstumpfes, abgeschwächt im Bereich des linken Zeigefingers und Daumen und im Bereich des radialseitigen volaren Handgelenks diagnostiziert. Er erachte die geringen lokalen Sensibilitätsstörungen im Bereich des Amputationstumpfes nicht als so gravierend, dass eine Nicht-Einsetzbarkeit des linken Zeigefingers die Folge sei, weshalb, fußend auf der Tabelle in Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage, S. 605, Abb. 1.4, von einer MdE um 0 ab dem 01.01.2018 für den Zeigefingerstumpf auszugehen sei. Auch liege keine relevante Schmerzstörung vor.

Der Kläger hat Schriftsatz vom 20.02.2024 und die Beklagte mit Schriftsatz vom 01.02.2024 einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.


Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten, über welche der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist nach §§ 143, 144 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist auch begründet.

Gegenstand des Rechtsstreits ist das Urteil des SG vom 21.01.2022, mit welchem die Beklagte verurteilt worden ist, unter Abänderung des Bescheids vom 05.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.10.2018 dem Kläger über den 31.12.2017 hinaus Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. zu gewähren. Auf die Berufung des Beklagten ist das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen, weil der Kläger keinen Anspruch auf Verletztenrente über den 31.12.2017 hinaus hat.

Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, dem Kläger eine Verletztenrente über den 31.12.2017 hinaus zu gewähren. Dies ergibt sich aus § 56 in Verbindung mit §§ 72 und 8 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII).

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern (§ 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII). Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Bei Verlust der Erwerbsfähigkeit wird Vollrente geleistet (§ 56 Abs. 3 Satz 1 SGB VII). Bei einer MdE wird Teilrente geleistet; sie wird in der Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente festgesetzt, der dem Grad der MdE entspricht (§ 56 Abs. 3 Satz 2 SGB VII).

Renten werden an Versicherte von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Verletztengeld endet oder, wenn kein Anspruch auf Verletztengeld entstanden ist, der Versicherungsfall eingetreten ist (§ 72 Abs. 1 SGB VII). Versicherungsfälle, aufgrund derer eine Rente in Betracht kommt, sind unter anderem Arbeitsunfälle (§ 7 Abs. 1 SGB VII).

Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Versicherte Tätigkeiten sind auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII).

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist für einen Arbeitsunfall im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls einer versicherten Tätigkeit zuzurechnen (innerer beziehungsweise sachlicher Zusammenhang) ist sowie diese Verrichtung wesentlich ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis (Unfallereignis) verursacht (Unfallkausalität) und das Unfallereignis wesentlich einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht (haftungsbegründende Kausalität) hat (BSG, Urteil vom 31.01.2012, B 2 U 2/11 R, juris unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 29.11.2011, B 2 U 10/11 R, juris; BSG, Urteil vom 18.01.2011, B 2 U 9/10 R, juris; BSG, Urteil vom 18.11.2008, B 2 U 27/07 R, juris). Für die Gewährung einer Verletztenrente ist erforderlich, dass aufgrund des Gesundheitserstschadens länger andauernde und mit einer rentenberechtigenden MdE zu bewertende Unfallfolgen – Gesundheitsdauerschaden – entstanden sind (haftungsausfüllende Kausalität).

Hier ist zwischen den Beteiligten – zu Recht – unstreitig, dass der Kläger am 25.07.2016 einen Arbeitsunfall erlitten hat. Die Beklagte hat, gestützt auf eine beratungsärztliche Stellungnahme des F1, dem Kläger bis einschließlich 31.12.2017 Rente nach einer MdE um zuletzt 20 v.H. gewährt. Jedenfalls ab dem 01.01.2018 liegen beim Kläger aber keine auf den Arbeitsunfall zurückführbaren Gesundheitsschäden mehr vor, die eine rentenberechtigende MdE begründen würden.


Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Um das Vorliegen der MdE beurteilen zu können, ist zunächst zu fragen, ob das körperliche oder geistige Leistungsvermögen beeinträchtigt ist. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang dadurch die Arbeitsmöglichkeiten der versicherten Person auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindert werden. Entscheidend ist, in welchem Ausmaß Versicherte durch die Folgen des Versicherungsfalls in ihrer Fähigkeit gehindert sind, zuvor offenstehende Arbeitsmöglichkeiten zu ergreifen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 123). Die Bemessung des Grades der MdE erfolgt als Tatsachenfeststellung des Gerichts, die dieses gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (vgl. BSG, Urteil vom 18.01.2011, B 2 U 5/10 R, juris, Rn. 16, m.w.N.). Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind dabei zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen ständigem Wandel (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2004, B 2 U 14/03 R, juris).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze können beim Kläger keine über den 31.12.2017 hinaus vorliegenden Unfallfolgen mit einer MdE, welche die Gewährung einer Rente rechtfertigen könnte, festgestellt werden.

Beim Kläger liegen auf unfallchirurgischem Fachgebiet als Unfallfolge eine Teilamputation des linken
Zeigefingers im basalen Mittelglied nebst Narben sowie Bewegungseinschränkungen des linken Handgelenks und im linken Daumengrundgelenk vor, so F1 in seinem Bericht vom Februar 2018 bzw. seiner sachverständigen Zeugenaussage gegenüber dem SG und D1 in seinem Gutachten. Übereinstimmend haben beide Ärzte eine geringe bzw. sehr geringe (F1 in seiner sachverständigen Zeugenaussage) Einschränkung der Beweglichkeit des linken Daumens im Grundgelenk festgestellt. Eine erhebliche Diskrepanz liegt demgegenüber bezüglich der Einschätzung der Einschränkung der Gesamtbeweglichkeit des linken Handgelenks sowie des linken Unterarms vor. Während F1 in seinem Bericht über die ambulante Heilverfahrenskontrolle vom Februar 2018 auch insoweit von einer nur endgradigen Bewegungseinschränkung ausgegangen ist und von einer in der Summe sehr gut wiederhergestellten Handgelenks- und Unterarmbeweglichkeit berichtet hat, ist D1 von einer mittelgradig eingeschränkten Handgelenksbeweglichkeit mit insgesamt 110 Grad Abweichung ausgegangen. Die danach zum Zeitpunkt der Begutachtung durch D1 eingetretene erhebliche Verschlechterung in der Beweglichkeit ist aber nur schwer nachvollziehbar. Irgendwelche Behandlungen oder Verschlechterungen im betroffenen Bereich, die eine derartige Zunahme der Bewegungseinschränkung 4 Jahre nach dem Arbeitsunfall erklären könnten, liegen nicht vor bzw. haben die Ärzte und Sachverständigen nicht festgestellt. Auch dem Bericht des M1 S2 vom Februar 2019 („das Handgelenk ist im Vergleich zur Gegenseite jedoch noch etwas eingeschränkt“) und dem D-Arztbericht des H1 vom Oktober 2020 (linkes Handgelenk: „endgradige Bewegungen schmerzhaft“) lassen sich nur endgradige Funktionseinschränkungen entnehmen. Daher repräsentieren auch nach Auffassung des Senats die von D1 erhobenen Bewegungsmaße nicht die dem Kläger dauerhaft mögliche Handgelenks- und Unterarmbeweglichkeit und können der Bewertung der MdE nicht zugrunde gelegt werden. Vielmehr sind die von F1 erhobenen geringen Bewegungseinschränkungen zugrunde zu legen; diese erreichen mangels Achsenabknickung für sich genommen noch kein Ausmaß, welches eine MdE um 10 v.H. rechtfertigen könnte (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 581), so zutreffend F1 in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme und seiner sachverständigen Zeugenaussage gegenüber dem SG.

Selbst wenn man indes die Werte des D1 unterstellen würde, wäre eine MdE um wenigstens 20 v.H. nach der gefestigten unfallmedizinischen Literatur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 581) allenfalls bei einer zu der Einschränkung der Handgelenksbewegung tretenden erheblichen Achsenabknickung denkbar. Eine Achsenabknickung, insbesondere in erheblichem Ausmaß, ist indes zu keinem Zeitpunkt von einem der behandelnden Ärzte oder von F1 festgestellt worden und hat auch D1 verneint. Unter Zugrundelegung der von D1 festgestellten Einschränkung der Handgelenksbeweglichkeit und unterstellt, das erhebliche Ausmaß dieser Bewegungseinschränkung komme bereits einer Achsenabknickung gleich, ist allenfalls eine MdE um 10 v.H. gerechtfertigt, so wohl auch D1.


Die Teilamputation des linken Zeigefingers im basalen Mittelglied ist nach der den aktuellen Stand der Wissenschaft wiedergebenden unfallmedizinischen Literatur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 605) in den ersten 6 Monaten mit einer MdE um 20 v.H. zu bewerten und beträgt anschließend 0 v.H. Hiervon ist grundsätzlich auch D1 ausgegangen. Allerdings hat er zutreffend darauf verwiesen, dass diese MdE-Erfahrungswerte bei Fingerteilverlusten auf der Prämisse beruhen, dass der Amputationsstumpf gut einsetzbar ist, keine Durchblutungs- und Sensibilitätsstörungen sowie Neurome vorliegen und die vorhandenen Gelenke der teilamputierten Finger sowie der nicht betroffenen Nachbarfinger frei in der Bewegung sind (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 604). Der Sachverständige hat hierauf bezogen im Rahmen seiner Begutachtung eine freie Streckung des teilamputierten Zeigefingers mit allenfalls endgradig eingeschränkter Beugung festgestellt; er ist daneben aber zum Ergebnis einer massiv ausgeprägten Sensibilitätsstörung des linken Zeigefingerstumpfes gelangt, als deren Folge der Zeigefinger nicht mehr eingesetzt werde, weshalb funktionell der teilamputierte Zeigefinger einer „lebenden Prothese“ entsprechen würde. Er hat diese von ihm angenommene Nicht-Einsetzbarkeit funktionell einem Zeigefingerverlust gleichgesetzt, der nach der genannten unfallmedizinischen Literatur mit einer MdE um 15 v.H. zu bewerten ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 605).

Diese Einschätzung ist indes durch die von D1 angeregte und von B2 durchgeführte nervenärztliche Begutachtung widerlegt. B2 hat im Rahmen seiner Funktionstests zur Prüfung der Sensibilität eine nur geringe Sensibilitätsstörung im Bereich des Zeigefingerstumpfes sowie geringe Sensibilitätsstörungen im Bereich der OP-Narben, die keine funktionelle Bedeutung aufweisen, festgestellt. Dies deckt sich mit dem Bericht des M2 S2 vom Dezember 2017, in welchem über eine noch diskrete Taubheit im Bereich des Zeigefingerstumpfes berichtet wird. Als Folge der Hypästhesie im Bereich des Amputationsstumpfes bestehen Einschränkungen der Zweipunktdiskrimination und im Bereich der taktilen Gnosie, d.h. des Erkennens von Gegenständen mit geschlossenen Augen. Der Kläger hat sich zwar die Gewohnheit angeeignet, Greifbewegungen ohne Zuhilfenahme des Zeigefingers links durchzuführen; jedoch ist er dazu aktiv in der Lage. So konnte der Kläger mit dem Spitzgriff/Pinzettengriff links problemlos größere und kleine Steine greifen, während ihm das Auflesen von flachen Gegenständen wie Münzen oder Plastik-Chips bzw. einer Büroklammer nicht möglich war. Daraus resultieren, so der Sachverständige, Einschränkungen nur im Bereich feinmotorischer Tätigkeiten für den Zeigefingerstumpf, die aber durch die anderen Finger der linken Hand kompensiert werden können. Die geringen Einschränkungen betreffend die Temperaturempfindung sowie die Tiefensensibilität sind im Alltag ohne relevante Bedeutung, da diese zwar reduziert, aber nicht aufgehoben sind. Die Schutzreflexe, z.B. das rasche Zurückziehen beim versehentlichen Greifen auf eine heiße Herdplatte usw., sind durchaus auch im Zeigefingerstumpf noch vorhanden; ebenso wie auch eine Diskrimination in der Erkennung spitzer und stumpfer Gegenstände in einem Umfang vorhanden ist, der für eine Alltagsbewältigung im Sinne einer guten Einsetzbarkeit des Zeigefingerstumpfes ausreichend ist. Eine fehlende Einsatzfähigkeit des linken Zeigefingerstumpfes konnte B2 mit Sicherheit ausschließen. Auch hat B2 keine Hinweise für ein Neurom oder für neuropathische Schmerzen gefunden. Zwar hat der Kläger nachvollziehbar Schmerzen im Rahmen von extremeren Temperaturunterschieden und von Belastungen geschildert; diesen kann er aber mit einer anlassbezogenen Einmalgabe von Ibuprofen 400 wirkungsvoll und schnell begegnen.
Die geringe Frequenz an Schmerzattacken, der Umstand, dass der Kläger in seiner Alltagsbewältigung nicht bzw. nur gering eingeschränkt erscheint, keine schmerzbedingten Fehlzeiten aufweist und sozial integriert erscheint, sowie die gute Beeinflussbarkeit der Beschwerden mit einer geringen Schmerzmitteldosis (Ibuprofen 400 mg) spricht gegen eine relevante Schmerzstörung, so nachvollziehbar B2.
Damit ist der von D1 befürworteten Gleichstellung der vom Kläger erlittenen Amputationsverletzung mit einem vollständigen Verlust des Zeigefingers von vornherein der Boden entzogen. Es ist durch das – mit der Einschätzung des F1 in Einklang stehende – Ergebnis der nervenärztlichen Begutachtung nachgewiesen, dass nur geringgradige Sensibilitätsstörungen vorliegen und der Amputationsstumpf gut einsetzbar ist; ein Neurom oder eine relevante Schmerzstörung konnte dagegen ausgeschlossen werden. Damit bleibt es prinzipiell bei der Bewertung der Amputationsverletzung mit einer MdE um 0 v.H., so auch B2. Unter Berücksichtigung der von F1 festgestellten geringgradigen Bewegungseinschränkungen des linken Handgelenks ist aber eine Bewertung
der Teilamputation des linken Zeigefingers nebst Narben mit Bewegungseinschränkungen des linken Handgelenks und im linken Daumengrundgelenk und mit geringgradigen Sensibilitätsstörungen mit einer MdE um 10 v.H. gerechtfertigt, so auch F1.

Nachdem nur die Abbildung auch der Bewegungseinschränkungen eine MdE um 10 v.H. für die Fingeramputation rechtfertigen kann, würde auch unter Zugrundelegung der von D1 gemessenen ungünstigeren Funktionswerte und einer hierauf gestützten MdE um 10 v.H. allein für diese Bewegungseinschränkungen insgesamt keine MdE um wenigstens 20 v.H. erreicht; denn bei der dann gebotenen isolierten Bewertung der Fingerverletzung ohne Berücksichtigung der Bewegungseinschränkungen im Handgelenk wird wie dargelegt keine MdE um wenigstens 10 v.H. erreicht, womit insgesamt keine MdE um 20 v.H. in Betracht kommt.

Weitere auf den Arbeitsunfall zurückführbaren Gesundheitsstörungen liegen für die Zeit ab dem 01.01.2018 nicht vor. So hat B2 keine Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung erheben können. Bereits im Verlaufsbericht vom Februar 2017 hat die B1 über einen weitgehend positiven Verlauf berichtet; es würden noch Einschlafprobleme bestehen. Zwar hat die Psychotherapeutin in ihrer abschließenden Stellungnahme vom April 2017 über eine teilweise Verschlechterung, bedingt dadurch, dass man dem Kläger mitgeteilt habe, das nicht richtig angewachsene Zeigefingerglied müsse amputiert werden, berichtet. Allerdings hat es sich dabei nur um eine teilweise Rückkehr der Symptomatik in Gestalt von Schlafstörungen gehandelt. Eine weitere Therapie hat danach auch nicht mehr stattgefunden. Der Kläger selbst hat angegeben, bereits im März 2017, zu dem Zeitpunkt, zu dem er die Psychotherapie beendet habe, sei die anfängliche posttraumatische Symptomatik (unter anderem Albträume, Schreckhaftigkeit, Flashbacks, Hypervigilanz, vergleiche hierzu den Folgebericht der B1 vom Dezember 2016) wieder abgeklungen gewesen und habe er von dieser Seite keine Beschwerden mehr gehabt. Damit können den 31.12.2017 überdauernde relevante Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund der (nur) von Seiten der Psychotherapeutin diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung nicht festgestellt werden. Auch im Übrigen war der von B2 erhobene psychische Befund unauffällig. Insbesondere konnte der Sachverständige anhand der klinischen und testpsychologischen Untersuchung eine depressive Erkrankung ausschließen.

Damit können die beim Kläger vorliegenden, auf den Arbeitsunfall zurückführbaren Funktionsbeeinträchtigungen jedenfalls seit dem 01.01.2018 keine MdE um wenigstens 20 v.H. mehr rechtfertigen. Da auch kein Stützrententatbestand im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII vorliegt, scheidet ein Rentenanspruch des Klägers für den streitgegenständlichen Zeitraum aus. Danach war auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.


 

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