S 118 VG 54/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 118 VG 54/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Bei Anträgen auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), die vor dem 1. Januar 2024 gestellt wurden und über die bis zum 31. Dezember 2023 nicht bestandskräftig entschieden wurde, ist der Antrag auch nach dem 31. Dezember 2023 auf Leistungen nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG und nicht auf Leistungen nach dem Vierzehnten Buch Sozialgesetzbuch (SGB XIV) zu richten. 2. Die Erhöhung des Grades der Schädigungsfolge wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit (§ 30 Abs. 2 BVG) ist kein selbstständiger Anspruch, sondern lediglich ein Bewertungsmaßstab für den einheitlichen Grad der Schädigungsfolge (GdS) und somit im Rahmen der Prüfung der Höhe des GdS regelmäßig ebenfalls zu prüfen. 3. Der Berufsschadensausgleich (§ 30 Abs. 3 BVG; nunmehr: § 89 SGB XIV) ist ein eigener Anspruch, der neben der Höhe des GdS geltend zu machen ist. Bei einer späteren Klageerweiterung um den Berufsschadensausgleich sind die allgemeinen Prozessvoraussetzungen, insbesondere die Klagefrist, in Bezug auf diese Klageerweiterung zu prüfen. Anknüpfungszeitpunkt für die Prüfung der Klagefrist ist der Zeitpunkt der Klageerweiterung.

GSW

Sozialgericht Berlin

 

 

S 118 VG 54/19

Bild entfernt.

verkündet am
27. Mai 2024

 

 

 

 

 

 

 

Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Rechtsstreit

         ,
 

 

- Kläger -

Proz.-Bev.:

Rechtsanwalt …

gegen

         das Land Berlin vertreten durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin,  

Sächsische Str. 28-30, 10707 Berlin,
 

- Beklagter -

 

 

hat die 118. Kammer des Sozialgerichts Berlin auf die mündliche Verhandlung am 27. Mai 2024 durch den Richter am Sozialgericht … sowie die ehrenamtlichen Richterinnen Frau ... und Frau ... für Recht erkannt:

 

Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin - Versorgungsamt und Hauptfürsorgestelle - vom 2. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin vom 28. Mai 2019 verurteilt, dem Kläger Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz nach einem Grad der Schädigungsfolge in Höhe von 60 ab dem 1. September 2020 zu gewähren.

 

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

 

Der Beklagte trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt die Gewährung von höheren Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

 

Am 28. September 2017 stellte der am 12. Oktober 1961 geborene Kläger bei dem Versorgungsamt Berlin einen Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG aufgrund des Terroranschlags am 19. Dezember 2016 auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Der Kläger war an diesem Tag dort als Besucher. Er wurde zwar selbst nicht von dem Lastwagen angefahren, aber er hat alles erlebt und mitansehen müssen. Im Verwaltungsverfahren wurde der Kläger von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. P. H., begutachtet. Mit Bescheid vom 2. Juli 2018 stellte das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin - Versorgungsamt und Hauptfürsorgestelle - bei dem Kläger als Schädigungsfolge des Attentates auf dem Breitscheidplatz eine psychoreaktive Störung mit einem Grad der Schädigungsfolge (GdS) in Höhe von 30 fest. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger mit Schreiben vom am 29. Juli 2018 (Eingang beim Beklagten am 1. August 2018) Widerspruch. Im Widerspruchsverfahren fertigte Dr. H. ein psychiatrisches Kausalitätsgutachten nach Aktenlage. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 2019 wies das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin den Widerspruch des Klägers zurück.

 

Hiergegen hat der Kläger am 27. Juni 2019 die hiesige Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben. Mit seiner Klagebegründung vom 17. Juli 2020 hat der Kläger ursprünglich beantragt, einen GdS in Höhe von mindestens 70 festzustellen. Zum Berufsschadensausgleich hat der Kläger seinerzeit wie folgt ausgeführt:

 

Im Übrigen hat der Beklagte immer noch nicht ausgeführt, ob er einen Berufsschadensausgleich wegen der noch nicht durchgeführten Reha-Maßnahme ablehnt, oder generell ablehnt. Der Beklagte wird hier nochmals um Stellungnahme gebeten, damit der Antrag gegebenenfalls erweitert werden kann.“

 

Am 28. Juni 2019 hat der Kläger eine weitere Klage vor dem Sozialgericht Berlin wegen der Höhe des bei ihm festgestellten Grades der Behinderung (GdB) erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 113 SB 981/19 registriert wurde. In dem Verfahren S 113 SB 981/19 hat die 113. Kammer des Sozialgerichts Berlin Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. D. T. In seinem Gutachten vom 19. August 2020 kommt der Sachverständige Dr. T. zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger ein GdB in Höhe von 50 besteht, wobei der hierin enthaltene GdS 30 betrage. Hieraufhin hat der Beklagte in dem Verfahren S 113 SB 981/19 bei dem Kläger einen GdB in Höhe von 50 ab dem 15. August 2018 anerkannt. Dieses Teilanerkenntnis hat der Kläger in dem Verfahren S 113 SB 981/19 am 27. August 2021 angenommen. Aufgrund der Einwände des Klägers gegen das Gutachten des Sachverständigen Dr. T. hat die 113. Kammer des Sozialgerichts Berlin den Sachverständigen zu einer ergänzenden Stellungnahme aufgefordert. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 7. November 2021 bleibt der Sachverständige Dr. T. bei seiner Einschätzung. Mit Gerichtsbescheid vom 30. Mai 2022 hat die 113. Kammer die über das angenommene Teilanerkenntnis hinausgehende Klage abgewiesen. Der Kläger hat hiergegen Berufung eingelegt, die beim Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg unter dem Aktenzeichen L 13 SB 152/22 anhängig ist.

 

Der Kläger ist der Auffassung, bei ihm bestünde, unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit, ein GdS in Höhe von mindestens 70 und ihm sei zusätzlich ein Berufsschadensausgleich zu gewähren.

 

Der Kläger beantragt zuletzt,

 

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin - Versorgungsamt und Hauptfürsorgestelle - vom 2. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin vom 28. Mai 2019 zu verurteilen, ihm Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit nach einem Grad der Schädigungsfolge in Höhe von mindestens 70 sowie Berufsschadensausgleich dem Grunde nach ab dem 1. Dezember 2016 zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Der Beklagte ist der Auffassung, die angefochtene Entscheidung sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. In Bezug auf das gerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten von Herrn Dr. B. ist der Beklagte der Auffassung, der Sachverständige würde nicht zwischen den Beeinträchtigungen aus den weiteren von ihm festgestellten schädigungsunabhängigen psychiatrischen Diagnosen und den Beeinträchtigungen aus der von ihm schädigungsbedingt diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) differenzieren. Ferner würde der Sachverständige nicht diskutieren, inwiefern die vom Kläger geschilderten Beschwerden tatsächlich in dem berichteten Ausmaß vorliegen, da der Kläger seine Angaben zu seinen psychiatrischen Vorerkrankungen änderte, frühere stationäre und ambulante psychiatrische-psychotherapeutische Behandlungen gar nicht berichtet, das Ausmaß der Vorerkrankungen bagatellisiert und bspw. erhebliche Krankschreibungen vor der Schädigung verneint. Darüber hinaus fehle es an einer eingehenden, expliziten und nachvollziehbaren Beschwerdevalidierung.

 

Das Gericht hat im hiesigen Verfahren zunächst Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte des Klägers: der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. K. S., der Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, I. B., des Facharztes für Nervenheilkunde, S. R., des Arztes für Neurologie, Dr. B. R., der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus und des Dipl.-Psych. R. R. Sodann hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Facharztes für Nervenheilkunde, Psychiatrie, Psychotherapie, Dr. M. B. Der Sachverständige Dr. B. kommt in seinem Gutachten vom 30. September 2023 zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger bis August 2020 ein GdS in Höhe von 30 bestand und seit September 2020 ein GdS in Höhe von 60 besteht. Aufgrund der Einwände des Beklagten gegen das Gutachten des Sachverständigen Dr. B. hat das Gericht den Sachverständigen Dr. B. zu einer ergänzenden Stellungnahme aufgefordert. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28. Januar 2024 bleibt der Sachverständige Dr. B. bei seiner Einschätzung.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der Gerichtsakte zu Aktenzeichen: S 170 VG 36/22 und des Verwaltungsvorganges des Beklagten verwiesen, die der Kammer vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz - SGG) gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils i. S. des § 130 Abs. 1 SGG (vgl. insoweit Bundessozialgericht (BSG) Urteil vom 15. Dezember 2016 – B 9 V 3/15 R – juris) in Bezug auf die Höhe des GdS, einschließlich der Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit, zulässig und teilweise begründet (hierzu unter A). In Bezug auf den begehrten Berufsschadensausgleich ist die Klage bereits unzulässig (hierzu unter B).

 

A) Der von dem Kläger in Bezug auf die Höhe des GdS geltend gemachte Anspruch richtet sich sowohl bis zum 31. Dezember 2023 als auch nach dem Inkrafttreten von § 13 Vierzehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XIV) zum 1. Januar 2024 nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in der bis zum 31. Dezember 2023 gültigen Fassung. Für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2024 ergibt sich dies aus: § 142 Abs. 2 Satz 1 SGB XIV, wonach über einen bis zum 31. Dezember 2023 gestellten und nicht bestandskräftig beschiedenen Antrag auf Leistungen nach dem BVG oder nach einem Gesetz, das das BVG ganz oder teilweise für anwendbar erklärt, nach dem im Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht zu entscheiden ist.

 

Der Antrag des Klägers richtet sich zutreffend ausschließlich auf Gewährung von Leistungen nach dem OEG i. V. m. dem BVG und nicht, z. B. für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2024, auf die Gewährung von Geldleistungen nach § 144 SGB XIV. Dies ergibt sich bereits aus § 142 Abs. 2 Satz 2 SGB XIV i. V. m. § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB XIV. Nach § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB XIV erhalten Personen, deren Ansprüche nach dem BVG oder nach einem Gesetz, das das BVG ganz oder teilweise für anwendbar erklärt, in der bis zum 31. Dezember 2023 geltenden Fassung bis zum 31. Dezember 2023 bestandskräftig festgestellt sind, diese Leistungen nach dem BVG oder nach dem Gesetz, das das BVG für anwendbar erklärt, in der am 31. Dezember 2023 geltenden Fassung weiter, soweit dieses Kapitel nichts Abweichendes bestimmt. Gemäß § 142 Abs. 2 Satz 2 SGB XIV werden ebenfalls Leistungen nach § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB XIV (d.h. nach dem BVG in der bis zum 31. Dezember 2023 gültigen Fassung) erbracht, wenn im Rahmen der Prüfung eines bis zum 31. Dezember 2023 gestellten und nicht bestandskräftig beschiedenen Antrages auf Leistungen nach dem BVG oder nach einem Gesetz, das das BVG ganz oder teilweise für anwendbar erklärt, ein Anspruch nach dem im Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht festgestellt wird. § 144 SGB XIV enthält keine abweichende Bestimmung zu § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB XIV. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Berechnung der Geldleistung nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGB XIV u.a. anhand einer Addition der einzelnen Leistungen nach dem BVG erfolgt und mithin derartige Leistungen (auch nach dem 1. Januar 2024) voraussetzt. Ein Antrag auf Geldleistungen nach § 144 SGB XIV wäre vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BSG zur erforderlichen Bestimmtheit von Anträgen im Versorgungsrecht auch zu unbestimmt (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 27. September 2018 – B 9 V 2/17 R, juris, dort: Rn. 15). Ein Antrag nach dem Versorgungsrecht muss stets die konkret begehrte Leistung (z. B. Beschädigtenrente, Berufsschadensausgleich) bezeichnen. Die Geldleistung nach § 144 SGB XIV setzt sich jedoch aus einer Vielzahl völlig unterschiedlicher Einzelleistungen nach dem BVG zusammen.

 

Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG besteht aus drei Merkmalen (vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff - sog schädigender Vorgang -, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang (Kausalität) miteinander verbunden sind. Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt die Wahrscheinlichkeit (§ 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 1 Abs. 3 BVG). Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind der Entscheidung hinsichtlich des schädigenden Vorgangs die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind und wenn die Angaben des Antragstellers nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

 

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass der Kläger die Tatbestandsvoraussetzungen von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt. Der Kläger wendet sich im hiesigen Verfahren auch nicht gegen die von dem Beklagten festgestellte Schädigungsfolge, sondern lediglich gegen die von dem Beklagten festgestellte Höhe seines GdS.

 

Rechts- bzw. Bewertungsgrundlage zur Feststellung von Schädigungsfolgen und des GdS ist § 30 Abs. 1 BVG in Verbindung mit der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412). Dies gilt auch nach Inkrafttreten des SGB XIV. Zwar enthält das SGB XIV (anders als das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in § 241 Abs. 5 SGB IX) keine Regelung, die eine Fortgeltung der VersMedV ausdrücklich anordnet, aber der Gesetzgeber hielt eine entsprechende Regelung schlicht für überflüssig. In der Gesetzesbegründung wird insoweit wie folgt ausgeführt (BT-Drs. 19/13824, S. 172):

 

„§ 5 Abs. 2 enthält die neue Verordnungsermächtigung, die an die Stelle der bisherigen Verordnungsermächtigung nach § 30 Abs. 16 BVG tritt. Die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV), die zugleich gemäß § 153 Abs. 2 SGB IX auch für die Bewertung des GdB anzuwenden ist, bleibt erhalten. Sie kann im Hinblick auf Beurteilungsmaßstäbe, die für die Soziale Entschädigung relevant sind, auf Grund der hier neu formulierten Ermächtigung fortgeschrieben und geändert werden. Damit ist wie bisher die einheitliche Beurteilung von Beeinträchtigungen der Teilhabe im Schwerbehindertenrecht und im Sozialen Entschädigungsrecht in einer Rechtsverordnung zu finden. Die auf Grund der bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes gültigen Ermächtigungsgrundlage in § 30 Absatz 16 BVG erlassenen Regelungen gelten weiter, soweit und solange sie nicht von neuen Regelungen auf Grund dieses Gesetzes abgelöst werden. Eine gesamte oder teilweise Neuverkündung der Verordnung ist nicht erforderlich.“

 

Nach der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (Anlageband zum Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 57 vom 15. Dezember 2008, G 5702) „Versorgungsmedizinische Grundsätze“, Teil A: Allgemeine Grundsätze, Nummer 2 Buchst. d) sind die in der GdS-Tabelle aufgeführten Werte aus langer Erfahrung gewonnen und stellen altersunabhängige (auch trainingsunabhängige) Mittelwerte dar. Je nach Einzelfall kann von den Tabellenwerten mit einer die besonderen Gegebenheiten darstellenden Begründung abgewichen werden. Nach der Vorbemerkung zu Teil A wird einheitlich die Abkürzung GdS benutzt, wenn mit dem GdB und dem GdS das Maß für die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gemeint ist. Gemäß Teil A Nummer 3 Buchst. a) VMG verbietet sich bei verschiedenen Einzel-GdS die Anwendung jeglicher Rechenmethoden, das heißt insbesondere die schlichte Addition der Einzel-GdS. Vielmehr ist zu prüfen, inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Schädigungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Schädigungen überschneiden und damit ineinander aufgehen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen ggf. gegenseitig verstärken. Dabei ist gemäß Teil A Nummer 3 Buchst. d) ee) VMG zu berücksichtigen, dass leichte Gesundheitsstörungen, die lediglich einen Einzel-GdS von 10 bedingen, in der Regel nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigungen führen. Darüber hinaus ist es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdS von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderungen zu schließen.

 

Nach diesen Maßstäben besteht bei dem Kläger zur Überzeugung der Kammer seit dem 1. September 2020 ein GdS in Höhe von 60, der sich aus folgendem Einzel-GdS zusammensetzt:

 

  • Funktionssystem: Gehirn, einschließlich Nervensystem und Psyche = Einzel-GdS 60
    • Psychoreaktive Störung in Form einer PTBS (60 - Teil B Nr. 3.7 VMG)

 

Dieses Ergebnis ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus dem nachvollziehbaren Gutachten des Sachverständigen Dr. B. vom 30. September 2023 sowie seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28. Januar 2024. Zu den Einwendungen des Beklagten gegen sein Gutachten hat der Sachverständige Dr. B. wie folgt ausgeführt:

 

Zunächst wird darauf hingewiesen, dass vor dem Hintergrund der Erfahrungen in mehr als dreißigjähriger gutachterlicher Tätigkeit in den Bereichen Rente, Schwerbehinderung und gesetzlicher Unfallversicherung die Exploration des KI. aufgrund seiner massiven psychophysischen Anspannung sehr bemerkenswert verlief und der KI. auf dem Boden des klinischen Eindrucks im Spektrum der affektiven, somatoformen und erlebnisreaktiven Störungen den symptomatisch und funktional schwer gestörten Klienten zuzuordnen ist. Dieser Eindruck deckt sich sowohl mit den Darstellungen im Gutachten des Dr. Trostdorf als auch mit den Darstellungen zur Anamnese und dem Aufnahmebefund im Arztbrief der W.-Klinik. Insofern kann keine wesentliche Inkonsistenz der Beschwerdeschilderung gegenüber neuen Untersuchern in den letzten Jahren begründet werden.

Hinsichtlich der psychiatrischen Komorbidität wurde im Gutachten auf die Problematik der Abgrenzbarkeit weiterer psychischer Störungen bei einem derartigen Erregungsniveau und Ausprägungsgrad der PTBS wie der beim KI. bestehenden hingewiesen. Seine Symptomatik erfüllt formal die Kriterien eines depressiven Syndroms, die sich jedoch in den wesentlichen Symptombereichen (Stimmung, Antrieb, Emotionalität, Denkinhalte) mit der Symptomatik der PTBS überschneidet. Zudem ist schwer abgrenzbar, inwiefern die Auswirkungen des individuellen Störungsverlaufs der PTBS im Falle des KI. in Form des Verlusts der sozialen Integration und der Frustration im Zuge der Auseinandersetzungen um Entschädigung eine depressive Reaktion mitbedingen. Die Befundberichte zu psychischen Störungen vor dem Ereignis enthalten Diagnosen phasenhafter Verstimmungen (Zyklothymia, Bipolare effektive Störung). Demgegenüber ist nahezu allen Befundberichten und Gutachten nach dem Ereignis mit Ausnahme denen der Psychotherapeutin Fr. Berndt die Diagnose eines depressiven Syndroms zu entnehmen, so dass eine mit Fluktuationen anhaltende depressive Störung anzunehmen ist. Aufgrund der Veränderungen des Charakters, der ursächlichen Faktoren und des Verlaufs der affektiven Störung kann somit das aktuell diagnostizierte depressive Syndrom nicht mehr auf die als Schadensanlage zu bewertenden prätraumatischen depressiven Episoden bezogen werden, sondern es ist als zumindest mittelbar ereignisbedingt zu bewerten.

Eine Agoraphobie konnte anlässlich der gutachtlichen Untersuchung nicht festgestellt werden, das ausgeprägte Erregungsniveau und das ausgeprägte Vermeidungsverhalten des KI. sind als Symptome der PTBS aufzufassen. Ebenso wurde begründet, dass eine Persönlichkeitsstörung nicht festgestellt werden kann. Eine Persönlichkeitsakzentuierung kann nicht nach der ICD-10 klassifiziert werden, da die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung nicht vollständig erfüllt werden. Auf die Übereinstimmung der diagnostischen Bewertung mit der der Behandler in der W.-Klinik wurde hingewiesen.

Somit kann ein Fortbestehen der prätraumatischen Störungen nicht belegt werden. Diese sind als Vorschaden zu bewerten, der die Traumaverarbeitung erheblich behindert und determiniert, jedoch nicht als parallel bestehende psychische Störung abgrenzbar ist. Offensichtlich aufgrund der Schwierigkeiten der diagnostischen Einordnung und der eigentümlichen individuellen Ausgestaltung des Störungsbildes enthielt sich der Vorgutachter Dr. T. einer konkreten ICD-10-Diagnose.

Hinsichtlich der widersprüchlichen Angaben des KI. in den verschiedenen Gutachten und Befundberichten und der Annahme einer Beschwerdezunahme im Verlauf ist zunächst zu betonen, dass Erinnerung nicht statisch ist, sondern sich typischerweise über die Zeit und je nach situativer Gegebenheit verändert. Gerade die unterschiedliche Darstellung von Details gegenüber verschiedenen Untersuchungen stellt im Sinne eines Realkennzeichens ein Validitätsargument dar, eine stets gleiche Wiedergabe würde auf eine intendierte Darstellung hinweisen.

Die Beschwerdezunahme im Zeitverlauf ist aufgrund der Eigendynamik der psychischen Störung, des erheblichen Vorschadens und den Behandlungsversäumnissen plausibel, der im Gutachten angenommenen Schweregrad der psychischen Störung deckt sich im Wesentlichen mit den Schilderungen im Gutachten des Dr. T. und im Entlassungsbericht der W.-Klinik. Mit den vorübergehenden, positiven Therapieeffekten lässt sich lediglich eine nicht völlig negative Prognose begründen, nicht jedoch ein anhaltend hohes Funktionsniveau.

Die Einschätzung des GdS wurde anhand der Kriterien der Versorgungsmedizinischen Grundsätze vorgenommen. Mittelschwere soziale Anpassungsschwierigkeiten setzen nicht voraus, dass jemand nicht allein leben und sich nicht allein versorgen kann oder eine Betreuung erforderlich ist, sondern dass die weitere berufliche Tätigkeit sehr stark gefährdet oder ausgeschlossen ist sowie schwerwiegende Probleme in der Familie oder im Freundes- bzw. Bekanntenkreis, bis zur Trennung von der Familie, vom Partner oder Bekanntenkreis bestehen. Dies ist beim KI. zweifellos gegeben. Im Gutachten wurde eine klinische Konsistenzprüfung, angelehnt an die Vorschläge von Philipp vorgenommen. Hinsichtlich der von der versorgungsärztlichen Kollegin dringend angeratenen Durchführung einer Beschwerdevalidierung wird auf die bisher nicht revidierte Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde Nr. 3 vom 28. Januar 2011 zur Anwendung von Beschwerdevalidierungstests in der psychiatrischen Begutachtung hingewiesen. In dieser wird ausgeführt, dass aus einer Reihe von Gründen mit einem Beschwerdevalidierungstest weder Aggravation noch Simulation objektiv nachgewiesen werden kann und der Einsatz solcher Verfahren nur ein Mosaikstein einer umfassenden gutachtlichen Gesamtschau darstellt. Im Fall des KI. wäre ein Beschwerdevalidierungsverfahren, das sich auf die Untersuchung neurokognitiver Störungen stützt, aufgrund seiner ausgeprägten gedanklichen Sprunghaftigkeit und Einengung (was in seinem Fall keinen Widerspruch in sich darstellt) nur mit großer Vorsicht interpretierbar. Da aus der Sicht des Gutachters keine erheblichen Zweifel an der klinischen Konsistenz der Angaben des KI. bestanden, wurde auf die Durchführung eines psychologischen Beschwerdevalidierungsverfahrens verzichtet.“

 

Ergänzend zu den vorstehenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. hat die Kammer ohnehin erhebliche Bedenken gegen die versorgungsmedizinische Stellungnahme zu dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B. Diese Stellungnahme ist von bemerkenswerter Einseitigkeit. Sie erschöpft sich auf 19 Seiten in dem Versuch, das Ergebnis des Sachverständigen Dr. B. in Zweifel zu ziehen. Es entsteht der Eindruck, dass sie lediglich mit dieser Maßgabe erstellt wurde und nicht mit der Maßgabe, eine ausgewogene versorgungsmedizinische Stellungnahme zu dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B. anzufertigen. Diese versorgungsmedizinische Stellungnahme wird dem - auch für den Beklagten geltenden - Amtsermittlungsgrundsatz (§ 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X) nicht gerecht, denn gemäß § 20 Abs. 2 SGB X hat die Behörde auch die die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen. Auf 19 Seiten versorgungsmedizinischer Stellungnahme geht die Versorgungsmedizinerin auf keinen für den Kläger begünstigenden Umstand ein, obwohl der Sachverständige Dr. B. (im Gegensatz zu der Versorgungsmedizinerin) die begünstigenden und nicht begünstigenden Umstände ausführlich beschreibt, begrenzt sich die versorgungsmedizinische Stellungnahme auf die nicht begünstigenden Umstände. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um (vermeintlich qualifizierten) Parteivortrag handelt, dürfte eine derartige Stellungnahme auch mit wissenschaftlichen Standards nicht im Einklang stehen.

 

Es ist zur Überzeugung der Kammer insbesondere zu berücksichtigen, dass der Sachverständige Dr. B. von einer Verschlechterung seit dem September 2020 ausgeht. Die Begutachtung im Verwaltungsverfahren erfolgte im Mai 2018. Selbst ohne psychiatrische Ausbildung war für die Kammer in dem Termin zur mündlichen Verhandlung ohne weiteres erkennbar, dass sich die derzeitige psychiatrische Situation des Klägers sehr von der im Verwaltungsverfahren festgestellten psychiatrischen Situation unterscheidet. Es ist daher nicht nachvollziehbar, mit welcher Vehemenz die Ergebnisse des Sachverständigen Dr. B., die auf einer dreistündigen fachpsychiatrischen Untersuchung des Klägers in seiner jetzigen Verfassung beruhen, von einer Versorgungsmedizinerin in Zweifel gezogen werden, die den Kläger nie gesehen hat. Unter Berücksichtigung der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. B. und den vorstehenden Ausführungen vermag die versorgungsmedizinische Stellungnahme das Ergebnis des Sachverständigen Dr. B. zur Überzeugung der Kammer daher nicht ansatzweise in Zweifel ziehen.

 

Entgegen der Auffassung des Klägers ist der bei ihm festgestellte GdS nicht wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit gemäß § 30 Abs. 2 höher zu bewerten. Zwar ist eine Erhöhung des GdS aufgrund einer besonderen beruflichen Betroffenheit auch im Rahmen des OEG möglich und beschränkt sich nicht auf Fälle der Kriegsopferversorgung (vgl: BSG, Urteil vom 18. November 2015 – B 9 V 1/14 R, juris, dort: Rn. 35) und die besondere berufliche Betroffenheit ist im Rahmen der Prüfung des GdS regelmäßig ebenfalls zu prüfen, da sie (anders als z. B. der Berufsschadensausgleich; insoweit s. u.) kein selbstständiger Anspruch ist, sondern lediglich einen Bewertungsmaßstab für den einheitlichen GdS darstellt (BSG, Urteil vom 31. Juli 1975 – 9 RV 164/74 –, juris, dort: Rn. 11). Bei dem Kläger liegen jedoch die Voraussetzung für eine Erhöhung seines GdS wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit nicht vor.

 

Nach § 30 Abs. 2 Satz 1 BVG ist der Grad der Schädigungsfolgen höher zu bewerten, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen im vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, im nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen sind, der nach Eintritt der Schädigung ausgeübt wurde oder noch ausgeübt wird. Dies ist gemäß § 30 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 - 3 BVG insbesondere der Fall, wenn (1) auf Grund der Schädigung weder der bisher ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte noch ein sozial gleichwertiger Beruf ausgeübt werden kann, (2) zwar der vor der Schädigung ausgeübte oder begonnene Beruf weiter ausgeübt wird oder der nachweisbar angestrebte Beruf erreicht wurde, Beschädigte jedoch in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Ausmaß als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert sind, oder (3) die Schädigung nachweisbar den weiteren Aufstieg im Beruf gehindert hat.

 

Nach der Rechtsprechung des BSG sind die Tatbestände des § 30 Abs. 2 Satz 2 BVG nur beispielhaft aufgeführt und stellen Erläuterungen für den in § 30 Abs. 2 Satz 1 BVG allgemein zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers dar, eine Höherbewertung des Grades des GdS vorzunehmen, wenn der Beschädigte in seinem Beruf besonders betroffen ist. In sämtlichen in Satz 2 genannten Fällen steht dem Beschädigten eine Erhöhung des Grades des GdS daher nur zu, wenn die in diesen Tatbeständen beschriebenen beruflichen Nachteile ihn subjektiv „besonders“ treffen, weil sie in sozialer oder wirtschaftlicher Hinsicht das Maß der Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben erheblich übersteigen (vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 1969 - 10 RV 561/66 - juris, dort: Rn. 25). Ein erheblicher wirtschaftlicher Nachteil als Ausdruck einer besonderen Berufsbetroffenheit liegt im Regelfall nur dann vor, wenn der (schädigungsbedingte) Minderverdienst etwa 20 Prozent erreicht oder wenn wegen der geringen Höhe des Einkommens dennoch der Minderverdienst von erheblicher Bedeutung für den Betroffenen ist (vgl. hierzu und zum Folgenden BSG, Urteil vom 15. Dezember 1977 - 10 RV 19/77 - juris, dort: Rn. 17 - 19). Insgesamt kommt ein Zuschlag beim GdS um mehr als 10 nur in Betracht, wenn die berufliche Schädigung „außergewöhnlich groß“ ist. Dabei verbietet sich aber eine rein prozentuale, am Verdienstausfall orientierte Betrachtung, weil ein besonderes berufliches Betroffensein auch dann vorliegen kann, wenn der Beschädigte zwar seinen früheren Beruf trotz der Schädigung weiterhin ausübt und dabei keinen Minderverdienst gegenüber gesunden Angehörigen dieses Berufes hat, seine Arbeit jedoch nur unter außergewöhnlicher Energie und/oder Gefährdung seiner Gesundheit weiterverrichten kann (vgl. hierzu: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10. Mai 2012 – L 11 VE 47/09 –, juris, dort: Rn. 85). Im Rahmen des § 30 Abs. 2 BVG und insbesondere bei der Erhöhung des GdS um mehr als 10 ist daher eine rein schematische Erhöhung nicht zulässig. Vielmehr ist die Frage, ob die berufliche Schädigung außergewöhnlich groß ist und der Beschädigte besonders hart betroffen wird, unter Würdigung aller Umstände zu beurteilen, wobei der Gesetzgeber durch die Regelung des § 30 Abs. 2 BVG die Voraussetzungen für eine höchst individuelle Behandlung des einzelnen Beschädigten geschaffen hat. Bei dieser Gesamtschau sind die wirtschaftlichen und sonstigen Nachteile des Beschädigten, das Ausmaß der Schädigungsfolgen, der Zwang zum Berufswechsel oder zur Aufgabe jeder Erwerbstätigkeit, der berufliche Werdegang und eine etwaige Verhinderung eines weiteren Aufstiegs im Beruf, der vor der Schädigung ausgeübte und der derzeitige Beruf, die schädigungsbedingte Verdiensteinbuße in ihrem betragsmäßigen und prozentualen Wert, aber auch die Höhe des GdS nach § 30 Abs. 1 BVG zu berücksichtigen. Auch sind neben dem Alter und den persönlichen und beruflichen Verhältnissen des Betroffenen insbesondere seine Einkommensverhältnisse zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil vom 14. März 1975 - 10 RV 189/74 - juris, dort: Rn. 17). So kann etwa der Zwang zur Aufgabe jeder Erwerbstätigkeit infolge der Schädigungsfolgen zu einer außergewöhnlichen beruflichen Schädigung führen (vgl. hierzu LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10. Mai 2012 – L 11 VE 47/09 –, juris, dort: Rn. 86). Der Ursachenzusammenhang zwischen den Schädigungsfolgen und der besonderen beruflichen Betroffenheit und dem beruflichen Schaden nach § 30 Abs. 3 BVG ist nach den gleichen Grundsätzen zu beurteilen, wie der der haftungsbegründenden und -ausfüllenden Kausalität. Für den Anspruch auf besondere berufliche Betroffenheit und Berufsschadensausgleich genügt es dabei, wenn die Schädigungsfolgen allein oder aber im Vergleich mit den Nichtschädigungsfolgen und anderen schädigungsunabhängigen Umständen etwa gleichwertig zu dem Erfolg beigetragen haben. Kommt dagegen einer Nichtschädigungsfolge eine überragende Bedeutung für den Erfolg zu, so ist dieser nicht schädigungsbedingt im Rechtssinne, denn die Nichtschädigungsfolge verdrängt die anderen und ist allein als Ursache im Rechtssinne anzusehen. Im Einzelfall muss die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinne als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. zu alledem: LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 12. Dezember 2018 – L 3 VE 18/12 –, juris, dort: Rn. 47).

 

Unter diesen Maßstäben vermag die Kammer eine besondere berufliche Betroffenheit des Klägers nicht zu erkennen. Bereits in dem Reha-Entlassungsbericht des Reha-Zentrum B. K. vom 8. November 2011 wird beschrieben, dass der Kläger seit dem erfolgreichen Abschluss seiner Umschulung im Jahr 2005 durchgehend arbeitsunfähig, vorwiegend aus psychischen Gründen, war. Diese (praktisch dauerhafte) Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Klägers bereits vor dem schädigenden Ereignis wird auch durch die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. K. S., bestätigt, die in den Jahren vor dem schädigenden Ereignis wiederholt gegenüber dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen zum Ausdruck brachte, dass das Leistungsvermögen des Klägers ihrer Einschätzung nach dauerhaft aufgehoben sei. Zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses war der Kläger in seinem Beruf als Alten-/Krankenpfleger wiederum bereits seit dem 21. Juli 2016 (also bereits seit knapp fünf Monaten) durchgehend krankgeschrieben.

 

B) Die Klage ist in Bezug auf den begehrten Berufsschadensausgleich bereits unzulässig. Anders als bei der besonderen beruflichen Betroffenheit handelt es sich bei dem Berufsschadensausgleich um einen eigenen Anspruch (so auch: LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 24. Januar 2017 – L 6 VH 789/15 –, juris, dort: Rn: 67). In Bezug auf den Berufsschadensausgleich ist die Klagefrist verstrichen. Zwar hat der Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid vom 2. Juli 2018 in Ziffer III. der Begründung über den Berufsschadensausgleich ablehnend entschieden und die Zurückweisung des Widerspruchs des Klägers in dem Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 2019 dürfte nach dem Prinzip der Meistbegünstigung auch die Ablehnung des Berufsschadensausgleiches erfasst haben, jedoch wurde mit der Klagebegründung vom 17. Juli 2020 ausschließlich ein GdS in Höhe von 70 beantragt. Der Berufsschadensausgleich sollte dementsprechend zu diesem Zeitpunkt nicht Klagegegenstand sein. Vielmehr wurde seinerzeit ausdrücklich eine gegebenenfalls beabsichtigte Erweiterung des Klageantrages angekündigt. Angesichts dieser Ankündigung ist es nicht möglich den seinerzeitigen Klageantrag als auch gegen die Ablehnung des Berufsschadensausgleichs gerichteten Antrag auszulegen. Bei dem nunmehr geltend gemachten Berufsschadensausgleich handelt es sich um einen eigenen Streitgegenstand, so dass das Gericht von Amts wegen insoweit die Prozessvoraussetzungen prüfen muss. Für die Klagefrist ist hierbei auf den Zeitpunkt der Klageänderung abzustellen (vgl. zu alledem: B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 14. Auflage 2023, § 99, Rn. 13a). Die einmonatige Klagefrist von § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG war zum Zeitpunkt der Antragstellung in Bezug auf den Berufsschadensausgleich (frühestens mit Schriftsatz vom 12. Mai 2024) offenkundig verstrichen. Lediglich ergänzend merkt die Kammer an, dass die Voraussetzungen für einen Berufsschadensausgleich (vgl. § 30 Abs. 3 BVG), insbesondere eine Einkommensminderung, angesichts der obigen Ausführungen zur besonderen beruflichen Betroffenheit ohnehin nicht vorliegen dürften.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Zwar handelt es sich bei der eingetretenen Veränderung der Sachlage um eine Änderung nach Erlass des Widerspruchsbescheides, jedoch kann auch in einem solchen Fall das Veranlassungsprinzip herangezogen werden z. B., wenn der Verwaltungsträger einer tatsächlichen Veränderung unverzüglich nach Kenntnis Rechnung trägt (vgl. B. Schmidt, in: a.a.O., § 193, Rn. 12c). Vorliegend hat der Beklagte einer Veränderung der Sachlage gerade nicht Rechnung getragen, so dass es zur Überzeugung der Kammer angemessen ist, den Beklagten die Hälfte der notwendigen Kosten des Klägers aufzuerlegen.

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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