L 13 R 311/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 5 R 1542/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 R 311/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 29. November 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung über den 31. August 2020 hinaus.

Der Kläger bezog vom 1. März 2018 bis 31. August 2020 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung von der Beklagten (Bescheid vom 28. November 2018), nachdem der Antrag des Klägers zunächst mit Bescheid vom 5. Oktober 2017 abgelehnt wurde und im anschließenden Widerspruchsverfahren das Gutachten der O1 vom 12. Juli 2018 eingeholt wurde, die unter Berücksichtigung der von ihr auf ihrem Fachgebiet diagnostizierten chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit impulsiven, emotional instabilen und paranoiden Zügen und einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig in mittelgradiger Ausprägung zu der Einschätzung gelangte, der Kläger könne nur noch drei bis unter sechs Stunden Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes – mit bestimmten qualitativen Einschränkungen – verrichten.
Beim SG Stuttgart (SG) wurde anschließend ein Klageverfahren geführt, welches die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zu Gegenstand hatte (S 5 R 4067/20).
Den Antrag des Klägers auf Weiterzahlung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung über den 31. August 2020 hinaus lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. September 2020 auf der Grundlage der beigezogenen Verwaltungsakten und der gutachterlichen Einschätzung des B1, der nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 8. Januar 2020 das Gutachten vom 21. Februar 2020 erstellte (Diagnosen: Lumboischialgie links bei Bandscheibenvorfall; Nervenwurzelkompression S 1 links, somatoforme Schmerzangaben, vorbeschrieben als chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, vorbeschriebene rezidivierende depressive Störung mit derzeit überdauernder Dysthymia, zervikaler Bandscheiben-Vorfall C6/7, Nervenwurzelreizsyndrom, klinisch-neurologisch keine Ausfallserscheinung, obstruktives Schlafapnoe-Syndrom, vorbeschriebene kombinierte Persönlichkeitsstörung mit impulsiven, emotional instabilen und paranoiden Zügen, Bluthochdruck, Z.n. Operation Karpaltunnelsyndrom beidseits sowie Sulcus ulnaris-Syndrom rechts, kein Hinweis auf Rezidiv, vorbeschriebene Synkopen ohne quantitative Leistungsrelevanz, Magen-Darmbeschwerden, vorbeschriebene Refluxösophagitis, Pangastritis, nach Anamnese Hömorrhoidalbeschwerden; aus nervenärztlich sozialmedizinischer Sicht lasse sich eine eindeutige quantitative Leistungsminderung für den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht herleiten. Insbesondere könne ein vollständig aufgehobenes Leistungsvermögen
[unter 3 Stunden täglich] nicht nachvollzogen werden. Für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Kommissionierer bestehe nur ein halbschichtiges Leistungsvermögen, eine leichte bis mittelschwere Wechseltätigkeit sei sechs und mehr Stunden täglich möglich, kein Akkord, keine Nachtschicht, kein Heben, Tragen und Bewegen von Lasten, keine Wirbelsäulenzwangshaltungen, kein vermehrtes Knien, Bücken oder Hocken, kein vermehrtes Überkopfarbeiten) ab.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Der Bescheid der Beklagten enthalte keine tragfähige Begründung im Sinne des § 35 Sozialgesetzbuch X (SGB X), weil er nur auf die maßgeblichen Rechtsvorschriften verweise und formelhafte Wiederholungen enthalte. Im Übrigen bemängelte er die Feststellungen des Gutachters B1 und verwies weitgehend auf seinen Vortrag im Parallelverfahren S 5 R 4067/20.
Mit Widerspruchsbescheid vom 12. März 2021 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die beigezogenen medizinischen Unterlagen aus den vorangegangenen und laufenden Verfahren, insbesondere die beigezogenen Befundberichten ergäben, dass beim Kläger vor allem folgende Gesundheitsstörungen vorlägen: Lumboischialgie links bei Bandscheibenvorfall, Nervenwurzelkompression S1 links, somatoforme Schmerzangaben, vorbeschrieben als chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, anamnestische rezidivierende depressive Störung mit derzeit überdauernder Dysthymia.
Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsstörungen und der sich daraus ergebenden funktionellen Einschränkungen bei der Ausübung von Erwerbstätigkeiten sei davon auszugehen, dass das Leistungsvermögen des Klägers für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zeitlich eingeschränkt sei. Dem Kläger seien noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten, überwiegend im Stehen, Gehen und Sitzen, ohne Nachtschicht, ohne Akkord, ohne häufiges Heben, ohne Tagen von Lasten, ohne Wirbelsäulen-Zwangshaltungen, ohne häufiges Bücken, ohne häufiges Knien/Hocken und ohne häufiges Überkopfarbeiten sechs Stunden und mehr täglich möglich. Dementsprechend seien die Voraussetzungen für eine Rente nach § 43 SGB VI über deren Wegfallzeitpunkt (31. August 2020) nicht mehr gegeben.
Dagegen hat der Kläger am 6. April 2021 Klage zum SG erhoben und sich zur Begründung im Wesentlichen auf seinen Vortrag im Vorverfahren bezogen sowie seine Ausführungen im Parallelverfahren S 5 R 4067/20 wiederholt.
Die Beklagte hat auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen. Der Kläger sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert, weil er unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen sechs Stunden und mehr täglich zu den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein könne.
Das SG hat zunächst die den Kläger behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen.
Der Ö1 hat in seiner schriftlichen Auskunft mitgeteilt, er verweise auf seine Auskunft im Verfahren S 5 R 4067/20. Ergänzend hat er mitgeteilt, der Kläger besuche seit März 2021 eine Psychotherapie, die einmal pro Monat jeweils drei Tage stattfinde.
Der M1 hat darauf hingewiesen, beim Kläger habe sich ein chronifiziertes Schmerzsyndrom entwickelt. Der Kläger erscheine als Lagerarbeiter nicht mehr arbeitsfähig. Die letzte Vorstellung sei vor drei Jahren erfolgt, sodass er aktuell keine Angaben zur Leistungsfähigkeit machen könne.
Der L1 hat mitgeteilt, es liege ein chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren (Stadium III nach Gerbershagen) vor. Es bestehe ein chronisches Lendenwirbelsäulensyndrom bei degenerativen Veränderungen, rezidivierende Depressionen, ein HWS-Syndrom, Schlafstörungen, Tinnitus, eine Hyperhidrosis und eine Zuckererkrankung. Durch die Schmerzen sei der Kläger stark in seiner Belastbarkeit und Ausdauer im Alltag sowie im Arbeitsleben eingeschränkt. Der Kläger sei momentan nicht in der Lage, eine leichte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt über sechs Stunden täglich zu verrichten. Selbst ein Arbeitsversuch mit drei Stunden täglich bzw. 15 Stunden in der Woche habe vom Kläger schmerzbedingt und aufgrund der psychischen Belastung nicht durchgehalten werden können. Der Arbeitsversuch sei abgebrochen worden.
Das SG hat von Amts wegen das Gutachten des S1 vom 25. April 2022 eingeholt. Dieser hat in seinem neurologischen Gutachten zusammenfassend ausgeführt, bei den anlässlich der Begutachtung durchgeführten Untersuchungen seien keine Gesundheitsstörungen auf neurologischem Fachgebiet nachzuweisen gewesen. Insbesondere hätten sich keine Residuen der operierten Nervenkompressionssyndrome an den oberen Extremitäten und keine Hinweise für eine Wurzelkompression, weder an den oberen noch an den unteren Extremitäten gefunden. Die beim Kläger bestehende, ausgeprägte, chronifizierte und generalisierte Schmerzsymptomatik lasse sich durch die auf neurologischem Fachgebiet bestehenden eher diskreten Befunde und Gesundheitsstörungen nicht zufriedenstellend erklären. Eine entsprechende Diskrepanz zwischen Beschwerden und Befund scheine auch auf orthopädischem Fachgebiet vorzuliegen, soweit dies der Aktenlage zu entnehmen sei. Die Beschwerden des Klägers beruhten nur zum geringsten Teil auf somatischen Ursachen, sondern im Wesentlichen auf psychischen und somatoformen Faktoren. Insofern lasse sich eine neurologisch bedingte Verminderung der beruflichen Leistungsfähigkeit beim Kläger nicht feststellen. Aus rein neurologischer Sicht sei der Kläger in der Lage, ohne Gefährdung seiner Gesundheit leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben und in seinem zuletzt ausgeübten Beruf regelmäßig mindestens sechs Stunden täglich zu arbeiten.
Die Beteiligten wurden zunächst darauf hingewiesen, dass der Eingang der Gutachten im Parallelverfahren S 5 R 4067/20 abzuwarten sei.
Im genannten Parallelverfahren haben von Amts wegen die O2 das Gutachten vom 21. Oktober 2021 (nach ambulanter Untersuchung am 5. Oktober 2021; Diagnosen: rezidivierende depressive Episoden, gegenwärtig allenfalls leichtgradige Episode, chronisches Schmerzsyndrom mit psychischen und somatischen Faktoren bei rezidivierenden Zervikobrachialgien und rezidivierenden Lumbalgien auf dem Boden degenerativer Wirbelsäulenveränderungen; nach der Operation eines Carpaltunnelsyndroms beidseits 2007 bestünden keinerlei Symptome mehr, nach Operation eines Sulcus-ulnaris-Syndroms rechts mit Verlagerung der Neven bestünden leichte Sensibilitätsstörungen unterhalb der Narbe; dem Kläger seien noch leichte körperliche Tätigkeiten ohne Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 5 kg, ohne häufiges Bücken, ohne häufiges Überkopfarbeiten, ohne Einfluss von Zugluft, Nässe, Kälte, ohne Wechselschicht oder Nachtschicht, ohne Akkord oder besonderen Zeitdruck und ohne Fließbandarbeiten mit einem Wechselrhythmus zwischen Stehen, Sitzen und Gehen mindestens sechs Stunden täglich zumutbar) und auf Antrag des Klägers nach §  109 SGG W1 das Gutachten vom 30. Juli 2022 (nach ambulanter Untersuchung am 16. Mai 2022) erstellt (als Gesundheitsstörungen bestünden eine gegenwärtige leichte bis mittelschwere Episode einer rezidivierenden Depression, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine chronische Lumbalgie ohne radikuläre Ausfälle [Kreuzschmerz], eine chronische Cervikobrachialgie ohne radikuläre Ausfälle [Nacken-Armschmerzen], Alkoholmissbrauch, Tinnitus und kein Anhalt für eine Persönlichkeitsstörung; W1 habe beim Kläger den Eindruck einer Aggravation gewonnen, wie sie bereits von B1 und O2 festgestellt wurde; der Kläger sei aktuell arbeitsunfähig, längerfristig [nach einer Leitliniengerechten Behandlung, die üblicherweise zwischen 2-4 Monaten dauere] könne er wieder in der Lage sein, mindestens 6 Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche zu arbeiten).

Der Kläger hat in der Folge weitere ärztliche Befunde und AU-Bescheinigungen vorgelegt.

Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 29. November 2022 hat das SG die Klage abgewiesen.
Der Bescheid der Beklagten vom 23. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. März 2021 sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Er habe keinen Anspruch auf Weiterzahlung der bis 31. August 2020 befristeten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und auch keinen Anspruch auf Weiterzahlung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Die Beklagte habe im Widerspruchsbescheid vom 12. März 2021 die maßgeblichen Rechtsgrundlagen benannt und mit zutreffender Begründung ausgeführt, dass die medizinischen Voraussetzungen für eine Weitergewährung der Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung nicht vorliegen, weil der Kläger nach dem Ergebnis der Ermittlungen im Vorverfahren unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen sechs Stunden und mehr täglich eine leichte Tätigkeit verrichten kann, ohne dass dies seiner Gesundheit abträglich wäre. Die Kammer hat zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen gemäß § 136 Abs. 3 SGG auf die zutreffenden Ausführungen der Beklagten im Widerspruchsbescheid verwiesen. Darüber hinaus hat das SG auf die Ausführungen in dem zwischen den Beteiligten ergangenen Urteil im Verfahren S 5 R 4067/20 vom selben Tag verwiesen. Die in diesem Verfahren durchgeführten Beweiserhebungen hätten die Einschätzungen der Beklagten zum Umfang der Leistungsminderung des Klägers inhaltlich in vollem Umfang bestätigt. Auch das im hiesigen Verfahren eingeholte Gutachten des S1 bestätige, dass der Kläger jedenfalls auf neurologischem Fachgebiet keine weitergehenden Leistungseinschränkungen habe, weil es bereits an relevanten Erkrankungen, die zu einer erheblichen Leistungseinschränkung führen würde, fehle. Im Hinblick auf die im Parallelverfahren eingeholten Gutachten der O2 und der W1 bleibe zusammenfassend festzuhalten, dass beim Kläger keine relevante Erwerbsminderung vorliege. Er sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert, sodass sein Antrag auf Weiterbewilligung der bis 31. August 2020 bewilligten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung keinen Erfolg haben könne.

Gegen das seiner Prozessbevollmächtigten am 2. Januar 2023 zugestellte Urteil hat der Kläger am 27. Januar 2023 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Das SG stütze seine Einschätzung im Wesentlichen auf die Einschätzung im neurologischen Gutachten des S1, ohne sich mit dem von den behandelnden Ärzten des Klägers festgestellten Leistungsvermögen unter Einbeziehung der anders lautenden Befundlage hinreichend auseinanderzusetzen. Ferner stütze sich das SG auf das im Parallelverfahren (S 5 R 4067/20) nach § 109 SGG eingeholte (in der Anlage beigefügte) Gutachten der W1, ohne eigene Ermittlungen von Amts wegen, insbesondere die Einholung eines eigenen nervenärztlichen-psychiatrischen Gutachtens, vorzunehmen. W1 komme zum Ergebnis, dass der Kläger in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt sei und stütze in dieser Hinsicht auch das Klagebegehren. Allerdings sei gutachterlicherseits offengeblieben, für welchen zeitlichen Umfang das Leistungsvermögen für eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingesetzt werden könne. Hier hätte es seitens des SG einer Einholung einer ergänzenden Stellungnahme der W1 bedurft, was jedoch unterblieben sei.
Zudem würdige das SG den zeitlichen Umfang unter Zugrundelegung mit den ärztlich festgestellten Funktions- und Belastungseinschränkungen hierzu nicht ausreichend.
Das SG verkenne, dass das von ihm eingeholte Gutachten des S1 den tatsächlichen erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen und den damit mannigfaltigen Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers nicht hinreichend gerecht werde. Es bestehe ein Zusammenhang zwischen der jeweiligen Belastung, den chronischen Schmerzen und den psychischen Leiden.
Die während der Begutachtung geschilderten Ausführungen des Klägers zu seinem Krankheitsbild und vorliegenden Erkrankungssymptomen seien darüber hinaus nicht hinreichend von dem Gutachter gewürdigt worden und hätten damit gutachterlicherseits keine Berücksichtigung gefunden. Darüber hinaus sei insbesondere bei psychischen Erkrankungen eine Abgrenzung zwischen einer Akuterkrankung und einer länger dauernden zeitlichen Leistungseinschränkung von mehr als sechs Monaten erforderlich. Im hier vorliegenden Fall leide der Kläger bereits seit vielen Jahren an den rentenrelevanten Funktionseinschränkungen. Die Erkrankungen, insbesondere psychischen Leiden hätten ein dauerhaftes Leistungsunvermögen zur Folge und führten zu einem Anspruch auf Weiterzahlung einer Erwerbsminderungsrente. Es fehle weiterhin im Urteil an einer kritischen Auseinandersetzung mit dem im Klageverfahren vorgelegten ärztlichen Befunde. Die ärztlich festgestellten Erkrankungen seien chronischer Natur. Es bestünden keine Erfolgsaussichten auf Besserung, was diesseits fachärztlich mehrmals bestätigt worden sei. Die Ablehnung der Erwerbsminderungsrente führe nach Einschätzung der Fachärzte zu einer weiteren Chronifizierung der Beschwerdesymptomatik (vgl. u. a. eingeholter Befundbericht des behandelnden Ö1 v. 24.06.2021; Befundbericht der Schmerzpraxis B3, L1 v. 27.01.2017; Befundbericht des S2 Klinikums v. 03.04.2019). Der Kläger befinde sich weiterhin in regelmäßiger fachärztlicher Behandlung und werde im Hinblick auf ein bestehendes Restleistungsvermögen kontinuierlich eingehend untersucht. Die Aussagekraft der dort beurteilten medizinischen Einschätzungen sei überzeugend und nachvollziehbar. Der Kläger sei aufgrund seiner schwerwiegenden Erkrankungen und der daraus resultierenden stark ausgeprägten Beschwerdesymptomatik körperlich und psychisch nicht belastbar und daher nicht mehr in der Lage, mindestens drei Stunden, geschweige denn sechs Stunden täglich leichte, wirtschaftlich verwertbare Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Zudem habe sich sein Gesundheitszustand weiter zunehmend verschlechtert. Er leide an weiteren rentenrelevanten Leistungseinschränkungen, die bislang in keiner Weise berücksichtigt worden seien, wie Migräne mit Aura, die permanent starke Kopfschmerzen, Übelkeit und brennende Augen verursache. In der Gesamtschau der orthopädischen und psychischen Leiden lägen die medizinischen Voraussetzungen zumindest einer weiteren befristeten vollen – hilfsweise teilweisen – Erwerbsminderungsrente gemäß § 43 SGB VI vor. Der Kläger hat weitere ärztliche Befundberichte (Ohrenärztliche Verordnung einer Hörhilfe des H1 v. 27. Januar 2023, augenärztlicher Befund der G1 v. 16. Februar 2023) vorgelegt.


Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 29. November 2022 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 23. September 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2021 zu verurteilen, ihm über den 31. August 2020 hinaus Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
            die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat auf ihren Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren sowie auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil sowie auf die beigefügte sozialmedizinische Stellungnahme ihres Ärztlichen Dienstes vom 13. April 2023 (G2) verwiesen, wonach auch eine Verschlechterung des maßgebenden Gesundheitszustandes nicht ersichtlich sei.

Der Kläger hat daraufhin vorgebrachte, es sei jedenfalls keine Verbesserung des Gesundheitszustandes eingetreten, sondern im Gegenteil hätten sich seine psychischen und körperlichen Leiden verschlimmert. Die psychische Lage sei instabil. Der Kläger beklagt erhebliche Schlafstörungen und vermehrt Suizidgedanken. Hierzu hat er den aktuellen Befundbericht der behandelnden G3 vom 20. April 2023 vorgelegt. Er sei bemüht, die von der behandelnden Psychologin empfohlenen Maßnahmen, wie Gruppentherapie, kostenpflichtiges Seminar, Online-Therapie wegen der bestehenden psychischen Leiden durchzuführen (vgl. Verordnung einer Gesundheitsanwendung vom 19. April 2023). Er versuche bereits seit längerem, eine/n geeignete/n Psychotherapeutin zu finden. Allerdings gestalte sich die Suche nach einem Therapeuten derzeit – wie sicherlich bekannt sei – deutschlandweit sehr schwierig.
Die Depressionen trieben den sozialen Rückzug aus der Gemeinschaft voran und beflügelten die negativistischen Gedankenkreise sowie das katastrophisierende Denken, wodurch die Gefahr einer Verschlimmerung der Depression erheblich steige.
Hinzu kämen auch körperliche Beschwerden, wie starke Rückenschmerzen im Bereich der LWS. Hierdurch sei die Beweglichkeit der Wirbelsäule schmerzbedingt stark eingeschränkt. Dies führe zu einer Mindestbelastbarkeit der Wirbelsäule, z. B. beim Heben und Tragen, beim Einnehmen von Zwangshaltungen, Einschränkungen in der Mobilität, z. B. langes Sitzen und Stehen sei nicht möglich, sowie beträchtliche Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit des Klägers. Die Schmerzen seien zum Teil derart unerträglich, dass eingenommene Körperpositionen nicht lange eingehalten werden könnten. Der Kläger leide neben den psychischen Störungen an erheblichen chronischen Schmerzen von Seiten des Stütz- und Bewegungsapparates, die durch Stresssymptome verstärkt werden können. Die Wegefähigkeit sei dadurch ebenfalls erheblich eingeschränkt.

Die Beklagte hat hierzu die weitere sozialmedizinische Stellungnahme ihrer G2 vom 9. Mai 2023 vorgelegt, welche auch unter Berücksichtigung des neu vorgelegten Berichtes vom 20. April 2023 keine Änderung zur Stellungnahme vom April 2023 gesehen hat. Der Versicherte scheine sich jetzt aktiver um weitere Therapieoption zu bemühen, weshalb zusätzlich mit einer Besserung der qualitativen Einschränkungen gerechnet werden könne.

Der Kläger hat auf die zwischenzeitlich von der Krankenkasse genehmigte digitale Gesundheitsanwendung für eine psychologische Betreuung in Form einer App verwiesen und hierzu einen Screenshot vorgelegt, aus dem sich ein kurzer Einblick in eine digitale Konversation zwischen der Psychologin und dem Kläger ergebe. Ferner hat der Kläger den Bericht der Kernspintomographie der LWS vom 4. Juli 2023 (Radiologische Praxis H2, D1, F1) und den Befundbericht der S3 vom 23. Juli 2023 vorgelegt.

Der Senat hat von Amts wegen das psychiatrische Gutachten des H3 vom 30. August 2023 (nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 29. August 2023) eingeholt. Dieser hat mitgeteilt, auf dem psychiatrischen Fachgebiet leide der Kläger unter einer komplexen psychischen Störung, die sich aus einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einer depressiven Störung, aktuell im Sinne einer Dysthymia mit wechselnden Stimmungslagen, zeitweise depressiv, zeitweise dysthym und zeitweise ausgeglichen, leicht eingeschränkter affektiver Schwingungsfähigkeit, Insuffizienzerleben, mäßig ausgeprägtem Rückzugsverhalten und der Angabe einer Durchschlafstörung sowie einem Alkohol-Abusus zusammensetze. Der Kläger sei durch seine chronische Schmerzerkrankung mäßig in seinen Alltagsaktivitäten beeinträchtigt. Auch die Beeinträchtigungen seiner Alltagsaktivitäten durch die depressive Störung seien mäßig ausgeprägt. Die chronische Schmerzstörung sei beim Kläger zumindest seit dem Bericht aus dem Z1 im Juli 2017 gesichert. Dies gelte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für diese Diagnose, jedoch nicht für das Ausmaß der Beeinträchtigungen des Klägers durch diese chronische Schmerzstörung in seinen Alltagsaktivitäten. Diese Beeinträchtigungen habe der Gutachter im Rahmen seiner aktuellen Untersuchung als mäßig eingeschätzt.
Die depressive Störung des Klägers sei als anhaltende psychische Störung mindestens seit dem Gutachten durch O1 im Juli 2018 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesichert. Dies werde zudem durch die Arztberichte von Herrn Ö1 gestützt. Aber auch hier gelte dies für die Diagnose und nicht für den Schweregrad der depressiven Störung, die der Gutachter im Rahmen seiner aktuellen Untersuchung als mäßig ausgeprägt eingeschätzt habe.
Durch diese komplexe psychische Gesundheitsstörung seien beim Kläger Funktionsbeeinträchtigungen bezüglich der Regulation seiner Affekte, seiner Stimmungslage und seines Selbstwerterlebens bedingt. Die Stressbelastbarkeit, die Selbstbehauptungsfähigkeit und die Konfliktbewältigungsfähigkeiten des Klägers seien reduziert. Sein Schmerzempfinden sei verstärkt.
Mit diesen Funktionseinschränkungen infolge der komplexen psychischen Störung könnten beim Kläger qualitative Einschränkungen seiner beruflichen Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit begründet werden. Bei einer Arbeitstätigkeit sollten ihm kein besonderer Zeitdruck und kein besonderer Leistungsdruck abverlangt werden. Akkordarbeit und Fließbandarbeit seien nicht leidensgerecht. Dem Kläger sollte bei der Tätigkeit keine besondere Verantwortung abverlangt werden und ihm sollte keine besondere geistige Beanspruchung wie Daueraufmerksamkeit und durchgehend schnelle Reaktionsbereitschaft abverlangt werden. Tätigkeiten mit Publikumsverkehr seien zumutbar, sofern der Kläger hierbei nicht unter Verkaufsdruck stehe und nicht häufig Kundenreklamationen zu bearbeiten habe. Die Tätigkeit sollte nicht mit einer besonderen Stressbelastung einhergehen. Nachtarbeit sowie Tätigkeiten in wechselnden Schichten seien nicht leidensgerecht, da es durch die ungünstigen Auswirkungen auf den zirkadianen Rhythmus zu einer Verschlechterung der psychischen Gesundheitsstörung kommen könnte.
Durch die körperlichen Gesundheitsstörungen, hierbei insbesondere durch die chronische Schmerzerkrankung und das degenerative Wirbelsäulenleiden, seien bei dem Kläger weitere Funktionseinschränkungen bedingt, mit welchen qualitative Einschränkungen seiner beruflichen Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit begründet werden können. Er sei lediglich noch dazu in der Lage, in leichten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Er könne die Tätigkeit in der Tagesschicht und der Früh- oder Spätschicht ausführen, wechselnde Schichten seien nicht leidensgerecht, da es für die psychische Stabilität des Klägers wichtig sei, einen kontinuierlichen Tagesablauf führen zu können. Der Kläger sollte die Tätigkeit in wechselnden Körperhaltungen ausführen können, zeitweise im Stehen, zeitweise im Gehen und zeitweise im Sitzen, ein gelegentlicher, selbstbestimmter Wechsel der Arbeitshaltung sollte gewährleistet sein. Wirbelsäulenzwangshaltungen und Überkopfarbeiten seien nicht leidensgerecht. Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten sollten ihm nicht abverlangt werden. Das Heben, Tragen und Bewegen von Lasten bis zu 10 kg könne dem Kläger auch ohne besondere Hilfsmittel zugemutet werden. Infolge des chronischen Schmerzsyndroms seien Tätigkeiten unter der Einwirkung von besonderer Kälte, Nässe und Zugluft nicht leidensgerecht. Eine besondere Lärmbelastung sei aufgrund des Tinnitus zu vermeiden. Quantitative Einschränkungen der beruflichen Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit des Klägers könnten mit den Funktionseinschränkungen infolge der psychischen Gesundheitsstörung nicht begründet werden. Auch mit den Funktionseinschränkungen infolge der körperlichen Gesundheitsstörungen könnten bei dem Kläger keine quantitativen Einschränkungen seiner beruflichen Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit begründet werden. Auch unter dem Blickwinkel der Summierung der psychisch bedingten Funktionsbeeinträchtigungen mit den körperlich verursachten könnten bei dem Kläger keine quantitativen Einschränkungen seiner beruflichen Leistungsfähigkeit begründet werden. Demnach sei er dazu in der Lage, in leichten Tätigkeiten, bei welchen die oben genannten qualitativen Einschränkungen berücksichtigt würden, täglich sechs und mehr Stunden an fünf Tagen in der Woche erwerbstätig zu sein. Besondere Arbeitsbedingungen wie betriebsunübliche Pausen seien bei dem Kläger nicht erforderlich, sofern die oben genannten qualitativen Einschränkungen berücksichtigt würden.
Die Wegefähigkeit des Klägers, um zu einem Arbeitsplatz zu gelangen, sei nicht wesentlich eigeschränkt. Der Kläger sei dazu in der Lage, viermal arbeitstäglich Wegstrecken von mehr als 500 m mit einem zumutbaren Zeitaufwand (jeweils innerhalb von 15 Minuten) zu Fuß zurückzulegen. Er benötige hierfür keine Gehhilfen. Er sei dazu in der Lage, zweimal arbeitstäglich während den Hauptverkehrszeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Er könne einen Arbeitsplatz auch mit einem Pkw anfahren. Eine nachweislich auf Dauer bestehende Leistungsunfähigkeit des Klägers für eine wirtschaftlich verwertbare leichte, einfache und vollschichtige Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wie einfache Bürotätigkeiten. Verpacken leichter Industrie- und Handelserzeugnisse oder einfaches Prüfen, Montieren oder Sortieren solcher Gegenstände oder andere leichte Hilfstätigkeiten habe durch die Gesundheitsstörungen auf dem psychiatrischen Fachgebiet, nach der Überzeugung des Gutachters H3, zu keinem Zeitpunkt bestanden.
Der Kläger ist dem Gutachten des H3 entgegengetreten und hat Kritik zu den Feststellungen und der gutachterlichen Einschätzung des Sachverständigen vorgebracht.
Hierzu hat sich H3 in einer ergänzenden Stellungnahme vom 17. November 2023 geäußert und an seiner Einschätzung festgehalten. Er habe alle bisher durchgeführten Behandlungen im Abschnitt „Aktenlage“ ausführlich diskutiert und kommentiert und auch den von der Bevollmächtigten der Klägerin erwähnten „chronischen, seit Jahren bestehenden und sich gerade nicht bessernden Verlauf der Erkrankungen" des Klägers berücksichtigt, allerdings seien die sich daraus ergebenden Leistungseinschränkungen des Klägers bei Weitem nicht so gravierend wie behauptet. Im Übrigen hätten abgesehen von O1 auch alle sonstigen Sachverständigen keine quantitative Leistungseinschränkung beim Kläger gesehen.
Der Kläger hat weiter vorgebracht, die Einschätzung des Sachverständigen, er könne aus psychiatrischer Sicht noch leichte Tätigkeiten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt von 6 Stunden und mehr täglich ausüben, überzeuge nicht aufgrund des bei ihm fachärztlich festgestellten komplexen Krankheitsbildes in Form von Dauerdiagnosen (vgl. u. a. Befundbericht der Fr. S3 v. 2023) sowie der umfassend dargelegten und auch gegenüber H3 beschriebenen mannigfaltigen Funktionseinschränkungen und werde auch in den zahlreichen vorgelegten ärztlichen Befundberichten und den darin aufgeführten objektiv klinischen Parameter widerlegt. Der Kläger hat hierzu z.B. auf den Befundbericht vom 24. Juli 2023 Bezug genommen, wonach wesentliche weitere klinischen Parameter und weiteren relevanten Beeinträchtigungen von H3 nicht ausreichend gewürdigt worden seien, wie  weiterhin Schmerzen im unteren LWS-Bereich mit Ausstrahlung in die Beine und Unterschenkel, häufige Migränetage, die den Kläger im Monat mehrere Tage außer Gefecht setzten, Dauermedikation, die medizinische Indikation einer weiteren psychiatrischen und psychotherapeutischen Mitbetreuung. Er hat außerdem einen Medikamentenplan vorgelegt sowie im weiteren Verlauf den Behandlungsbericht der Z2 des Klinikums S4 vom 18. Januar 2024 (Diagnose: Schmerzen HWS muskulärer Genese, Z.n. Schulter OP extern mit neu aufgetretenen Beschwerden), eine Diagnoseauflistung der T1 und den Kernspintomographie-Befund bezüglich der rechten Schulter vom 25. Januar 2024 (Klinikum S4).

Die Beklagte hat hierzu die weiteren sozialmedizinischen Stellungnahmen der G2 vom 19. Januar 2024 und vom 7. Februar 2024 vorgelegt und an ihrer Rechtsauffassung festgehalten. G2 hat das Gutachten des H3 weiterhin für zutreffend gehalten und bezüglich der neu aufgetretenen Schulterbeschwerden weiterhin keine Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens auf unter 6 Stunden am Tag für angepasste Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gesehen. Überkopftätigkeiten und Tätigkeiten mit Armvorhalt sowie das Tragen von Lasten über 10 kg seien zu vermeiden.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen des weiteren Vorbringens und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Prozessakten beider Instanzen und die vom Senat beigezogenen Akten des Verfahrens S 5 R 4067/20 Bezug genommen.








Entscheidungsgründe

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Rechtsgrundlage für die hier begehrte Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 Sechstes Sozialgesetzbuch (SGB VI).
Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
teilweise erwerbsgemindert sind,
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).
Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI, wenn sie
voll erwerbsgemindert sind,
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch
Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können und
Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Nicht erwerbsgemindert ist gemäß § 43 Abs. 3 SGB VI, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.

Das Vorliegen einer rentenberechtigenden Leistungsminderung und auch der weiteren Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung muss im Vollbeweis objektiv nachgewiesen sein. Dies erfordert, dass die Tatsachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen müssen (vgl. auch Bayerisches Landessozialgericht, Urteile vom 15. Januar 2009 – L 14 R 111/07 und vom 8. Juli 2010 – L 14 R 112/09). Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsache – hier der vollen oder teilweisen Erwerbsminderung begründenden Einschränkungen des beruflichen Leistungsvermögens – als erbracht angesehen werden kann. Eine bloße gewisse Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Kann das Gericht das Vorliegen der den Anspruch begründenden Tatsachen trotz Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten nicht feststellen, geht dieser Umstand zu Lasten desjenigen, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten will, hier also zu Lasten des Klägers.


Gemessen hieran ist der Kläger nicht erwerbsgemindert.
Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils
unter Zugrundelegung der vorgenannten Anspruchsvoraussetzungen zutreffend dargelegt, dass der Kläger nicht erwerbsgemindert ist. Das SG hat sich hierbei nachvollziehbar bezüglich des nervenärztlichen Fachgebiets auf das Gutachten des S1 vom 25. April 2022 und bezüglich des psychiatrischen Fachgebiets auf die im Parallelverfahren (S 5 R 4067/20) eingeholten Gutachten der O2 und der W1 sowie seine Ausführungen in dem im Parallelverfahren ergangenen Urteil gestützt.
Der Senat schließt sich dem nach eigener Überprüfung und unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers an und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung gemäß § 153 Abs. 2 SGG zurück.
Ergänzend ist auszuführen, dass bereits in dem im Verwaltungsverfahren, im Wege des Urkundsbeweises verwerteten Gutachten des B1 und in den Gutachten der O2 und W1 Anhaltspunkte für Aggravation festgestellt wurden, welche die vom Kläger geschilderten Beschwerden in ihrem Ausprägungsgrad in Frage stellen. Sowohl aus dem von. O2 erhobenen psychopathologischen Befund (u.a. Grundstimmung indifferent, affektive Schwingungsfähigkeit zu Beginn etwas reduziert, im Verlauf der Begutachtung konnte die Stimmung immer mehr zum positiven Pol hin verschoben werden, der Kläger konnte situativ adäquat häufig zunehmend entspannter lachen, Störungen von Antrieb und Psychomotorik waren nicht erkennbar, ebenso wenig Störungen von Konzentration, Gedächtnis oder Aufmerksamkeit) als auch dem von W1 erhobenen psychiatrischen Befund (das Aufmerksamkeitsniveau war gut, es fielen keine Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnisstörungen auf. Der formale Denkablauf war ungestört, die affektive Resonanzfähigkeit war leicht reduziert, der Antrieb normal) ergaben sich nur leichte Auffälligkeiten. Auch der vom Kläger geschilderte Tagesablauf und die Hobbys (früh Aufstehen, Kaffeetrinken, zum Friedhof gehen, mit den Geschwistern telefonieren, zu Mittag etwas essen, was die Geschwister vorbeigebracht haben, Fußball oder Filme im Fernsehen anschauen, Musik hören, auf dem Tablet lesen, sich auf dem Balkon aufhalten und im Sommer Geranien und Blumensamen ziehen, Kontakte mit der ehemaligen Lebenspartnerin und einem guten Freund, Trainieren der Oberarme und der Schultern zu Hause mit einer 2,5 kg Hantel, nachdem er wegen der Pandemie aufgehört hat, in einem Fitness-Studio zu trainieren, Wahrnehmen von Arztterminen, Massage- oder Krankengymnastiktermine) werden in den Gutachten von O2 und W1 im Wesentlichen übereinstimmend dargestellt und daraus ergibt sich, dass durchaus eine gewisse Alltagsstruktur besteht sowie Interessen und soziale Kontakte erhalten sind und Aktivitäten durchgeführt werden.
W1 hat sich zwar nicht eindeutig zur Leistungsfähigkeit des Klägers geäußert, sondern nur die Auffassung vertreten, dass er aktuell arbeitsunfähig sei. Soweit ihre Angaben so zu verstehen sein sollten, dass sie erst nach der empfohlenen leitliniengerechten Behandlung (nach zwei bis vier Monaten) von einem vollschichtigen Leistungsvermögen ausgeht, wäre dies unter Berücksichtigung der von O2 und W1 erhobenen Untersuchungsbefunde und den Angaben zum Tagesablauf und den Hobbys sowie der nachvollziehbaren Leistungseinschätzung der O2 nicht nachvollziehbar. Das SG hat in den Entscheidungsgründen des Urteils im Verfahren S 5 R 4067/20, auf welches Bezug genommen wurde, auch nachvollziehbar ausgeführt, dass sich O1 in ihrem Gutachten vom 12. Juli 2018, in dem sie eine quantitative Leistungseinschränkung auf drei bis unter sechs Stunden angenommen hat, auf Erkrankungen bezieht, die sich durch die späteren Begutachtungen nicht mehr bestätigt haben, weshalb ihrer Einschätzung nicht (mehr) gefolgt werden kann.
Im Berufungsverfahren ist die Annahme eines vollschichtigen Leistungsvermögens durch das Gutachten des H3 bestätigt worden. Dieser hat sich mit den aktenkundigen medizinischen Befunden beschäftigt, die vom Kläger geschilderten Beschwerden dargestellt und umfangreiche Untersuchungsbefunde erhoben sowie die Angaben des Klägers zu seinem Tagesablauf in die Bewertung einbezogen. Der psychische Befund zeigte kaum Auffälligkeiten. Der Kläger wurde als bewusstseinsklarer, allseits orientierter Proband mit intakter Auffassung beschrieben. Er war über die gesamte Untersuchungsdauer von drei Stunden und 50 Minuten durchgehend wach und wirkte zu keinem Zeitpunkt müde oder erschöpft. Im Rahmen der klinischen Untersuchung waren keine Konzentrationsstörung erkennbar, der Kläger zeigte auch kein Nachlassen seiner Konzentrationsfähigkeit. Die Gedächtnisfunktionen waren intakt. Der formale Gedankengang war geordnet, der Kläger sprach flüssig in normalem bis schnellem Sprechtempo. Grübelkreisläufe erwähnte er während der aktuellen Untersuchung nur nebenbei. Phobische Ängste und Zwangssymptome gab er nicht an. Hinweise auf inhaltliche Denkstörungen, Sinnestäuschungen bzw. Ich-Störungen lagen nicht vor. Während der aktuellen Untersuchung war bei dem Kläger kein depressiver Affekt erkennbar, zeitweise war seine Stimmungslage dysthym, überwiegend war die Stimmungslage ausgeglichen. Seine affektive Schwingungsfähigkeit war nur leicht eingeschränkt. Dysphorische bzw. gereizte Stimmungslagen sprach der Kläger während der aktuellen Untersuchung nicht an, er notierte hierzu jedoch mehrere Sätze in seinem Stimmungstagebuch (siehe Anlage). Beim Kläger war keine innere Unruhe erkennbar, er klagte auch nicht hierüber. Insgesamt war sein Vortrag wenig klagsam. Der Kläger gab auch kaum Insuffizienzgefühle an und sprach Schuldgefühle gar nicht an. Eine Affektlabilität war nicht zu beobachten. Der Kläger war über die gesamte Untersuchungsdauer nicht angespannt. Im Rahmen der aktuellen Untersuchung war bei ihm keine klinisch relevante Antriebsstörung erkennbar. Er zeigte weder eine psychomotorische Hemmung noch eine psychomotorische Unruhe. Die Gestik und Mimik waren normal bis lebhaft. Er gab frühmorgendliches Erwachen und Durchschlafstörungen an, andere zirkadiane Besonderheiten schilderte er nicht. Er berichtete über leichten bis mäßigen sozialen Rückzug. Aktuell ergab sich kein Anhalt für Suizidalität, der Kläger sprach aber an, gelegentlich suizidale Gedanken zu haben. Das Kontaktverhalten war durchgehend höflich, nur selten verhielt er sich klagsam, ganz überwiegend verhielt er sich freundlich-zugewandt.
Der körperliche Untersuchungsbefund war unauffällig.
Aus dem vom Kläger geschilderten Tagesablauf, der im Wesentlichen den Angaben gegenüber O2 und.W1 entspricht, ergeben sich keine gravierenden Auffälligkeiten. Der Kläger schildert zwar Schlafprobleme, er könne dann aber morgens ein bisschen was machen, er hört Musik, macht sein Tablet an, hört Nachrichten und liest mails. Er geht außerdem fast täglich mit seinem Kumpel auf den Friedhof.
Demnach ist die Leistungseinschätzung des H3, der lediglich qualitative Einschränkungen, aber keine zeitliche Leistungseinschränkung auf unter sechs Stunden arbeitstäglich gesehen hat, für den Senat nachvollziehbar. H3 hat sich auch mit den vom Kläger geäußerten Kritikpunkten auseinandergesetzt und insbesondere klargestellt, dass er die langjährig bestehenden Beschwerden des Klägers bei seiner Leistungsbeurteilung gewürdigt hat, jedoch die bestehenden Einschränkungen nicht so gravierend einschätzt, dass dadurch eine zeitliche Leistungseinschränkung bewirkt wird. Dem schließt sich der Senat an. Auch die vom Kläger eingenommenen Medikamente sind für sich betrachtet kein Argument für das Bestehen einer quantitativen Leistungseinschränkung, sondern tragen vielmehr dazu bei, die vorhandenen Beschwerden zu verbessern. Soweit sich der Kläger auf neu aufgetretene Beschwerden auf orthopädischem Fachgebiet im Bereich der Schulter (Z.n. Schulter-OP mit neu aufgetretenen Beschwerden) und der HWS bezogen und hierzu aktuelle Befunde vorgelegt hat, folgt der Senat der Einschätzung der G2, welche nach fachärztlicher Rücksprache davon ausgegangen ist, dass dennoch ein Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden arbeitstäglich für angepasste Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (mit Vermeidung von Überkopftätigkeiten und Tätigkeiten mit Armvorhalt sowie Tragen von Lasten über 10 kg) besteht.

Auch eine Pflicht zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit besteht nicht. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung (vgl. BSG, Urteil vom 9. Mai 2012 -
B 5 R 68/11 R - juris) liegen bei der Klägerin nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht vor.
Die von den Sachverständigen und der Beratungsärztin der Beklagten genannten qualitativen Einschränkungen sind in ihrer Art oder Summe nicht geeignet, die Gefahr einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zu begründen. Im Regelfall kann davon ausgegangen werden, dass ein Versicherter, der - wie der Kläger - nach dem verbliebenen Restleistungsvermögen noch zumindest körperlich leichte Tätigkeiten (wenn auch mit qualitativen Einschränkungen) mindestens sechs Stunden täglich verrichten kann, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen erwerbstätig sein kann. Denn dem Versicherten ist es mit diesem Leistungsvermögen in der Regel möglich, diejenigen Verrichtungen auszuführen, die in ungelernten Tätigkeiten in der Regel gefordert werden, wie z. B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw. (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Urteil vom 19. Oktober 2011 -
B 13 R 78/09 R - BSGE 109, 189).

Der Senat hat auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger eine Tätigkeit nicht unter den in Betrieben üblichen Bedingungen ausüben kann. Insbesondere hat auch H3 keine besonderen Arbeitsbedingungen wie betriebsunübliche Pausen oder besonders gestaltetes Arbeitsgerät für erforderlich gehalten.

Der Kläger ist zur Überzeugung des Senats in der Lage - wie von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gefordert – viermal täglich etwas über 500 m in jeweils maximal 20 Minuten zu Fuß zurückzulegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten zu benutzen sowie ein Kfz zu nutzen (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991, 13/5 RJ 73/90, juris). Dies hat H3 in seinem Gutachten ausdrücklich geäußert und der Senat hat auch aus orthopädischer Sicht keine Anhaltspunkte für eine rentenrechtlich relevante Einschränkung der Wegefähigkeit, zumal der Kläger hauptsächlich Beschwerden der Schulter und der HWS, aber nicht der unteren Extremitäten beklagt und somit keine relevanten Auswirkungen auf die Gehfähigkeit erkennbar sind.

Da das SG somit zu Recht die Klage abgewiesen hat, weist der Senat die Berufung zurück.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Im Rahmen des dem Senat nach § 193 SGG eingeräumten Ermessens war für den Senat maßgeblich, dass der Kläger mit der Rechtsverfolgung ohne Erfolg geblieben ist und die Beklagte keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben hat. Der Senat hält es auch im Falle einer Zurückweisung des Rechtsmittels für erforderlich, nicht nur über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu entscheiden, sondern auch über die Kosten der vorausgehenden Instanz (so Lüdtke/Berchtold, a.a.O., § 193 Rdnr. 8; erkennender Senat, Urteil vom 19. November 2013, L 13 R 1662/12, veröffentlicht in Juris; a.A. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 14. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 2a; Hintz/Lowe, Kommentar zum SGG, § 193 SGG Rdnr. 11; Jansen, Kommentar zum SGG, 4. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 4).

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.




 

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