L 12 SO 243/23

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
12
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 3 SO 190/21
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 SO 243/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 20.06.2023 geändert und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 16.12.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2021 verurteilt, dem Kläger darlehensweise Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 SGB XII für den Zeitraum vom 10.09.2020 bis 09.10.2020 zu gewähren.

 

Im Übrigen werden die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten über Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) für den Zeitraum vom 01.09.2020 bis 30.09.2021 und ab dem 07.12.2021.

 

Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist bulgarischer Staatsangehöriger. Er bezieht eine bulgarische Rente in Höhe von monatlich 126,85 Euro (Stand: 14.10.2019). Der Kläger ist mit der Zeugin Y. Q. (geb. am 00.00.0000) verheiratet, die ebenfalls bulgarische Staatsangehörige ist. Die Eheleute haben drei Kinder: die Zeugen O. P. P., I. T. E. und J. P. F.. Die Ehefrau des Klägers ist Eigentümerin eines mit einem Haus bebauten Grundstücks in der bulgarischen Stadt W./H. (L.-straße). Dieses Haus erwarb die Ehefrau des Klägers laut notariellem Kaufvertrag vom 10.10.1996 für 305.000 BGN (bulgarische Lew). Laut damaligem Wechselkurs entspricht das etwa 155.000 Euro und 72.356,06 Euro bei einem inflationsbereinigten Wechselkurs. Zu der Zeit herrschte in Bulgarien eine Hyperinflation.

 

Der Kläger reiste erstmals im Jahr 2016 zusammen mit seiner Ehefrau von Bulgarien nach Deutschland ein. Die Eheleute waren in dem Zeitraum vom 05.10.2016 bis 09.02.2017 mit einer Wohnung im Stadtgebiet der Beklagten gemeldet. Sie gingen im Februar 2017 wieder nach Bulgarien zurück, weil die Ehefrau des Klägers ihre schwerkranke Mutter in Bulgarien pflegen wollte.

 

Der Kläger reiste zusammen mit seiner Ehefrau nach deren Angaben am 28.07.2020 erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein. Zum 12.08.2020 meldeten sie sich als aus Bulgarien eingereist an, zunächst unter der Anschrift S.-straße in A.. Die Eheleute hatten diese Wohnung zum 12.08.2020 mit einer monatlichen Pauschalmiete von 525 Euro angemietet. Zu der Zeit hatten die Kinder der Eheleute ihren gewöhnlichen Aufenthalt in A.; die Söhne des Klägers bezogen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II, in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung). Zum 01.06.2021 bezogen der Kläger und seine Ehefrau eine Wohnung in der Z.-straße in A., in der sie immer noch wohnen und eine Gesamtmiete von 400 Euro monatlich entrichten (Grundmiete: 300 Euro, Heizkostenvorauszahlung: 40 Euro, Betriebskostenvorauszahlung: 60 Euro).

 

Die Ehefrau des Klägers war in der Zeit vom 01.09.2020 bis 31.03.2021 bei der D. in X. als Reinigungskraft angestellt. Die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit betrug laut Arbeitsvertrag vom 08.09.2020 15 Stunden pro Woche, das vereinbarte Bruttoarbeitsentgelt 10,80 Euro pro Stunde. Aus den Gehaltsabrechnungen ergab sich ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt zwischen 637,20 Euro und 745,20 Euro. Das Arbeitsverhältnis war zunächst bis zum 31.12.2020 und nach einer Verlängerung bis zum 31.03.2021 befristet. Die Bundesagentur für Arbeit bestätigte dem Jobcenter A. am 11.05.2021, dass bei der Ehefrau des Klägers eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit vorgelegen habe.

 

Am 10.09.2020 beantragten der Kläger und seine Ehefrau beim Jobcenter A. Leistungen nach dem SGB II. Das Jobcenter A. bewilligte der Ehefrau des Klägers für die Zeit vom 01.09.2020 bis zum 30.09.2021 ergänzend Leistungen nach dem SGB II (Bescheide vom 22.01.2021, 07.05.2021, 21.05.2021 und 23.07.2021). Einen Weiterbewilligungsantrag der Ehefrau des Klägers lehnte das Jobcenter A. durch Bescheid vom 21.10.2021 mit der Begründung ab, dass ihr Aufenthaltsrecht sich allein zum Zweck der Arbeitsuche ergeben habe. Der Arbeitnehmerstatus aus der letzten Beschäftigung wirke nur bis zum 30.09.2021 fort.

 

In der Zeit vom 07.12.2021 bis zum 29.01.2022 war die Ehefrau des Klägers bei der G. aus V. als Reinigungskraft beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis war laut Arbeitsvertrag vom 07.12.2021 befristet bis zum 30.06.2022. Vereinbart war eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 7,5 Stunden und ein Bruttoarbeitsentgelt von 11,11 Euro pro Stunde. Im Dezember 2021 erhielt die Ehefrau des Klägers ein Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 216,65 Euro. Für den Januar 2022 erhielt die Ehefrau kein Arbeitsentgelt, weil sie nicht mehr gearbeitet hatte.

 

In der Zeit vom 01.12.2021 bis zum 05.04.2022 bezog die Ehefrau des Klägers vom Jobcenter A. erneut ergänzend Leistungen nach dem SGB II (Bescheid vom 11.03.2022). Am 06.04.2022 erreichte sie die Altersgrenze nach § 7a SGB II.

 

Den Antrag des Klägers vom 10.09.2020 hatte das Jobcenter A. mit der Begründung abgelehnt, dass er die Regelaltersgrenze erreicht habe (Bescheid vom 28.10.2020).

 

Am 08.12.2020 beantragte der Kläger bei der Beklagten formlos Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII.

 

Mit hier streitgegenständlichem Bescheid vom 16.12.2020 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, dass das Recht auf Freizügigkeit nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU <FreizügG/EU>) nur bestehe, wenn der Kläger über ausreichende Existenzmittel und ausreichenden Krankenschutz verfüge. Eine Leistungsgewährung käme daher nicht in Betracht.

 

Der Kläger reichte sodann einen weiteren förmlichen Antrag (unterschrieben am 06.01.2021) mit Unterlagen ein. Ferner legte er eine Erklärung vom 13.01.2021 vor, aus der hervorgeht, dass er und seine Ehefrau nach Deutschland eingereist seien, weil sie in Bulgarien keine Arbeit mehr gehabt hätten und die ganze Familie inzwischen in Deutschland lebe. Mit seiner Rente und dem Gehalt seiner Ehefrau als Tagelöhnerin in Bulgarien hätten sie ihren Lebensunterhalt bestritten. Die Lebenshaltungskosten in Bulgarien seien ebenso enorm gestiegen wie die Arbeitslosigkeit. Seine Ehefrau bekomme keine Jobs mehr angeboten, seine Rente sei gleichgeblieben und reiche zum Überleben nicht aus. Seine Ehefrau habe hier eine Arbeitsstelle in Deutschland gefunden und sie seien freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger. Sie hätten kein Auto, keine Sparbücher, keine Lebensversicherung oder sonstige Versicherungen.

 

Diese Erklärung wertete die Beklagte als Widerspruch gegen den Bescheid vom 16.12.2020 und wies ihn durch Widerspruchsbescheid vom 06.04.2021 zurück, nachdem sozial erfahrene Personen beratend gehört worden waren. Durch die Erwerbstätigkeit der Ehefrau bestehe keine Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des SGB Il bzw. FreizügG/EU für die Ehefrau und somit auch nicht für den Kläger. Da der Kläger das Renteneintrittsalter erreicht habe, könne er sich nicht mehr auf die Freizügigkeitsberechtigung seiner Ehefrau beziehen. Außerdem gelte § 4 FreizügG/EU, wonach nichterwerbstätige Freizügigkeitsberechtigte (u.a. Altersrentner) das Recht nach § 2 FreizügG/EU nur hätten, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügen würden. Überbrückungsleistungen könnten mangels Ausreisewillens nicht gewährt werden.

 

Am 05.05.2021 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Duisburg (SG) erhoben. Er war der Ansicht, dass er sich auf die Arbeitnehmereigenschaft seiner Ehefrau berufen könne. Er und seine Ehefrau seien eingereist, um zu überleben und hier zu arbeiten, nicht um Sozialleistungen zu beziehen.

 

Der Kläger hat beantragt,

 

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16.12.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2021 zu verurteilen, ihm Leistungen nach dem 4. Kapitel SGB XII für die Zeit vom 01.09.2022 (gemeint war: ab dem 01.09.2020) zu gewähren.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Die Beklagte war der Auffassung, dass der Kläger eingereist sei, um Sozialhilfe zu erlangen und daher nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XII vom Sozialhilfebezug ausgeschlossen sei. Dem Kläger und seiner Ehefrau sei bei Einreise nach Deutschland unzweifelhaft klar gewesen, dass sie ohne die Gewährung von Sozialleistungen nicht in der Lage sein würden, in Deutschland zu leben. Ausweislich der Erklärung des Klägers hätten er und seine Ehefrau Bulgarien verlassen, weil sie dort mit den Einkünften der Tagelöhnerin und der geringen Rente des Klägers nicht hätten leben können. Sie seien ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland eingereist. Dabei sei dem Kläger bewusst gewesen, dass er von seiner Rente weder in Bulgarien noch in Deutschland leben könne.

 

Im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens verpflichtete das SG die Beklagte mit Beschluss vom 17.06.2021 (S 3 SO 200/21 ER), dem Kläger vorläufig Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII für die Zeit ab dem 11.05.2021, längstens jedoch bis zum 10.11.2021 zu gewähren. Mit einem Bescheid vom 01.07.2021 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie ihm aufgrund des Beschlusses des SG vom 17.06.2021 Leistungen für den Zeitraum vom 11.05.2021 bis 10.11.2021 vorläufig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht gewähre. Mit weiterem Bescheid vom 23.07.2021 bewilligte die Beklagte dem Kläger vorläufig Leistungen für die Zeit von Mai bis November 2021, ohne auf den Bescheid vom 01.07.2021 oder auf das Eilverfahren S 3 SO 200/21 ER Bezug zu nehmen. In einem weiteren Bescheid vom 29.10.2021 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie ihm aufgrund des Beschlusses des SG vom 17.06.2021 Leistungen für den Zeitraum von November 2021 bis Mai 2022 vorläufig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht in gleicher Höhe weiterzahle. In einem weiteren Bescheid vom 22.11.2021 bewilligte die Beklagte dem Kläger erneut Leistungen für die Zeit von November 2021 bis Mai 2022, ohne auf den Bescheid vom 29.10.2021 oder das o.g. Eilverfahren Bezug zu nehmen. Es folgten weitere Bescheide über die vorläufige Leistungsgewährung für die Zeit von Juni 2022 bis August 2024 durch Bescheide vom 20.05.2022, 02.06.2022, 22.06.2022, 23.11.2022, 23.01.2023, 22.03.2023, 20.09.2023, 20.10.2023, 15.12.2023 und 20.03.2024. Insgesamt zahlte die Beklagte vorläufig Leistungen an den Kläger für den Zeitraum von Mai 2021 bis zuletzt April 2024 aus.

 

Am 30.03.2022 hat das SG einen Verhandlungstermin anberaumt und den Kläger angehört. Wegen des Ergebnisses dieser Anhörung wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 30.03.2022 verwiesen.

 

Zum 02.05.2022 nahm der Kläger ein Beschäftigungsverhältnis bei der C. als Helfer in der Nähe von K. auf, das er bis zum 11.08.2022 ausübte. Die vereinbarte regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit betrug laut Arbeitsvertrag vom 29.04.2022 12,6 Stunden. Vereinbart war ein tarifliches Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 10,88 Euro pro Stunde. Das Arbeitsverhältnis war bis zum 26.01.2023 befristet.

 

Zum 01.09.2022 nahm die Ehefrau des Klägers ein Beschäftigungsverhältnis bei der U. aus A. als Reinigungskraft in einem Wettbüro auf. Vereinbart wurde ein monatliches Arbeitsentgelt von pauschal 350 Euro. Das Arbeitsverhältnis war laut Arbeitsvertrag vom 29.09.2022 befristet bis zum 31.08.2023 und wurde später bis zum 31.08.2024 verlängert.

 

Das SG hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 20.06.2023 den Kläger ergänzend angehört und die Ehefrau des Klägers sowie den Sohn O. P. P. als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses der Anhörung und der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 20.06.2023 Bezug genommen.

 

Das SG hat durch Urteil vom 20.06.2023 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2021 verurteilt, dem Kläger Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII für den Zeitraum vom 01.09.2020 bis zum 30.09.2021 und ab dem 07.12.2021 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger für diese Zeiträume ein materielles Aufenthaltsrecht aus der eigenen und der Arbeitstätigkeit seiner Ehefrau ableiten könne, so dass der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII nicht greife. Der Kläger sei auch nicht nach Deutschland eingereist, um Sozialhilfe zu erlangen, so dass der Ausschluss aus § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XII ebenfalls nicht einschlägig sei. Erforderlich sei dem Wortlaut dieser Norm nach eine zielgerichtete Einreise nach Deutschland aus dem Grund, Sozialhilfe zu erlangen. Der Vorsatz, Sozialhilfe zu erlangen, müsse dabei für den Entschluss zur Einreise von „prägender Bedeutung“ gewesen sein. Die Möglichkeit, Sozialhilfe zu erhalten, müsse für den Einreiseentschluss danach nicht nur mitursächlich, sondern allein oder neben anderen Gründen in besonderer Weise bedeutsam gewesen sein. Es genüge aber nicht, dass der Sozialhilfebezug beiläufig verfolgt oder anderen Einreisezwecken untergeordnet und in diesem Sinne (nur) billigend in Kauf genommen werde. Die Kammer sei davon überzeugt, dass der Kläger eingereist sei, weil er seine wirtschaftliche Existenz in Bulgarien nicht habe sichern können. Er sei deshalb zusammen mit seiner Ehefrau nach Deutschland zu seinen Kindern gezogen. Soweit die Beklagte davon ausgehe, dass von diesem Sachverhalt auf die Absicht geschlossen werden könne, Sozialhilfe zu beziehen, folge die Kammer dem nicht. Die Kammer sei nicht davon überzeugt, dass der Kläger bereits bei Einreise beabsichtigt habe, Leistungen zu beziehen. Selbst wenn dem Kläger bei Einreise die Möglichkeit, Sozialhilfe zu erhalten, bewusst gewesen sein sollte, sei die Kammer nicht davon überzeugt, dass diese Möglichkeit für den Einreiseentschluss allein oder in besonderer Weise bedeutsam gewesen sei.

 

Gegen das ihr am 11.08.2023 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18.08.2023 Berufung eingelegt. Zur Begründung führt sie aus, es werde durch den eigenen Vortrag des Klägers unzweideutig belegt, dass der Einreisezweck Sozialleistungen zu erlangen in ganz besonderer Weise bedeutsam gewesen sei und dabei alle anderen Einreisegründe eine völlig untergeordnete Rolle gespielt hätten. Der Kläger habe dargelegt, dass er bereits in Bulgarien von seiner Rente nicht annähernd habe überleben können und dass auch seine Frau in Bulgarien keinerlei realistische Chance gehabt habe, von ihren Einkünften als Tagelöhnerin zu überleben. Der Kläger und auch seine Ehefrau hätten im Übrigen die klare Vorstellung gehabt, dass sie selbst auch in Deutschland nicht in der Lage sein würden, von ihren Einkünften leben zu können. Vor dem Hintergrund, dass wirtschaftliche Rahmenbedingungen den Grund für die Ausreise aus Bulgarien dargestellt hätten, man über die absolute Sicherheit verfügt habe, mit seinen Einkünften auch im Einreisestaat nicht überleben zu können, erweise es sich faktisch als denknotwendig, dass der Kläger eingereist sei, um Sozialleistungen zu beziehen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass Familienmitglieder des Klägers bereits längere Zeit in Deutschland gelebt und in dieser Zeit wohl auch Sozialleistungen bezogen hätten. Der Kläger sei sich offensichtlich ganz sicher gewesen, dass sich seine wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch die Umsiedlung von Bulgarien nach Deutschland verbessern würden, obwohl ihm klar gewesen sei, dass diese Verbesserung nicht durch die Einkünfte seiner Frau oder durch eine eigene Arbeitsaufnahme hätte erreicht werden können. Das SG begründe seine gegenteilige Auffassung nicht.

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 20.06.2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

 

                                               die Berufung zurückzuweisen.

 

Der Kläger beruft sich auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil. Seine Entscheidung und die seiner Ehefrau, nach Deutschland einzureisen, sei maßgeblich von der Absicht geprägt gewesen, näher bei den gemeinsamen Kindern zu leben und damit für den Fall einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes seiner Ehefrau, die an Diabetes leidet, die Unterstützung durch die gemeinsamen Kinder sicherzustellen. Dies hätten die Kinder auch bestätigt. Gegen die Annahme des Leistungsausschlusses spreche auch, dass er und seine Ehefrau lediglich aufstockend Leistungen bezogen hätten. Das Haus in Bulgarien sei ca. 100 Jahre alt und habe sieben Zimmer. Es werde von ihm und seiner Familie in der Ferienzeit genutzt. Es sei ein einfaches, schlichtes Haus, welches seine Ehefrau im Jahre 1996 zur Inflationszeit gekauft habe. Auf die vom Kläger eingereichten Lichtbilder zu diesem Hausgrundstück wird Bezug genommen.

 

Der Senat hat durch seinen Berichterstatter am 06.03.2024 einen Erörterungs- und Beweisaufnahmetermin durchgeführt und dabei den Kläger ergänzend angehört sowie seine Ehefrau und Kinder als Zeugen vernommen. Ferner hat der Senat den Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 24.04.2024 erneut angehört und seine Ehefrau wiederum als Zeugin vernommen. Wegen des Ergebnisses der Anhörung und der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschriften vom 06.03.2024 und 24.04.2024 Bezug genommen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und des Jobcenters A. sowie der beigezogenen Gerichtsakten des SG zum Verfahren S 3 SO 200/21 ER Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

Die Berufung der Beklagten hat weit überwiegend Erfolg.

 

A. Streitgegenstand ist die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB XII für die Zeiträume vom 01.09.2020 bis 30.09.2021. Das SG hat in seinem Urteil vom 20.06.2023 eine Entscheidung zu Gunsten des Klägers zwar auch für den Zeitraum ab dem 07.12.2021 getroffen. Dieser ist aber nicht streitbefangen.

 

Das SG ist zunächst – im Ergebnis zu Recht – davon ausgegangen, dass der Leistungszeitraum ab dem 01.09.2020 beginnt. Hat ein Leistungsberechtigter nach § 28 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) von der Stellung eines Antrages auf eine Sozialleistung abgesehen, weil ein Anspruch auf eine andere Sozialleistung geltend gemacht worden ist, und wird diese Leistung versagt oder ist sie zu erstatten, wirkt der nunmehr nachgeholte Antrag bis zu einem Jahr zurück, wenn er innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des Monats gestellt ist, in dem die Ablehnung oder Erstattung der anderen Leistung bindend geworden ist. Die – zunächst – geltend gemachte Leistung muss „versagt“ worden sein. Versagen meint hier das erfolglose Beantragen einer anderen Sozialleistung bzw. ihre Ablehnung durch eine negative Verwaltungsentscheidung (S. 1 am Ende; vgl. BSG Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 16/09 R, Rn. 20, juris). § 28 Abs. 1 SGB X gilt auch dann, wenn der rechtzeitige Antrag auf eine andere Leistung aus Unkenntnis über deren Anspruchsvoraussetzung unterlassen wurde und die zweite Leistung gegenüber der ersten Leistung, wenn diese erbracht worden wäre, nachrangig gewesen wäre (§ 28 Abs. 2 SGB X). § 28 Abs. 2 SGB X erweitert den Anwendungsbereich auf den von Abs. 1 nicht erfassten Fall, dass der Antrag nicht wegen des zunächst geltend gemachten Anspruchs, sondern in Unkenntnis der anderen Sozialleistung unterlassen worden ist. Die Regelung setzt neben der Unkenntnis voraus, dass die Leistung, die nachträglich beantragt wird, gegenüber der zunächst beantragten Sozialleistung subsidiär ist. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Kläger hat zunächst am 10.09.2020 aus Unkenntnis über das Erreichen der Altersgrenze einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II beim Jobcenter A. gestellt, der mit Bescheid vom 28.10.2020 abgelehnt worden ist. Am 08.12.2020 – und damit binnen sechs Monaten nach Bestandskraft des Bescheides vom 28.10.2020 – hat der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII gestellt, der deshalb bis zum 01.09.2020 zurückwirkt (vgl. § 44 Abs. 2 S. 1 SGB XII). SGB-XII-Leistungen sind subsidiär gegenüber den SGB-II-Leistungen (§ 2 Abs. 1 SGB XII).

 

In zeitlicher Hinsicht ist eine Begrenzung des Streitgegenstands durch den Bescheid vom 23.07.2021, der Leistungen von Mai bis November 2021 betrifft, anzunehmen. Das Bundessozialgericht (BSG) geht in ständiger Rechtsprechung, der sich der Senat nach eigener Prüfung anschließt, davon aus, dass ein laufender Leistungszeitraum jedenfalls durch einen weiteren Leistungsbescheid zeitlich begrenzt wird (vgl. BSG Urteile vom 24.05.2017, B 14 AS 16/16 R, Rn. 13, juris; vom 31.10.2007, B 14/11b AS 59/06 R, Rn. 13, juris; vom 02.12.2014, B 14 AS 8/13 R, Rn. 9, juris; vom 25.08.2011, B 8 SO 19/10 R, Rn. 9, juris; und vom 13.07.2017, B 4 AS 17/16 R, Rn. 13, juris). Etwas anderes gilt für Ausführungsbescheide, also Bescheide, die in einem vorangegangenen gerichtlichen Verfahren vollstreckungsfähig festgelegte Verpflichtungen realisieren. Sie stellen keine Verwaltungsakte im Sinne des § 31 S. 1 SGB X dar. Voraussetzung ist, dass sich der Ausführungsbescheid in ausdrücklicher Bezugnahme auf den gerichtlichen Beschluss bzw. auf das gerichtliche Urteil in dessen Umsetzung erschöpfen muss (vgl. BSG Beschluss vom 18.09.2003, B 9 V 82/02 B, Rn. 6, juris; LSG NRW Urteil vom 19.06.2020, L 13 SB 122/20, Rn. 17, juris; LSG NRW Beschluss vom 23.03.1998, L 10 SVs 15/97, Rn. 18, juris). Durch den Ausführungsbescheid will die Behörde der im Urteil/Beschluss auferlegten Verpflichtung trotz der noch nicht eingetretenen Rechtskraft entsprechen. Mit dem Ausführungsbescheid trifft die Behörde keine verbindliche Regelung. Dieser steht unter dem Vorbehalt, dass er nur gelten soll, wenn die der Behörde auferlegte Verpflichtung in Rechtskraft erwächst (Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 31 Rn. 53 m.w.N.). Der Leistungsbescheid der Beklagten vom 23.07.2021 ist zeitlich nach dem Beschluss des SG vom 17.06.2021 (S 3 SO 200/21 ER) erlassen worden. In diesem Beschluss hatte das SG die Beklagte verpflichtet, dem Kläger vorläufig Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII für die Zeit ab dem 11.05.2021, längstens bis zum 10.11.2021, zu gewähren. Der Bewilligungsbescheid vom 23.07.2021 enthält allerdings keine Bezugnahme auf das gerichtliche Eilverfahren S 3 SO 200/21 ER. Es findet sich zwar auch ein Hinweis, dass der Bescheid gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) „Gegenstand des Klageverfahrens“ werde. Gleichwohl folgt im Anschluss eine Rechtsbehelfsbelehrung, wonach gegen den Bescheid Widerspruch eingelegt werden könne. Die Beklagte hat die Vorläufigkeit auf § 44a SGB XII gestützt, den Grund der Vorläufigkeit – entgegen der Maßgabe des § 44a Abs. 2 S. 1 SGB XII – aber nicht erläutert. Die Beklagte hat zwar den Leistungsbetrag für Mai 2021 geringer festgesetzt als für die nachfolgenden Monate (402,49 Euro statt 594,15 Euro), weil die vorläufige Verpflichtung aus dem Beschluss vom 17.06.2021 erst zum 11.05.2021 greifen sollte. Begründet hat die Beklagte diese geringere Leistungshöhe für Mai 2021 im Bescheid vom 23.07.2021 allerdings nicht. Aus der Sicht eines verständigen Empfängers (analog §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>) kann der Bescheid vom 23.07.2021 mangels konkreter Hinweise auf das Eilverfahren nicht als Ausführungsbescheid, sondern nur als Verwaltungsakt mit Regelungscharakter qualifiziert werden. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Bescheid vom 01.07.2021. Dieser Bescheid ist ausdrücklich als Ausführungsbescheid kenntlich gemacht worden und stellt nach den oben genannten Kriterien selbst keinen Verwaltungsakt dar. Da der Bescheid vom 23.07.2021 aber weder auf diesen Bescheid Bezug nimmt, noch sonst einen Hinweis zum o.g. gerichtlichen Eilverfahren enthält, kann er – anders als der Bescheid vom 01.07.2021 – nicht als in Ausführung des Beschlusses vom 17.06.2021 erlassen betrachtet werden.

 

Dies hat zur Folge, dass der Streitzeitraum wirksam vom 01.09.2020 bis zum 30.09.2021 begrenzt wurde. Da es ausweislich der Verwaltungsakten der Beklagten nach der erstmaligen Antragstellung am 10.09.2020 bzw. 08.12.2020 bis zum Erlass des Bescheides vom 23.07.2021 keine weiteren Anträge des Klägers gegeben hat, ändert der Bescheid vom 23.07.2021 den Ablehnungsbescheid vom 16.12.2020 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2021) gemäß § 96 Abs. 1 SGG insoweit ab. Die Beklagte hat nämlich damit entschieden, dass die vollständige Ablehnung nicht mehr gelten solle, sondern eine vorläufige Leistungsgewährung von Mai bis November 2021 gerechtfertigt sei. Der Bescheid vom 23.07.2021 regelt zwar eine Leistungsbewilligung bis zum 30.11.2021. Da das SG im angefochtenen Urteil aber Leistungen nur vom 01.09.2020 bis zum 30.09.2021 und dann erst wieder ab dem 07.12.2021 zugesprochen hat, wird der vom Senat zu beurteilende Zeitraum insgesamt bis zum 30.09.2021 begrenzt. Die weiteren vorläufigen Leistungsbescheide, die ab dem 22.11.2021 erlassen wurden, sind dagegen nicht Gegenstand des Verfahrens gemäß § 96 Abs. 1 SGG geworden, weil es sich insoweit um Folgebewilligungsbescheide nach dem SGB XII handelt, die von der Norm nicht erfasst werden (st. Rspr., vgl. nur: BSG Urteil vom 16.10.2007, B 8/9b SO 2/06 R, Rn. 10, juris). Soweit der Bescheid vom 22.11.2021 erneut eine Regelung zum Leistungsmonat November 2021 enthält, handelt es sich um eine wiederholende Verfügung ohne Regelungscharakter (vgl. dazu: Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 31, Rn. 57 m.w.N.), weil darin die durch den Bescheid vom 23.07.2021 ausgesprochene Leistungshöhe für den November 2021 lediglich wiederholt wird.

 

B. Die zulässige Berufung ist weit überwiegend begründet.

 

Der Bescheid der Beklagten vom 16.12.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2021 ist nur teilweise rechtswidrig und beschwert den Kläger im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG nur insoweit, als er keine Überbrückungsleistungen für den Zeitraum vom 10.09.2020 bis 09.10.2020 gewährt hat (dazu II. 1.). Im Übrigen ist der Bescheid aber rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (dazu I.) noch auf Überbrückungsleistungen wegen eines Härtefalls für die Zeit ab dem 10.10.2020 (dazu II. 2.).

 

I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII. Nach § 19 Abs. 2 SGB XII i.V.m. § 41 SGB XII können Personen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die das 65. Lebensjahr bzw. die angehobene Altersgrenze vollendet haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert i.S. von § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) sind und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann, auf Antrag Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII erhalten. Der im Jahr 1953 geborene Kläger hatte die maßgebliche Altersgrenze zum Beginn des Streitzeitraums am 01.09.2020 bereits erreicht. Ob die weiteren Leistungsvoraussetzungen, insbesondere die Hilfebedürftigkeit des Klägers, vorliegen, und ob die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII greifen, kann dahinstehen, da jedenfalls der Tatbestand des Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XII erfüllt ist.

 

1. Nach dieser Norm erhalten Ausländer und ihre Familienangehörigen keine Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII oder nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, wenn sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen. Durch sein Urteil vom 04.06.1992 (B 5 C 22/87, beck online) hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zum inhaltsgleichen § 120 Abs. 3 S. 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) entschieden, dass für eine Einreise „um Sozialhilfe zu erlangen“ ein finaler Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme der Sozialhilfe erforderlich sei. Dies folge unmittelbar aus dem Wortlaut „um Sozialhilfe zu erlangen“. Die Konjunktion „um – zu“ bezeichne ein ziel- und zweckgerichtetes Handeln und damit eine Zweck-Mittel-Relation, in der die Einreise das Mittel und die Inanspruchnahme von Sozialhilfe den mit ihr verfolgten Zweck bilde. Dem sind das BSG (Urteil vom 18.11.2014, B 8 SO 9/13 R, Rn. 25, juris) und die Instanzgerichte (vgl. OVG Berlin Beschluss vom 22.04.2003, 6 S 9.03, Rn. 6, juris; OVG NRW Urteil vom 27.11.1997, 8 A 7050/95, Rn. 6 juris; LSG NRW Beschlüsse vom 27.06.2007, L 9 B 80/07 AS ER, Rn. 32, juris; vom 23.02.2007, L 20 B 61/06 AY, Rn. 6, juris; und vom 22.04.2015, L 9 SO 496/14 B, Rn. 6, juris; LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 22.06.2016, L 2 SO 2095/16 ER-B, Rn. 20, juris) auch für die neue Rechtslage gefolgt. Das Motiv, Sozialhilfe zu erlangen, muss für den Ausländer neben anderen Einreisegründen so wichtig gewesen sein, dass er ansonsten nicht eingereist wäre (LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 22.06.2016, L 2 SO 2095/16 ER-B, Rn. 20, juris). Für eine „Um-zu“-Einreise genügt es demnach nicht, wenn der Bezug von Sozialhilfeleistungen anderen Einreisezwecken untergeordnet ist (LSG NRW Beschlüsse vom 12.01.2009, L 20 B 58/08 AY, Rn. 25, juris; und vom 26.03.2020, L 9 SO 1/20 B ER, Rn. 7, juris). Beruht die Einreise des Ausländers auf verschiedenen Motiven, ist das Erfordernis des finalen Zusammenhangs auch erfüllt, wenn der Zweck der Inanspruchnahme von Sozialhilfe für den Einreiseentschluss von prägender Bedeutung war. Die Möglichkeit, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, muss daher für den Einreiseentschluss des Ausländers, sei es allein, sei es neben anderen Gründen, in besonderer Weise bedeutsam gewesen sein (BVerwG Urteil vom 04.06.1992, B 5 C 22/87, beck online). Demgegenüber genügt es nicht, dass der Sozialhilfebezug beiläufig verfolgt oder anderen Einreisezwecken untergeordnet und in diesem Sinne (nur) billigend in Kauf genommen wird (vgl. OVG Berlin Beschluss vom 22.04.2003, 6 S 9.03, Rn. 6, juris). Ein den Sozialhilfebezug überlagerndes übergewichtiges anderes Einreisemotiv kann der (ernsthafte) Wille des einreisenden Ausländers sein, mit den in Deutschland lebenden Kindern oder Eltern zusammenzuleben bzw. umgekehrt (vgl. VG Braunschweig Urteil vom 20.12.2004, 3 A 107/04, Rn. 11, juris; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 10.09.2009, L 23 SO 117/06, Rn. 26 ff., juris; Beschluss vom 26.03.2020, L 9 SO 1/20 B ER, Rn. 7, juris; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 27.11.2008, L 8 SO 173/08 ER, Rn. 20, juris). Anhaltspunkte für eine „Um-zu“-Einreise können sich demgegenüber aus folgenden Umständen ergeben: Einreise ohne jegliche eigene Mittel; Einreise zu Verwandten, die selbst Sozialhilfe beziehen; Voraufenthalte in Deutschland mit Sozialhilfebezug; Beantragung von Sozialhilfe unmittelbar bei oder nach der Einreise; schlechte Aussichten auf Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, da keine Sprach- und/oder Landeskenntnisse, keine oder unzureichende Schul- oder Berufsausbildung, keine Berufspraxis im Heimatland, keine oder eingeschränkte Erwerbsfähigkeit (vgl. OVG Berlin Beschluss vom 22.04.2003, 6 S 9.03, Rn. 8, juris; VGH Kassel Beschluss vom 19.01.1994, 9 TG 161/94, Rn. 7, juris; OVG Hamburg Beschluss vom 08.02.1989, Bs IV 8/89, Rn. 11, juris; SG Darmstadt Beschluss vom 01.11.2006, S 16 SO 115/06 ER, Rn. 32 ff., juris). Die materielle Beweislast für die Absichten des Hilfesuchenden liegt dabei zunächst beim Sozialhilfeträger. Er hat das Vorliegen des Ausschlusstatbestandes zu beweisen. Insoweit ist es aber nicht erforderlich, dem Eingereisten detaillierte Kenntnisse des deutschen Sozialhilferechts nachzuweisen. Allerdings wird zunächst zu verlangen sein, dass der Ausländer die nur in sein Wissen gestellten Gründe für die Ausreise substantiiert und widerspruchsfrei darlegen muss, um dem Sozialhilfeträger und ggf. dem Gericht die Möglichkeit zu geben, zu prüfen, ob der Tatbestand des § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XII erfüllt ist (Treichel in BeckOGK, SGB XII, Stand: 01.03.2024, § 23, Rn. 107 m.w.N.).

 

Gemessen an diesen Voraussetzungen geht der Senat unter Berücksichtigung des Vortrags des Klägers, der durchgeführten Beweisaufnahme und des übrigen Akteninhalts nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§§ 153 Abs. 1, 128 Abs. 1 S. 1 SGG) davon aus, dass der Kläger nach Deutschland eingereist ist, um Sozialhilfe zu erlangen. Soweit der Kläger und seine Familienangehörigen übereinstimmend bekundet haben, dass die Übersiedlung des Klägers und seiner Ehefrau nach Deutschland im Jahr 2020 vor allem deshalb erfolgt sei, weil sie in der Nähe ihrer Kinder leben wollten, steht das dem voranstehenden Ergebnis nicht entgegen. Es handelte sich dabei um ein Motiv, das gegenüber dem prägenden Motiv, zum Zwecke der Inanspruchnahme von Sozialhilfe einzureisen, sehr deutlich in den Hintergrund tritt.

 

Für diese Annahme spricht zunächst, dass der Kläger und seine Ehefrau in einer Situation aktueller Hilfebedürftigkeit in das Bundesgebiet eingereist sind. Sie verfügten nach ihren übereinstimmenden Angaben – mit Ausnahme der kleinen Rente des Klägers in Höhe von ca. 127 Euro monatlich – weder über Einkommen noch Vermögen, wobei sie das Grundeigentum in Bulgarien nicht angegeben haben. Die 3.000 Euro bulgarische Lew, die der Kläger und seine Ehefrau bei der Einreise mitgeführt haben wollen, haben sie nach eigenen Angaben für Schulden ausgegeben. Der Kläger war zum Zeitpunkt der Einreise 67 Jahre alt, seine Ehefrau 64 Jahre alt. Beide verfügten weder über eine höhere Schulbildung oder eine Berufsausbildung noch beherrschten sie die deutsche Sprache. Die Ehefrau des Klägers leidet zudem an Diabetes. Der Kläger hat nach seinen Angaben nach 1989 nicht durchgehend gearbeitet, sondern „privat“ Gelegenheitsjobs übernommen. Eine Aussicht für den Kläger und seine Ehefrau, zeitnah eine Arbeit zu finden und damit den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, kann nach diesen objektiven Tatsachen nicht angenommen werden (vgl. dazu: Hamburgisches OVG Beschluss vom 08.02.1989, Bs IV 8/89, Rn. 11, juris). Der Kläger hat im Rahmen seiner Anhörung im Erörterungstermin am 06.03.2024 selbst zugestanden, dass er und seine Ehefrau zu alt gewesen seien, um noch arbeiten zu gehen. Der Kläger und seine Familienangehörigen haben zwar auch erklärt, es sei beabsichtigt gewesen, dass ihre Kinder sie unterstützen würden. Das ist aber vage geblieben und wurde weder vom Kläger noch von seinen Familienangehörigen konkretisiert. Die Tochter hat bedarfsdeckendes Einkommen durch eine Beschäftigung erzielt, die beiden Söhne haben 2020 aber schon Leistungen nach dem SGB II erhalten, so dass es lebensfremd ist anzunehmen, dass die Kinder sie hätten ausreichend finanziell unterstützen können. Gleiches gilt für die Erklärung des Klägers, er hätte vorgehabt, Pfandflaschen zu sammeln. Wie und wo er das hätte machen können oder wollen und mit wie viel Geld er vor der Ausreise gerechnet hat, hat der Kläger nicht erläutern können. Für ein prägendes Einreisemotiv zum Zwecke der Inanspruchnahme von Sozialhilfe spricht auch der Umstand, dass der Kläger und seine Ehefrau nach den Angaben der Ehefrau am 28.07.2020 nach Deutschland eingereist sind, sich am 12.08.2020 behördlich angemeldet und etwa einen Monat später am 10.09.2020 einen Leistungsantrag beim Jobcenter A. gestellt haben. Dieser noch als eng aufzufassende zeitliche Zusammenhang zwischen Einreise und erfolgter SGB-II-Antragstellung verdeutlicht, dass der Kläger und seine Ehefrau keine Aussichten besaßen, unabhängig von Sozialleistungen in Deutschland zu leben, so dass ihnen klar sein musste, dass sich ihr Wunsch nach einem Leben in Deutschland nur unter Inanspruchnahme öffentlicher Fürsorgeleistungen verwirklichen lasse (vgl. dazu: LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 10.09.2009, L 23 SO 117/06, Rn. 27, juris; OVG Berlin Beschluss vom 22.04.2003, 6 S 9.03, Rn. 8, juris). Für diesen Schluss spricht auch die im Antragsverfahren eingereichte Erklärung des Klägers vom 13.01.2021, wonach er und seine Ehefrau nach Deutschland eingereist seien, weil sie in Bulgarien keine Arbeit mehr gehabt hätten und mit der Rente des Klägers und dem Gehalt seiner Ehefrau als Tagelöhnerin in Bulgarien ihren Lebensunterhalt nicht haben bestreiten können. Die Lebenserhaltungskosten in Bulgarien seien wie die Arbeitslosigkeit enorm gestiegen. Die Ehefrau bekomme keine Jobs mehr angeboten. Der Kläger hat diese Angaben im Rahmen seiner Befragung im Erörterungstermin am 06.03.2024 bestätigt und wiederholt auf die prekäre wirtschaftliche Situation verwiesen. Auch seine Ehefrau hat im Rahmen ihrer Vernehmung am 24.04.2024 erklärt, dass sie wegen ihres Alters keine Arbeit in Bulgarien erhalten habe. Der Senat schließt daraus, dass die Eheleute im Zeitpunkt der Einreise davon ausgegangen sind, auch in Deutschland keine Arbeit zu finden und sich die Möglichkeit der Arbeitstätigkeit der Ehefrau des Klägers erst nach der Einreise ergeben hat. Soweit die Tochter des Klägers im Rahmen ihrer Vernehmung am 06.03.2024 angegeben hat, dass sie ihre Chefin nach einer Arbeit für ihre Mutter gefragt habe, wird das dadurch relativiert, dass ein konkretes Stellenangebot für die Mutter vor der Einreise nicht vorlag und die Mutter nach ihren eigenen Angaben auch nicht deswegen eingewandert ist, sondern weil sie bei ihren Kindern sein wollte. Die Aufnahme der Arbeitstätigkeit zum 01.09.2020 durch die Mutter erfolgte erst später, nachdem – wie die Ehefrau des Klägers im Rahmen ihrer Vernehmung am 24.04.2024 erläutert hat – die Eheleute festgestellt hatten, dass sie als ältere Menschen – anders als in Bulgarien – doch Arbeit finden könnten. Daraus ist im Umkehrschluss zu schlussfolgern, dass dem Kläger und seiner Ehefrau bei der Einreise bewusst gewesen sein muss, dass sie zunächst auf öffentliche Mittel angewiesen sein würden. Aus dem Umstand, dass der Kläger und seine Ehefrau dennoch in dieser Situation in das Bundesgebiet eingereist sind, kann nur geschlossen werden, dass diese die Inanspruchnahme von Sozialleistungen nicht nur billigend in Kauf genommen haben, sondern dies auch in ihrer Absicht lag. Anders ist es nicht zu erklären, dass der Kläger und seine Ehefrau – wie sie zugestanden haben – noch nicht einmal in Erwägungen gezogen haben, das Hausgrundstück in Bulgarien zu veräußern, um damit ihren Lebensunterhalt in Deutschland bestreiten zu können. Der Senat hält die Erklärungen des Klägers und seiner Ehefrau für nicht glaubhaft, sie hätten nicht gewusst, dass sie Sozialleistungen in Deutschland beantragen könnten und darüber mit ihren Kindern nicht gesprochen hätten. Der Kläger hat während seiner Befragung selbst ausgeführt, dass sie ihre Nachbarn, die nach Deutschland ausgewandert waren und zu Besuch nach Bulgarien zurückkamen, nach dem Leben in Deutschland befragt hätten, und dann selbst beschlossen hätten auszuwandern. Dass dabei die Möglichkeit der Beantragung von Sozialleistungen unerwähnt geblieben sein soll, ist lebensfremd und realitätsfern. Die Ehefrau des Klägers hat während ihrer Befragung am 06.03.2024 zumindest erklärt, dass sie von ihrer Schwiegertochter oder ihrem Sohn mitbekommen habe, dass der deutsche Staat ihnen Kindergeld gewähre oder die Miete übernehme. Für die Absicht des Klägers und seiner Ehefrau, den Aufenthalt im Bundesgebiet über die Erlangung von Sozialhilfe sicherzustellen, spricht auch, dass die Medikamente der Ehefrau des Klägers für sie in Bulgarien zu teuer gewesen sein sollen. Mit der Gewährung von Sozialleistungen ist nämlich auch die Möglichkeit des Zugangs zum deutschen Gesundheitswesen aufgrund einer Krankenversicherung verbunden.

 

2. Der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da der Gesetzgeber mit diesen Regelungen verfassungskonform die Nachrangigkeit des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber demjenigen des Herkunftslandes ausgestaltet hat (BSG Urteil vom 29.03.2022, B 4 AS 2/21 R, Rn. 34 ff. m.w.N., juris). Der Leistungsausschluss ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auch als europarechtskonform anzusehen (EuGH Urteil vom 11.11.2014, C-333/13, Dano, juris; EuGH Urteil vom 15.09.2015, C-67/14, Alimanovic, juris). Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 Europäisches Fürsorgeabkommen (EFA) steht einer Anwendung des Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII nicht entgegen. Zwar ist hinsichtlich der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII kein Vorbehalt der Bundesregierung erklärt worden. Aber der Kläger ist bulgarischer Staatsangehöriger und Bulgarien ist kein Unterzeichnerstaat des EFA.

 

II. Der Kläger hat einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen für den Zeitraum vom 10.09.2020 bis 09.10.2020 (dazu 1.). Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Überbrückungsleistungen wegen eines Härtefalls für die Zeit ab dem 10.10.2020 kommt dagegen nicht in Frage (dazu 2.).

 

Gemäß § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII werden hilfebedürftigen Ausländern, die § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII unterfallen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach S. 3. Gemäß § 23 Abs. 3 S. 5 SGB XII umfassen die Überbrückungsleistungen (1.) Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege, (2.) Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe, einschließlich der Bedarfe nach § 35 Abs. 4 und § 30 Abs. 7 SGB XII, (3.) die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und (4.) Leistungen nach § 50 Nr. 1 bis 3 SGB XII (Hilfen bei Schwangerschaft und Mutterschaft). Gemäß § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII werden, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, Leistungsberechtigten nach S. 3 zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Abs. 1 gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist.

 

1. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII liegen für den Zeitraum vom 10.09.2020 bis 09.10.2020 vor. Der Senat geht davon aus, dass der Monatszeitraum im Sinne der voranstehenden Norm nicht mit dem Eingreifen des Leistungsausschlusstatbestands beginnt (so aber: Treichel in BeckOGK, SGB XII, Stand: 01.03.2024, § 23, Rn. 117 m.w.N.; vgl. dazu auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 27.07.2023, L 10 AS 311/19, Rn. 66, juris), was hier der Tag der Einreise (28.07.2020) wäre, sondern der Tag der Kenntnisnahme durch den SGB-XII-Träger (10.09.2020) den Beginn des Monatszeitraums markiert (so im Ergebnis: BSG Urteil vom 13.07.2023, B 8 SO 11/22 R, Rn. 31, juris). Anderenfalls würde der gesetzgeberische Zweck, den Lebensunterhalt des Ausländers bis zur Ausreise zu sichern, in einer Vielzahl von Fällen nicht zum Tragen kommen, weil die Kenntnisnahme des Sozialhilfeträgers oftmals erst später einsetzt als der erste Tag des Vorliegens der Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII und der Ausländer in diesen Fällen keinen Überbrückungsbedarf mehr geltend machen könnte. Die Überbrückungsleistungen setzen dementsprechend keinen Antrag voraus, der Sozialhilfeträger hat diese Leistungen vielmehr gemäß § 18 Abs. 1 SGB XII von Amts wegen zu gewähren, sobald er von den Leistungsvoraussetzungen Kenntnis erlangt (BSG a.a.O.). Für diese Kenntnis der Beklagten kommt es vorliegend auf die ihr zuzurechnende Kenntnis des Jobcenters A. an (st. Rspr., vgl. BSG Urteile vom 03.12.2015, B 4 AS 44/15 R, Rn. 39, juris; und vom 16.12.2015, B 14 AS 15/14 R, Rn. 37, juris). Diese der Beklagten zuzurechnende Kenntnis ist dem Jobcenter A. durch den Antrag des Klägers auf Leistungen nach dem SGB II vom 10.09.2020 vermittelt worden. Das SGB XII kennt im Anwendungsbereich des Kenntnisgrundsatzes – anders als § 37 Abs. 2 S. 2 SGB II und anders als § 44 Abs. 2 S. 1 SGB XII für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – eine Antragsrückwirkung auf den Monatsersten nicht (BSG Urteil vom 12.09.2018, B 14 AS 18/17 R, Rn. 35, juris). Die nach dem SGB XII zu gewährende Überbrückungsleistung kann daher frühestens am 10.09.2020 einsetzen.

 

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Überbrückungsleistungen für einen Monat liegen vor.

 

a. Der Kläger ist bulgarischer Staatsangehöriger und damit Ausländer im Sinne des § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII. Er war im Zeitraum vom 10.09.2020 bis 09.10.2020 vom Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XII erfasst (siehe dazu oben unter Punkt B. I. 1.). Dem Kläger sind in den letzten zwei Jahren vor dem 10.09.2020 auch keine Überbrückungsleistungen gewährt worden.

 

b. Die Gewährung von Überbrückungsleistungen setzt weder einen Ausreisewillen noch eine Ausreisebereitschaft voraus (so nunmehr ausdrücklich: BSG Urteil vom 13.07.2023, B 8 SO 11/22 R, Rn. 27 ff., juris). Der Senat hält an seiner früheren Auffassung, dass der Tatbestand grundsätzlich eine Ausreisebereitschaft voraussetze, nicht mehr fest (vgl. Senatsurteil vom 06.10.2021, L 12 AS 1004/20, Rn. 81 m.w.N., juris; differenzierend für Fälle der faktischen Unmöglichkeit der Ausreise: Senatsbeschluss vom 30.11.2022, L 12 SO 327/22 B ER, Rn. 67, juris).

 

c. Der Kläger war schließlich auch hilfebedürftig.

 

Hinweise auf bedarfsdeckendes Einkommen des Klägers und seiner Ehefrau für die Zeit ab dem 10.09.2020 (§§ 41 Abs. 1, 43 Abs. 1 SGB XII i.V.m. §§ 82 ff. SGB XII) liegen nicht vor. Anhand der vom Kläger vorgelegten Kontoauszüge ergeben sich – mit Ausnahme des Lohns der Eheleute aus den (geringfügigen) Beschäftigungen – keine Hinweise auf Einkommen.

 

Der Senat geht jedoch davon aus, dass es sich bei dem Hausgrundstück der Ehefrau des Klägers in Bulgarien um Vermögen handelt, das auch beim Kläger als Vermögen zu berücksichtigen ist (vgl. §§ 41 Abs. 1, 43 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 90 SGB XII), wegen der Unmöglichkeit der sofortigen Verwertung aber darlehensweise Leistungen zu erbringen sind. Nach § 90 Abs. 1 SGB XII ist das gesamte verwertbare Vermögen einzusetzen. Die Sozialhilfe darf gemäß § 90 Abs. 3 S. 1 SGB XII nicht vom Einsatz oder von der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden, soweit dies für den, der das Vermögen einzusetzen hat, und für seine unterhaltsberechtigten Angehörigen eine Härte bedeuten würde. Ist bei einer – hier vorliegenden – gemischten Bedarfsgemeinschaft (bestehend aus Leistungsberechtigten nach dem SGB II und SGB XII) ein Gegenstand Schonvermögen des SGB-II-Berechtigten nach den Vorschriften des SGB II und ist dieses Vermögen daher von seinem Inhaber nach den Vorschriften des SGB II nicht zu verwerten, liegt auch eine Härte im Sinne des § 90 Abs. 3 S. 1 SGB XII für den SGB-XII-Anspruchsberechtigten vor (vgl. BSG Urteil vom 18.03.2008, B 8/9b SO 11/06 R, Rn. 16, juris). Nach § 12 Abs. 1 SGB II sind als Vermögen alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen. Nach § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB II (in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung, a.F.) ist als Vermögen nicht zu berücksichtigen ein selbst genutztes Hausgrundstück von angemessener Größe oder eine entsprechende Eigentumswohnung. Nicht zu berücksichtigen sind auch Sachen und Rechte, soweit ihre Verwertung offensichtlich unwirtschaftlich ist oder für den Betroffenen eine besondere Härte bedeuten würde (§ 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 6 SGB II, in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung, a.F.).

 

Gemessen an diesen Vorgaben, handelt es sich bei dem Hausgrundstück der Ehefrau des Klägers um zu berücksichtigendes Vermögen im Sinne des SGB II. Die Vermögensfreigrenze für die im Jahr 1956 geborene Ehefrau des Klägers belief sich am 10.09.2020 nach § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und Nr. 4 SGB II (in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung, a.F.) auf 10.350 Euro (9.600 Euro Grundfreibetrag und 750 Euro Freibetrag für notwendige Anschaffungen). Der Wert ihres Grundstücks in Bulgarien übersteigt diesen Wert jedoch bei weitem. Die Ehefrau des Klägers hat das 640 m2 große und eine Wohnfläche von ca. 100 bis 120 m2 aufweisende Hausgrundstück im Jahr 1996 für 305.000 bulgarische Lew erworben, was einem damaligen Wechselkurs von ca. 155.000 Euro entsprach. Selbst wenn man die damals in Bulgarien vorherrschende Hyperinflation berücksichtigt, ergäbe sich nach den Internetrecherchen des Senats ein inflationsbereinigter Wechselkurs von 72.356,06 Euro (vgl. https://fxtop.com/de/wahrungsrechner.php, abgerufen am 23.04.2024). Für einen Wert in dieser Größenordnung spricht, dass die Ehefrau des Klägers nach ihren Angaben im Verhandlungstermin am 24.04.2024 ein älteres Haus sowie ein Appartement verkaufen sowie Erspartes und Geld ihrer Mutter dazugeben musste, um den Kaufpreis begleichen zu können. Der Senat geht davon aus, dass seit dem Erwerb des Grundstücks im Jahr 1996 auch heute mindestens von dem damaligen Grundstückswert auszugehen ist. Dafür spricht, dass das lastenfreie Haus der zwölfköpfigen Großfamilie des Klägers nach wie vor als Ferienhaus dient. Das Haus ist nach Angaben der Ehefrau des Klägers voll funktionsfähig: es verfügt über einen Holzofen und einen Warmwasserboiler, ist an das Stromnetz und die Wasseraufbereitung der örtlichen Gemeinde angeschlossen und auch sonst voll funktionstüchtig. Die Ehefrau des Klägers hat ergänzend angegeben, dass sie das Dach erneuert sowie die Wände verputzt und gestrichen hätten. Selbst wenn man das von der Ehefrau des Klägers angegebene Alter (von ca. 100 Jahren) berücksichtigt, ist von einem Grundstückswert weit oberhalb der Vermögensfreigrenze von 10.350 Euro auszugehen. Eine besonders ins Auge fallende Baufälligkeit des Hauses ist auf den vom Kläger eingereichten Lichtbildern des Hausgrundstücks nicht zu erkennen. Eine solche Baufälligkeit wird auch vom Kläger nicht behauptet, sondern nur, dass es schlicht und mit Lehmziegeln gebaut sei. Für einen oberhalb der Vermögensfreigrenze liegenden Grundstückswert spricht schließlich mittelbar, dass die Ehefrau des Klägers das Haus nicht verkauft hat und verkaufen wollte, weil sie und der Kläger es nach ihren übereinstimmenden Angaben im Verhandlungstermin am 24.04.2024 nach wie vor als das „Zuhause“ der gesamten Familie betrachten.

 

Ein Schutz des Hausgrundstücks vor einer Verwertung nach § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB II a.F. scheidet aus. Der Begriff des Hausgrundstücks ist kein sachenrechtlicher, sondern ein durch die soziale Zielsetzung des SGB II geprägter. Es ist der räumliche Lebensmittelpunkt des Hilfe Nachfragenden, der Einsatzpflichtigen und der Angehörigen. Auch ausländischer Grundbesitz ist grundsätzlich nach § 12 SGB II zu beurteilen, muss aber selbst bewohnt werden (vgl. zum inhaltgleichen § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII: LSG Baden-Württemberg Urteil vom 14.04.2011, L 7 SO 2497/10, Rn. 21, juris). Voraussetzung für die Anwendung der Schutzvorschrift ist, dass der Nachfragende oder eine andere Person der Einstandsgemeinschaft das Hausgrundstück selbst ganz oder teilweise bewohnt. Ein Ferienhaus ist nicht geschützt (BVerwG Beschluss vom 03.05.1989, 5 B 8/89, Rn. 2, juris; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, 2. EL: 2024, § 12, Rn. 404 m.w.N.). Der Kläger und seine Familie nutzen das Hausgrundstück in Bulgarien aber nur als Ferienhaus, wenn sie dort Urlaub machen.

 

Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Verwertung des Hausgrundstücks für die Ehefrau des Klägers eine Härte im Sinne des § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 6 SGB II a.F. bedeuten würde.

 

Dennoch war die Ehefrau des Klägers im Streitzeitraum hilfebedürftig, weil ihr die sofortige Verwertung ihres Hausgrundstücks als zu berücksichtigendes Vermögen nicht möglich war (§ 9 Abs. 4 SGB II). In solchen Fällen hat die Hilfesuchende einen Darlehensanspruch (§ 24 Abs. 5 S. 1 SGB II). Gleiches muss daher auch für den Kläger gelten (§ 91 S. 1 SGB XII).

 

d. Über die konkrete Höhe der dem Kläger darlehensweise zu gewährenden Überbrückungsleistungen hat der Senat keine Entscheidung zu treffen, da der Kläger ausweislich des von ihm gestellten Klageantrags lediglich den Erlass eines Grundurteils gemäß § 130 Abs. 1 S. 1 SGG beantragt hat und weil das Gericht nicht mehr zusprechen darf, als beantragt worden ist (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage, § 130, Rn. 2e).

 

2. Für den Zeitraum ab dem 10.10.2020 hat der Kläger gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung von Überbrückungsleistungen wegen eines Härtefalles. Nach § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 2 SGB XII werden – wie oben erwähnt – Leistungsberechtigten nach § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII Überbrückungsleistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus erbracht, soweit dies im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Es liegen keine besonderen Umstände, keine besondere Härte und keine zeitlich befristete Bedarfslage im Sinne des § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 2 SGB XII vor. Die unbestimmten Rechtsbegriffe der besonderen Umstände und der besonderen Härte zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht für alle oder die überwiegende Mehrzahl der vom Leistungsausschluss betroffenen Personen typisch sind, also über die hiermit typischerweise verbundenen Härten individuelle Besonderheiten hinzutreten (LSG Hamburg Urteil vom 15.12.2022, L 4 AS 350/21, Rn. 32, juris). Eine zeitlich befristete Bedarfslage zeichnet sich dadurch aus, dass es sich um einen voraussichtlich vorübergehenden und nicht um einen dauerhaften Zustand handelt. Diese am Wortlaut orientierte Auslegung wird durch den im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Willen des Gesetzgebers bestätigt, wonach die Härtefallregelung insbesondere in Fällen, in denen im Einzelfall eine Ausreise binnen eines Monats nicht möglich oder nicht zumutbar sei, eingreifen solle, wonach es sich um eine Regelung handele, die für einen begrenzten Zeitraum unzumutbare Härten vermeiden solle, wonach durch die Regelung kein dauerhafter Leistungsbezug ermöglicht werde und wonach von einer Unmöglichkeit der Ausreise insbesondere im Falle einer amtsärztlich festgestellten Reiseunfähigkeit auszugehen sei (BT-Drucks. 18/10211, S. 16 f.). Ausgehend von einer am Wortlaut, an der Entstehungsgeschichte und am Sinn und Zweck der Härtefallregelung orientierten Auslegung sind damit insbesondere Fälle als Härtefall denkbar, in denen eine Ausreise innerhalb eines Monats für einen voraussichtlich vorübergehenden Zeitraum nicht möglich oder nicht zumutbar ist, etwa weil gesundheitliche, familiäre oder andere Gründe von erheblichem Gewicht eine Ausreise nicht zulassen (LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 18.10.2023, L 4 AS 106/20, Rn. 86, juris). Einer der Hauptanwendungsfälle ist dabei die vorübergehende Reiseunfähigkeit (Schleswig-Holsteinisches LSG Beschluss vom 04.05.2018, L 6 AS 59/18 B ER, Rn. 32, juris; Groth in BeckOK SozR, 66. Ed. 01.12.2021, § 23 SGB XII, Rn. 18b). Kein Grund für die Annahme eines Härtefalls i.S.d. § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 2 SGB XII ist dagegen die allgemeine soziale Situation im Herkunftsland (Hessisches LSG Beschluss vom 20.06.2017, L 4 SO 70/17 B ER, Rn. 17, juris). § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII ist auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen dahingehend weit auszulegen, einen Härtefall bereits dann anzunehmen, wenn der Unionsbürger die Vermutung eines Freizügigkeitsrechts für sich in Anspruch nehmen kann und die Ausländerbehörde aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht ergriffen hat. Dies entspräche weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck des Gesetzes, im Einzelfall eine kurzfristige Bedarfslage bis zur Ausreise zu überbrücken (ausführlich dazu: LSG Baden-Württemberg Urteil vom 07.11.2019, L 7 SO 934/19, Rn. 50 ff., juris; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 18.10.2023, L 4 AS 106/20, Rn. 88, juris).

 

Gemessen an diesem Maßstab liegen im hier streitigen Zeitraum ab dem 10.10.2020 keine besonderen Umstände, keine besondere Härte und keine zeitlich befristete Bedarfslage im Sinne des § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 2 SGB XII vor. Denn es liegen keine Gründe vor, die dem Kläger seit diesem Zeitpunkt eine Ausreise unmöglich oder unzumutbar gemacht hätten. Der Kläger macht vielmehr nach eigenen Angaben einmal im Jahr Urlaub in seinem Herkunftsland, sodass eine Härte bereits aus diesem Grund entfällt. Allein die behauptete prekäre wirtschaftliche Lage im Herkunftsland reicht für die Annahme einer Härte nicht aus. Der Kläger hat im Übrigen selbst keine Härte geltend gemacht.

 

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Wegen des nur geringen Obsiegens des Klägers für einen Leistungsmonat hält es der Senat für gerechtfertigt, der Beklagten keine außergerichtlichen Kosten des Klägers aufzuerlegen.

 

D. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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