Wird den Beteiligten die beglaubigte Abschrift eines ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteils zugestellt, die in der Formulierung des Kostentenors von der beschlossenen Urteilsformel und von der vom Kammervorsitzenden unterschriebenen Urschrift des schriftlichen Urteils abweicht und die - anders als die Urschrift - weder einen Tatbestand noch Entscheidungsgründe enthält, liegt ein sog. Scheinurteil vor. Dieses ist aufzuheben.
Auf die Berufung der Klägerin wird das als „Urteil“ bezeichnete Scheinurteil des Sozialgerichts Halle vom 14. März 2024 aufgehoben. Die Sache wird an das Sozialgericht Halle zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des zweiten Rechtszugs bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts Halle vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streitigen über die Erstattung der Kosten eines Widerspruchsverfahrens.
Die Klägerin bezog Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom Beklagten. Mit einem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid machte dieser gegen sie eine Forderung i.H.v. 142,35 € geltend. Die Bundesagentur für Arbeit mahnte diese Forderung namens des Beklagten mit Bescheid vom 9. Januar 2020 an und setzte eine Mahngebühr i.H.v. 5,00 € fest. Dagegen legte die Klägerin, anwaltlich vertreten, Widerspruch ein. Daraufhin hob die Bundesagentur für Arbeit den Bescheid auf, sagte die Übernahme der außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu und erklärte die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts für notwendig.
Mit Kostenfestsetzungsbescheid vom 15. April 2020 setzte die Bundesagentur für Arbeit die zu erstattenden Kosten auf insgesamt 142,80 € fest. Damit blieb sie hinter der Kostennote des Prozessbevollmächtigten der Klägerin zurück. Diese belief sich auf 154,70 €. Der Widerspruch der Klägerin gegen die Kostenfestsetzung blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 2020).
Am 30. Juni 2020 hat die Klägerin beim Sozialgericht (SG) Halle Klage gegen die Bundesagentur für Arbeit erhoben. Während des Klageverfahrens hat die Bundesagentur für Arbeit angezeigt, dass am 1. Januar 2022 für sie der jetzige Beklagte im Wege eines gesetzlichen Beteiligtenwechsels in das Verfahren eingetreten sei. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Am 18. März 2024 ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin die beglaubigte Abschrift eines klageabweisenden „Urteils“ zugestellt worden. Ausweislich des Rubrums bzw. des Übergangssatzes zum Tenor war es am 14. März 2024 ohne mündliche Verhandlung vom Kammervorsitzenden sowie zwei ehrenamtlichen Richtern gefällt worden. Der Kostentenor lautet: „Kosten sind nicht zu erstatten“. Der Tatbestand dieses „Urteils“ besteht nur aus den Angaben: „Die Klägerin beantragt,“ und „Der Beklagte beantragt,“ sowie einem allgemein gehaltenen Verweis auf die Gerichtakte und die Verwaltungsakten. Unter der Überschrift „Entscheidungsgründe“ finden sich keine weiteren Ausführungen. Das fünf Seiten umfassende Dokument endet mit einer Rechtsmittelbelehrung, wonach die Nichtzulassung der Berufung mit der Beschwerde angefochten werden könne, der Wiedergabe der Unterschrift des Kammervorsitzenden sowie einem Beglaubigungsvermerk der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle.
Am 18. April 2024 hat die Klägerin beim Landessozialgericht (LSG) Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und u.a. das Fehlen von Tatbestand und Entscheidungsgründen gerügt. Nachdem der Beklagte auf Nachfrage des Berichterstatters mitgeteilt hatte, eine ebensolche beglaubigte Abschrift erhalten zu haben, hat der Senat mit Beschluss vom 30. April 2024 die Berufung zugelassen.
Die Beteiligten haben im Berufungsverfahren keine Anträge formuliert. Sie haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter einverstanden erklärt.
Der Senat hat die Prozessakte des SG beigezogen. Dort findet sich eine vom Kammervorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern unterschriebene Urteilsformel, die in der Formulierung des Kostentenors von der beglaubigten Abschrift abweicht („Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten“). Weiter findet sich dort ein vollständiges (mit Tatbestand und Entscheidungsgründen versehenes), insgesamt acht Seiten umfassendes und vom Kammervorsitzenden unterschriebenes schriftliches Urteil. Dessen Tenor entspricht der von den Kammermitgliedern unterzeichneten Urteilsformel.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung und gemäß § 155 Abs. 3, Abs. 4 SGG durch den Berichterstatter als Einzelrichter, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben und keine Umstände vorliegen, die gegen ein solches Vorgehen sprechen.
Gegenstand der Berufung ist das den Beteiligten in Gestalt beglaubigter Abschriften zugestellte „Urteil“ des SG Halle vom 14. März 2024. Dabei handelt es sich um ein sog. Scheinurteil, also ein Dokument, das nur den äußeren Anschein einer gerichtlichen Entscheidung hat, aber nicht wirksam vom Gericht erlassen worden ist.
Ein Urteil, das nicht aufgrund mündlicher Verhandlung ergeht, wird gemäß § 133 Satz 1 SGG durch Zustellung verlautbart und damit wirksam. Fehler bei der Zustellung führen nur dann zur Unwirksamkeit der Entscheidung, wenn grundlegende Vorschriften verletzt werden. Wird z.B. fälschlich nur der Urteilstenor statt des vollständigen Urteils zugestellt, hindert dies nicht die Wirksamkeit der Entscheidung, sondern führt lediglich dazu, dass die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt wird (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 133 Rn. 4). Anders verhält es sich dagegen bei schwerwiegenden Mängeln der zugestellten Urteilsabschrift, etwa wenn diese in wesentlichen Punkten von der Urschrift abweicht. In diesem Fall ist die Zustellung unwirksam (vgl. Keller, a.a.O., § 63 Rn. 20).
So liegt es hier. Die Abschriften eines „Urteils“ vom 14. März 2024, die den Beteiligten zugestellt worden sind, geben ausweislich der Prozessakte nicht die von der Kammer an diesem Tag tatsächlich getroffene Entscheidung wieder. Es handelt sich nicht um die beschlossene Urteilsformel, die lediglich ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe versandt worden wäre, sondern um einen gänzlich anderen Text. Das wird vor allem bei der Formulierung des Kostentenors deutlich. Sowohl in der von allen beteiligten Richtern unterschriebenen Urteilsformel als auch in der vom Vorsitzenden unterschriebenen Urschrift des schriftlichen Urteils lautet er: „Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten“, in den zugestellten Abschriften dagegen: „Kosten sind nicht zu erstatten“. Auch wenn beide Formulierungen dieselbe Bedeutung haben, handelt es sich doch um unterschiedliche Texte. Auch der Übergangssatz vom Rubrum zum Tenor weicht in den Abschriften geringfügig von der in der Akte befindlichen Urschrift ab. In der Gesamtschau mit dem völligen Fehlen von Tatbestand und Entscheidungsgründen handelt es sich bei den zugestellten Abschriften um gänzlich andere Texte als bei der Urschrift des tatsächlich gefällten Urteils. Dieses tatsächlich gefällte Urteil ist mangels Verlautbarung noch nicht wirksam geworden (vgl. dazu Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 22. April 2008 – B 1 SF 1/08 R – juris Rn. 47).
Auch wenn von dem zugestellten Scheinurteil keine Rechtswirkungen ausgehen, ist dagegen das Rechtsmittel statthaft, das gegen ein rechtsfehlerfreies Urteil gleichen Inhalts gegeben wäre, um den von dem wirkungslosen „Urteil“ ausgehenden Rechtsschein zu beseitigen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 2. Januar 2019 – L 7 SB 30/18 – juris Rn. 21; Keller, a.a.O., § 143 Rn. 2a). Dies ist, nachdem der Senat sie mit Beschluss vom 30. April 2024 zugelassen hat, die Berufung.
Auf die Berufung der Klägerin ist das Scheinurteil aufzuheben und die Sache an das SG zurückzuverweisen (vgl. Bundesgerichtshof [BGH], Beschluss vom 3. November 1994 – LwZB 5/94 – juris Rn. 5; Bayerisches LSG, Urteil vom 21. März 2012 – L 19 R 97/12 – juris Rn. 17).
Das SG hat auch über die Kosten des zweiten Rechtszugs zu entscheiden.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.