L 13 R 3785/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 8 R 1236/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 R 3785/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 9. November 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 


Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die im Jahr 1978 geborene Klägerin, die in Polen den Beruf der Elektronikerin erlernt hatte, war nach ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland zunächst als Reinigungskraft und zuletzt als Elektronikerin versicherungspflichtig beschäftigt. Seit März 2017 ist sie arbeitslos.

Einen ersten Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20. September 2017 (Widerspruchsbescheid vom 12. März 2018), gestützt auf ein nervenärztliches Gutachten von H1 vom 6. September 2017, in dem dieser unter den Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung (aktuell leichtgradige Symptomatik), eines Erschöpfungssyndroms und Migräne mit Aura, eine vollschichtige Leistungsfähigkeit bekundet hatte, ab. Das sich anschließende gerichtliche Verfahren vor dem Sozialgericht Konstanz (SG, - S 1 R 827/18 -) endete, nachdem B1 im dortigen Verfahren unter dem 3. Januar 2019 ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten erstattet hatte depressive Episode (gegenwärtig leicht ausgeprägt ohne somatisches Symptom) sowie eine Hypothyreose bestünden, sich jedoch unter Berücksichtigung des Tagesablaufes und des gut erhaltenen Restleistungsvermögens ohne wesentliche Einschränkungen an Freizeitaktivitäten ein quantitativ reduziertes Leistungsvermögen nicht begründen lasse, im Wege einer Klagerücknahme.

Am 4. Oktober 2019 beantragte die Klägerin erneut bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Sie gab hierzu an, dass sie seit ca. 1992 unter starken Depressionen und Migräne mit Aura leide. Sie leide ferner unter starken Kopfschmerzen, sei antriebslos und könne sich nicht konzentrieren. Wegen der Medikamente, die sie nehmen müsse, bestünden auch Herzrhythmusstörungen und Magenprobleme. Sie legte hierzu u.a. eine sozialmedizinische Stellungnahme des Arztes A1 von der Agentur für Arbeit vom 21. November 2019 vor, in der dieser eine Leistungsunfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für voraussichtlich länger als sechs Monate angenommen hatte.

Nach einer sozialmedizinischen Überprüfung lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 25. Oktober 2019 ab. Begründend führte sie hierzu aus, die Klägerin leide an Migräne mit Aura sowie einer Hypothyreose. Ferner bestehe der Verdacht auf eine depressive Episode (gegenwärtig leicht ausgeprägt ohne somatisches Symptom). Die Einschränkungen, die sich aus diesen Erkrankungen ergäben, führten jedoch nicht zu einem Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, da die Klägerin noch in der Lage sei, täglich minds. sechs Stunden erwerbstätig sein zu können.

Den hiergegen am 25. November 2019 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. Juni 2020 zurück.

Am 10. Juli 2020 hat die Klägerin hiergegen Klage beim SG erhoben. Zu deren Begründung hat sie vorgetragen, der Arzt der Bundesagentur für Arbeit habe festgestellt, dass sie in ihrer Erwerbsfähigkeit in einem Maß gemindert sei, dass sie nur noch weniger als drei Stunden täglich arbeiten könne. Auch die behandelnde Nervenärztin habe eine genetisch bedingte Migräne mit Aura sowie eine Zunahme der Migränesymptome bestätigt. Hierzu hat sie eine Stellungnahme von K1 vom 30. März 2020 vorgelegt. Sie sei, so die Klägerin weiter, deswegen auch nicht in der Lage, ein Kraftfahrzeug zu steuern. Die gleichfalls bestehende rezidivierende depressive Störung führe bei ihr zu Abgeschlagenheit, Erschöpfung und einer ausgeprägten Vergesslichkeit.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.

Das SG hat die behandelnde K1 schriftlich als sachverständige Zeugin einvernommen. In ihrer Stellungnahme vom 7. Dezember 2020 hat K1 u.a. ausgeführt, dass sich der Zustand der Klägerin in den letzten beiden Jahren bedeutend verschlechtert habe. Sie habe immer wieder eine Lebensüberdrüssigkeit erwähnt. Sie, die Klägerin, sei „völlig von der Rolle". Nach ihrer Einschätzung müsse die Klägerin eine Erwerbsminderungsrente beziehen können.

Das SG hat sodann D1, zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens zur Leistungsfähigkeit der Klägerin beauftragt. In seinem nervenärztlichen Gutachten vom 29. Juni 2021 hat D1 bei der Klägerin Migräne mit Aura, Angst- und depressive Störung, gemischt, und ein Karpaltunnelsyndrom diagnostiziert. Bei der Klägerin bestehe seitdem Kindes- bzw. Jugendalter eine Migräne mit Aura. Trotz dieser Erkrankung hätte die Klägerin eine Berufsausbildung abschließen und jahrelang in ihrem erlernten Beruf als Elektronikerin tätig seien können. Eine Zunahme der Häufigkeit und der Dauer der Migräneattacken lasse sich nicht objektivieren. Im Hinblick auf die depressive Erkrankung bestünden vielfältige Möglichkeiten einer Behandlungsintensivierung. Die Klägerin bewältige ihren Haushalt, Tagesstrukturen seien erhalten. Sie habe überdies Interesse am Alltagsgeschehen. Die bestehenden Gesundheitsstörungen führten zu qualitativen Leistungseinschränkungen; die Klägerin könne keine Tätigkeiten unter ungünstigen Witterungsbedingungen ausüben. Aufgrund der gemischten Angst- und depressiven Störung sei die Klägerin auch in ihrer psychischen Belastbarkeit reduziert. Sie könne keine Tätigkeiten ausüben, die mit einem besonderen Zeitdruck (Akkordtätigkeiten, Fließbandarbeiten oder andere taktgebundene Tätigkeiten) verbunden sind. Auch Tätigkeiten in Nacht- und/oder Wechselschicht seien nicht leidensgerecht. Aufgrund des Karpaltunnelsyndroms bestünden leichte Einschränkungen der Feinmotorik. Unter Berücksichtigung dieser qualitativen Einschränkungen sei die Klägerin, so D1, in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes in einem zeitlichen Umfang von mindestens sechs Stunden pro Arbeitstag ausüben zu können.

Die Klägerin ist der gutachterlichen Einschätzung entgegengetreten und hat hierzu vorgebracht, dass sie durchschnittlich an ein bis drei Tage pro Woche wegen der Migräne nicht arbeiten könne. Die Attacken dauerten dann oft den ganzen Tag. K1 habe eine Verschlechterung der psychiatrischen Symptomatik bestätigt.

Mit Urteil vom 9. November 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es, gestützt auf die gutachterlichen Ausführungen des D1, ausgeführt, die Klägerin sei nicht erwerbsgemindert. Bei Beachtung qualitativer Einschränkungen bestehe keine rentenrelevante zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens. Der Gutachter habe in seinem Gutachten die Aktenlage gewürdigt und sei den Beschwerden der Klägerin sorgfältig nachgegangen. Die Ausführungen zur Leistungsfähigkeit seien schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Die Leistungsbeurteilung stehe in Einklang mit den vorangegangenen Verwaltungs- bzw. Gerichtsgutachten von H1 und B1. Soweit von der behandelnden K1 und vom A1 eine zeitliche Leistungsminderung angenommen worden sei, sei diese durch das Gutachten des D1 widerlegt. Der Beurteilung eines Sachverständigen komme insofern ein höherer Beweiswert zu. Die depressive Erkrankung der Klägerin sei nicht so erheblich, dass sie zu zeitlichen Leistungseinschränkungen führe. Auch die bei der Klägerin seit langem bestehende Migräne führe nicht zu einer Erwerbsminderung. D1 habe überzeugend darauf hingewiesen, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Migräne zwar unter passageren Störungen von Konzentration und Aufmerksamkeit leide, hierbei handele es sich aber nicht um eine außerhalb dieser Migräneattacken persistierende Symptomatik. Es bestehe bei einer Migräneattacke zwar eine (vorübergehende) Arbeitsunfähigkeit, nicht jedoch eine (dauerhafte) Erwerbsminderung.

Gegen das ihr am 29. November 2021 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 10. Dezember 2021 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Zu deren Begründung trägt sie vor, das Gutachten des D1 könne die ihm entgegen gerichteten Feststellungen der behandelnden Ärztin, aber auch die Beurteilung des Arztes der Bundesagentur für Arbeit, A1, nicht widerlegen. So habe der Gutachter insb. keine unmittelbaren Feststellungen zur Häufigkeit des Auftretens der Migräne mit Aura und hinsichtlich des Schweregrades der Migräne mit Aura getroffen. Dem Gutachten komme bereits deswegen kein höherer Beweiswert als den Angaben der behandelnden Ärztin zu. Selbst bei ein – drei Migränetagen pro Woche sei sie, die Klägerin, nicht erwerbsfähig. Auch sei sie, anders als vom Gutachter angenommen, nicht in der Lage, ihren Haushalt ohne Hilfe bewältigen zu können. Sie habe alle ihr zugänglichen sinnvollen Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 9. November 2021 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25. Oktober 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juni 2020 zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. Oktober 2019 zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrages verweist die Beklagte auf ihr erstinstanzliches Vorbringen und die aus ihrer Sicht zutreffenden Ausführungen des SG im angefochtenen Urteil des SG. Ergänzend hat sie eine sozialmedizinische Stellungnahme von N1 vom 12. Dezember 2023 vorgelegt.

Der Senat hat R1, schriftlich als sachverständige Zeugin einvernommen. Diese hat unter dem 14. April 2022 mitgeteilt, die Klägerin nach dem altersbedingten Ausscheiden von K1 seit Februar 2022 zu behandeln. Die Klägerin habe über Migräne mit Aura und depressive Phasen geklagt. Aussagen zu einer Verschlechterung oder eine Leistungseinschätzung könnten in Ansehung der kurzen Behandlungszeit nicht getätigt werden. Im weiteren Fortgang sind sodann die Behandlungsunterlagen von K1 vorgelegt worden.

Der Senat hat sodann die R2 schriftlich als sachverständige Zeugin einvernommen. Diese hat unter dem 17. November 2023 mitgeteilt, die Klägerin seit Mai 2023 zu behandeln.
Hierbei seien die Diagnosen einer chronischen Depression, Zwangsstörung mit Zwangshandlungen und der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden. Aufgrund der bestehenden schwergradigen Funktionseinschränkungen im Bereich der Aufmerksamkeit, Konzentration, Durchhaltefähigkeit, Strukturierung und Planung sowie Flexibilität im Denken sei die Klägerin derzeit nicht in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von sechs Stunden am Tag verrichten zu können.

Der Senat hat schließlich den Entlassbericht der vom 29. Juli – 17. August 2022 auf Kostenlast der gesetzlichen Krankenversicherung in der S1 Klinik B3 durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme beigezogen, aus der die Klägerin unter den Diagnosen einer Panikstörung, einer rezidivierenden depressiven Störung, Migräne mit Aura, eines Karpaltunnelsyndroms, Hashimoto-Thyreoiditis sowie Fußschmerzen bei Senkfüßen bds.
entlassen worden ist. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien der Klägerin leichte (nach Behandlung des Karpaltunnelsyndroms auch bis mittelschwere) Tätigkeiten zumutbar. Anlässlich der Rehabilitationsmaßnahme hat die Klägerin die Häufigkeit der Migräneanfälle auf 3 – 8 pro Monat beziffert.

Die Klägerin ist der Leistungseinschätzung im Entlassbericht entgegengetreten. Dieser setze sich im Wesentlichen aus Textbausteinen zusammen.


Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insb. des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 19. März 2024 geworden ist, sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 19. März 2024 verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die statthafte (vgl. § 143 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), form- und fristgerecht (vgl. § 151 Abs. 1 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin führt für diese inhaltlich nicht zum Erfolg.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Der streitgegenständliche, den Antrag der Klägerin ablehnende Bescheid der Beklagten vom 25. Oktober 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juni 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der ab dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20. April 2007 (BGBl. I S. 554) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI) oder Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeinen Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Gemäß § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer - unabhängig von der Arbeitsmarktlage - unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Hieraus folgt, dass grundsätzlich allein eine Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher (quantitativer) Hinsicht eine Rente wegen Erwerbsminderung zu begründen vermag, hingegen der Umstand, dass bestimmte inhaltliche Anforderungen an eine Erwerbstätigkeit aufgrund der gesundheitlichen Situation nicht mehr verrichtet werden können, einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung grundsätzlich nicht zu begründen vermag.


Bei dem tatbestandlichen Merkmal der Erwerbsminderung handelt es sich um ein positives, den Anspruch begründendes Element. Dies bedeutet, dass der Versicherte, vorliegend die Klägerin, die Folgen trägt, wenn, trotz Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten, eine rentenberechtigende Leistungsminderung nicht im Vollbeweis belegt ist. D.h. es muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass das Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt ist. Bloße Zweifel genügen nicht (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Mai 2020 - L 5 R 3680/17 -, in juris, dort Rn. 30).

In Anlegung dieser Maßstäbe ist der Senat nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon überzeugt, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage ist, einer Tätigkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich und mehr nachgehen zu können. Zwar bestehen bei der Klägerin Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet, nach D1 in dessen gegenüber dem SG erstatteten nervenärztlichen Gutachten vom 29. Juni 2021 eine Migräne mit Aura sowie eine gemischte Angst- und depressive Störung, gemischt, nach dem Entlassbericht der S1 Klinik B3 eine Panikstörung, eine rezidivierende depressive Störung sowie eine Migräne mit Aura, nach den Bekundungen der die Klägerin behandelnden R2 eine chronische Depression, eine Zwangsstörung mit Zwangshandlungen und der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung. Der Senat kann hierbei offenlassen, welche Gesundheitsstörungen bei der Klägerin tatsächlich vorliegen, da es im Kontext der Frage des Vorliegens einer Erwerbsminderung nicht maßgebend ist, ob und welche Gesundheitsstörung vorliegt, entscheidend ist einzig, ob Leistungseinschränkungen bestehen, die der Ausübung einer Tätigkeit in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich entgegenstehen. I.d.S. kommt es (bei Rentenbegutachtungen) weniger auf die Diagnosestellung, sondern auf die Leistungseinschränkungen an (vgl. Thüringer LSG, Urteil vom 30. Juni 2015 - L 6 R 166/08 ZVW -, in juris), ob diese gesichert bestehen und ggf. überwunden werden können.

Maßgebend für die Annahme einer rentenrechtlich relevanten Leistungseinschränkung ist vielmehr, ob das in Ansehung der funktionellen Auswirkungen der psychischen Erkrankung verbleibende Fähigkeitsprofil des Versicherten, insb. im Hinblick auf Struktur, Teilhabe und Aktivität, eine Teilnahme am Erwerbsleben
zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erlaubt. Grundlage dieses Abgleichs bildet der psychische Befund und die individuelle Ausprägung auf die verschiedenen psychischen Qualitäten (Bewusstsein, Orientierung, Auffassung/Aufmerksamkeit und Konzentrationsvermögen, Gedächtnis, formales und inhaltliches Denken, Wahrnehmung, Ich-Erleben, Affektivität, Antrieb, Flexibilität und subjektives Krankheitsverständnis und Krankheitserleben). Funktionsbeeinträchtigungen, in gegebenem Kontext insb. die geistig-psychische Belastbarkeit, sind im Recht der Erwerbsminderungsrenten nur dann relevant, wenn sie sich auf die Fähigkeit zur Teilhabe unter besonderer Berücksichtigung des Erwerbslebens quantitativ (im Gegensatz zur bloß qualitativen Einschränkungen) auswirken. Das verbleibende qualitative Leistungsvermögen (positiv wie negativ) hat i.d.R. keine prägende Bedeutung für die rentenrechtlich erforderliche Reduzierung des Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht. Erst wenn die Beeinträchtigungen durch die psychische Störung so gravierend sind, dass die Lebensführung durch sie geprägt wird, ist von einem quantitativ geminderten Leistungsvermögen auszugehen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen in der Regel nicht nur in der Teilhabe am Erwerbsleben manifestieren, sondern in allen Lebensbereichen mehr oder weniger starke Auswirkungen zeitigen. Hieraus folgt, dass von einer Minderung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben auszugehen ist, wenn die psychische Störung die gesamte Lebensführung übernommen hat. Weder die sozialmedizinische Stellungnahme des Arztes A1 von der Agentur für Arbeit vom 21. November 2019 noch die Stellungnahmen der behandelnden Ärzte beinhalten demgegenüber derart gravierende Befunde, die eine quantitative Leistungseinschränkung nachvollziehbar zu begründen vermögen.

Der Senat ist in Anlegung dieser Maßgaben nicht davon überzeugt, dass die Einschränkungen der psychischen Belastbarkeit der Ausübung einer minds. sechsstündigen Tätigkeit entgegenstehen. Die von D1 anlässlich seiner Untersuchung der Klägerin erhobenen psychopathologischen Befunde zeigen keine Schwere an, die im oben beschriebenen Sinn zeigen, dass die Gesundheitsstörungen die Lebensführung übernommen haben. So hat D1 davon berichtet, dass trotz einer in den depressiven Pol verschobenen Grundstimmung eine wesentliche Reduktion der affektiven Resonanzfähigkeit nicht feststellbar gewesen ist. Auch die Aufmerksamkeit und die Konzentration sind unauffällig gewesen; vorzeitige Ermüdungszeichen sind bei der Untersuchung nicht aufgetreten. Da schließlich auch die mnestischen und intellektuellen Funktionen ungestört waren und eine wesentliche Antriebsreduktion nicht zu Tage trat, ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die psychische Leistungsfähigkeit der Klägerin in quantitativer Hinsicht eingeschränkt ist. Den krankheitsbedingten Beeinträchtigungen auf die berufliche Leistungsfähigkeit kann vielmehr dadurch begegnet werden, dass bestimmte qualitative Verrichtungen und Anforderungen an eine Tätigkeit nicht mehr abverlangt werden können. So kann die Klägerin wegen dem Erfordernis, keiner besonderen Unfall- oder Absturzgefahr ausgesetzt zu werden, nicht auf Leitern, Dächern, Treppen und/oder Gerüsten arbeiten. Auch sind ungünstige Witterungsbedingungen, Hitze- und Kälteexposition sowie Lärm- und Zugluftexposition zu vermeiden. Tätigkeiten, die mit einem besonderen Zeitdruck verbunden sind (Fließbandarbeiten, Akkordtätigkeiten oder andere taktgebundene Tätigkeiten) sind ihr, wie Tätigkeiten in Nacht- und/oder Wechselschicht nicht mehr möglich. Infolge des bestehenden Karpaltunnelsyndroms sind überdies Tätigkeiten, die feinmotorische Anforderungen stellen, nicht mehr leidensgerecht.

Die bestehende Migräne-Erkrankung bedingt gleichfalls keine quantitative Leistungseinschränkung. Die von der Klägerin zuletzt anlässlich der Rehabilitationsmaßnahme in B3 mitgeteilte Frequenz von 3 – 8 Migräneanfällen im Monat bedingt allenfalls eine jeweils punktuelle Arbeitsunfähigkeit, nicht jedoch eine Erwerbsminderung.

Die weiteren Gesundheitsstörungen der Klägerin, nach dem benannten Entlassbericht eine Hashimoto-Thyreoiditis, eine chronische Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, sowie Fußschmerzen bei Senkfüßen bds. bedingen (gleichfalls) keine quantitative Leistungsreduzierung. Befunde, die dies begründen könnten, sind nicht benannt worden.


Mithin ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die Leistungsfähigkeit der Klägerin durch die bestehenden Gesundheitsstörungen, auch nicht in Zusammenschau der konkreten Beeinträchtigungen, in quantitativer Hinsicht eingeschränkt ist.

Zwar wirkt, wie bereits dargelegt, grundsätzlich nur eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht rentenbegründend, jedoch kann unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer spezifischen Leistungsbehinderung das Erfordernis resultieren, den Versicherten eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen (vgl. BSG, Urteile vom 24. Februar 1999 - B 5 RJ 30/98 R - und vom 11. März 1999 - B 13 71/97 R -, jew. in juris). Grundlage der Benennungspflicht bildet in diesen Fällen der Umstand, dass von vornherein ernste Zweifel an einer Einsetzbarkeit in einem Betrieb aufkommen. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen ist in Betracht zu ziehen, wenn, neben einer qualitativen Leistungseinschränkung auf „leichte Tätigkeiten“, die Leistungsfähigkeit zusätzlich in erheblichem Umfang einschränkt ist (Niesel in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Band 1, § 43 SGB VI, Rn. 47). In diesem Sinne ist unter der Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen eine Häufung von Leistungseinschränkungen zu verstehen, die insofern ungewöhnlich ist, als sie nicht regelmäßig bei einer Vielzahl von Personen bis zum Erreichen der Altersgrenze für die Regelaltersrente angetroffen wird. Zwar bestehen bei der Klägerin die oben angeführten qualitativen Leistungseinschränkungen, diese sind jedoch zur Überzeugung des Senats bereits dahingehend eingestellt, als sie vom Erfordernis einer „leichten Tätigkeit“ mit umfasst sind. Die bei der Klägerin vorliegenden qualitativen Leistungseinschränkungen liegen überdies zur Überzeugung des Senats bei einer Vielzahl von Personen vor, so dass nicht von einer „Ungewöhnlichkeit“ auszugehen ist. Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegt dann vor, wenn es sich um eine auf eine spezielle Körperfunktion oder Erkrankung bezogene erhebliche Behinderung handelt, die sich entsprechend stark auf das Leistungsvermögen auswirkt. Hierunter fallen nach der Rechtsprechung des BSG insbesondere Einschränkungen der Wahrnehmungsfähigkeit und der Gliedmaßen. Jedoch sind Anhaltspunkte für eine derartig schwerwiegende Leistungseinschränkung nicht ersichtlich, weswegen vorliegend nicht das Erfordernis besteht, der Klägerin eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen.

Eine solche ergibt sich ferner nicht unter dem Aspekt eines etwaig verschlossenen Arbeitsmarktes. Bei vollschichtiger Leistungsfähigkeit ist grundsätzlich davon auszugehen, dass es für eine Vollzeittätigkeit hinreichend Arbeitsplätze gibt. Mithin obliegt bei einer vollschichtigen Einsatzfähigkeit das Arbeitsplatzrisiko der Arbeitslosenversicherung bzw. dem Versicherten, nicht aber der Beklagten (vgl. insofern § 43 Abs. 3 letzter Halbsatz SGB VI, der bestimmt, dass die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist). Ausnahmsweise kann jedoch der Arbeitsmarkt als verschlossen gelten. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine Verweisung auf die verbleibende Erwerbsfähigkeit nur möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Der Arbeitsmarkt gilt in Ermangelung einer praktischen Einsatzfähigkeit nach der Rechtsprechung des BSG abschließend als verschlossen, wenn der Versicherte nicht unter den in den Betrieben üblichen Bedingungen arbeiten kann, der Versicherte entsprechende Arbeitsplätze aus gesundheitlichen Gründen nicht aufsuchen kann, der Versicherte nur in Teilbereichen eines Tätigkeitsfeldes eingesetzt werden kann, die in Betracht kommenden Tätigkeiten auf Arbeitsplätzen ausgeübt werden, die als Schonarbeitsplätze nicht an Betriebsfremde vergeben werden, die in Betracht kommenden Tätigkeiten auf Arbeitsplätzen ausgeübt werden, die an Betriebsfremde nicht vergeben werden, die in Betracht kommenden Tätigkeiten auf Arbeitsplätzen ausgeübt werden, die als Aufstiegspositionen nicht an Betriebsfremde vergeben werden oder entsprechende Arbeitsplätze nur in ganz geringer Zahl vorkommen. Eine Fallkonstellation i.d.S. liegt vorliegend nicht vor. Insb. bedingen die Migräne-Anfälle in der zuletzt geschilderten gegenüber der Rehabilitationseinrichtung in B3 Häufigkeit von 3 – 8 Anfällen monatlich nicht die Annahme eines verschlossenen Arbeitsmarktes.

Da der Klägerin hiernach keine Verweisungstätigkeit zu benennen ist und ihr der Arbeitsmarkt nicht verschlossen ist, kann der geltend gemachte Anspruch auch nicht hierauf gestützt werden.

Die Klägerin hat mithin keinen Anspruch auf die Gewährung einer vollen oder einer teilweisen Rente wegen Erwerbsminderung hinaus.

Ein Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit) scheidet bereits deswegen aus, weil die Klägerin nicht vor dem 2. Januar 1961 geboren ist (vgl. § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI).

Der Bescheid der Beklagten vom
25. Oktober 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juni 2020 erweist sich daher als rechtmäßig; die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG vom 9. November 2021 ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt im Rahmen der anzustellenden gerichtlichen Ermessensentscheidung (vgl. BSG, Beschluss vom 25. Mai 1957 - 6 RKa 16/54 -, in juris, dort Rn. 8), dass die Klägerin auch in der Rechtsmittelinstanz mit ihrem Begehren nicht durchgedrungen ist und die Beklagte keine Veranlassung für die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens gegeben hat.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.


 

Rechtskraft
Aus
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