§ 141 Abs. 2 SGB III ist auch dann anwendbar, wenn die fehlende Dienstbereitschaft der Agentur für Arbeit zwar nicht objektiv, wohl aber in der Vorstellung des Arbeitslosen bestand, und die Agentur für Arbeit diese falsche Vorstellung zu verantworten hat (hier: Vergabe eines zu späten Vorsprachetermins in Verkennung des Beginns der Arbeitslosigkeit).
Der Bescheid vom 21. Juli 2022 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 5. Oktober 2022 und des Widerspruchsbescheids vom 6. Oktober 2022 wird abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger auch für den Zeitraum vom 1. bis zum 24. Mai 2022 Arbeitslosengeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Die Berufung wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist der Beginn eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld (Alg) streitig.
Dem 1959 geborenen Kläger kündigte seine Arbeitgeberin mit Schreiben vom 28. April 2022, zugegangen am 30. April 2022, ordentlich betriebsbedingt zum 31. Mai 2022 und stellte ihn ab dem 1. Mai 2022 unwiderruflich frei. Arbeitsentgelt zahlte sie nicht mehr. Mit Beschluss vom 1. Mai 2022 eröffnete das Amtsgericht Gera das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeitgeberin.
Am 2. Mai 2022 meldete sich der Kläger bei der Beklagten unter Vereinbarung eines Termins zur persönlichen Arbeitslosmeldung am 25. Mai 2022 telefonisch arbeitsuchend. Am 25. Mai 2022 sprach er persönlich bei der Beklagten vor und beantragte Alg.
Mit Bescheid vom 21. Juli 2022 bewilligte die Beklagte dem Kläger Alg mit einer Anspruchsdauer von 459 Tagen für den Zeitraum vom 1. Juni 2022 bis zum 9. September 2023 in Höhe von 28,51 € kalendertäglich.
Hiergegen erhob der Kläger am 25. Juli 2023 Widerspruch. Mit Änderungsbescheid vom 5. Oktober 2022 bewilligte die Beklagte bereits ab 25. Mai 2022 Alg bis 2. September 2023. Mit Widerspruchsbescheid vom Folgetag wies sie den Widerspruch im Übrigen als unbegründet zurück.
Am 3. November 2022 hat der Kläger Klage erhoben.
Mit Bescheid vom 24. April 2023 hat die Beklagte die Bewilligung ab 12. April 2023 wegen des Beginns einer Reha-Maßnahme aufgehoben. Seitdem hat der Kläger kein Alg mehr bezogen.
Klagebegründend trägt der Kläger vor: Er habe sich bereits am 2. Mai 2022 telefonisch arbeitslos gemeldet und die Kündigung verlesen. Spontane persönliche Vorsprachen seien coronabedingt nicht möglich gewesen und die Vorsprache auf den 25. Mai 2022 vereinbart worden. Es habe auch nicht die Möglichkeit bestanden, zeitiger eine persönliche Arbeitslosmeldung vorzunehmen. Dies sei von der Beklagten abgelehnt worden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 21. Juli 2022 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 5. Oktober 2022 und des Widerspruchsbescheids vom 6. Oktober 2022 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm auch für den Zeitraum vom 1. bis zum 24. Mai 2022 Alg in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung trägt sie insbesondere vor: Der Kläger habe erstmals bei der persönlichen Vorsprache erklärt, seit dem 1. Mai 2022 von der Arbeit freigestellt zu sein. Ein Anspruch auf Alg bestehe erst ab der persönlichen Arbeitslosmeldung. Letztere sei die Erklärung der Tatsache der Arbeitslosigkeit. Die persönliche Arbeitslosmeldung könne nicht durch den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ersetzt werden.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und den Ausdruck der elektronischen Akte der Beklagten ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
A. Sein Begehren verfolgt der Kläger in zulässiger Weise mit einer kombinierten Anfechtungs‑ und Leistungsklage (§ 54 Absatz <Abs.> 1 Satz 1 und Abs. 4, § 56 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Streitgegenständlich ist der Bescheid vom 21. Juli 2022 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 5. Oktober 2022 und des Widerspruchsbescheids vom 6. Oktober 2022.
B. Die Klage ist begründet. Die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in eigenen Rechten. Er hat bereits ab 1. Mai 2022 Anspruch auf Alg. Nach § 137 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) setzt ein solcher Anspruch voraus, dass ein Arbeitnehmer arbeitslos ist, sich bei der Agentur für Arbeit (AfA) arbeitslos gemeldet hat und die Anwartschaftszeit erfüllt hat.
I. Der Kläger war seit dem 1. Mai 2022 aufgrund der unwiderruflichen Freistellung von der Arbeit arbeitslos (zum maßgeblichen leistungsrechtlichen Beschäftigungsbegriff und zur Abgrenzung Valgolio in Hauck/Noftz, Stand März 2023, K § 138 SGB III Randnummer 33 mit weiteren Nachweisen). Er hatte auch die Anwartschaftszeit erfüllt.
II. Dem Anspruch ab 1. Mai 2022 steht nicht entgegen, dass sich der Kläger erstmals am 25. Mai 2022 persönlich bei der Beklagte arbeitslos gemeldet hat.
Nach § 141 Abs. 1 Satz 1 SGB III in der seit 1. Januar 2022 geltenden Normfassung des Gesetzes zur Förderung der beruflichen Weiterbildung im Strukturwandel und zur Weiterentwicklung der Ausbildungsförderung (Bundesgesetzblatt I 2020, Seite 2.691) hat sich der Arbeitslose elektronisch oder persönlich bei der zuständigen AfA arbeitslos zu melden. Nach Satz 3 ist eine Meldung auch zulässig, wenn die Arbeitslosigkeit noch nicht eingetreten, der Eintritt der Arbeitslosigkeit aber innerhalb der nächsten drei Monate zu erwarten ist. Die Arbeitslosmeldung ist dabei eine materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung, mit der der Beklagten der tatsächliche Eintritt des Versicherungsfalles der Arbeitslosigkeit angezeigt wird.
Eine persönliche Meldung – für eine elektronische ist nichts ersichtlich – erfolgte erst am 25. Mai 2022 (dazu 1.). Diese wirkt jedoch auf den 1. Mai 2022 zurück (dazu 2.).
1. Die Kammer ist nicht davon überzeugt, dass sich der Kläger vor dem 25. Mai 2022 bei der Beklagten persönlich arbeitslos meldete. Die telefonische Meldung am 2. Mai 2022 kann nicht als persönliche Arbeitslosmeldung im Sinne der Vorschrift gewertet werden, da der Kläger nicht in Person, sondern mittels Fernsprecher vorsprach. Erst am 25. Mai 2022 begab er sich in die Amtsstuben der Beklagten.
2. Diese persönliche Meldung am 25. Mai 2022 wirkt jedoch auf den 1. Mai 2022 zurück. Denn § 141 Abs. 2 SGB III bestimmt, dass dann, wenn die zuständige AfA am ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit des Arbeitslosen nicht dienstbereit ist, eine persönliche Meldung an dem nächsten Tag, an dem die AfA dienstbereit ist, auf den Tag zurückwirkt, an dem die AfA nicht dienstbereit war.
a. Der erste Tag der Beschäftigungslosigkeit des Klägers war der 1. Mai 2022. Am Tag der Arbeit/sonntags hatte die Beklagte geschlossen. Objektiv dienstbereit war die Beklagte ab dem Folgetag (Montag), da die zuständige AfA Sömmerda seit dem 1. September 2021 nicht mehr coronabedingt geschlossen war und damit eine persönliche Arbeitslosmeldung möglich war. Die telefonische Meldung am 2. Mai 2022 konnte allerdings nicht auf den 1. Mai 2022 zurückwirken, da die Meldung nicht persönlich erfolgte (hierzu oben 1.).
b. Nach Auffassung der Kammer ist § 141 Abs. 2 SGB III aber auch dann anwendbar, wenn die fehlende Dienstbereitschaft zwar nicht objektiv, wohl aber in der Vorstellung des Arbeitslosen besteht, und die AfA diese falsche Vorstellung zu verantworten hat (offen gelassen durch Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 3. März 1993, 11 RAr 101/91, SozR 3-4100 § 105 Nummer <Nr.> 1, das als Beispiele nennt, wenn der Arbeitslose von der Bundesagentur <BA> eine falsche Auskunft über die Dienstbereitschaft erhalten hat oder er wegen von der BA zu vertretende Organisationsmängel über das Vorhandensein der Dienstbereitschaft irrt und sich deshalb nicht arbeitslos meldete).
So lag es hier: Der Kläger hat glaubhaft geschildert, dass er bei der telefonischen Meldung bei der Beklagten am 2. Mai 2022 das arbeitgeberseitige Kündigungsschreiben vollständig verlesen hatte, nachdem ihn seine Tochter, die bei der Beklagten arbeitet, dringend dazu geraten hatte. Mithin war die Beklagte im Bilde, dass der Kläger seit dem 1. Mai 2022 unwiderruflich von seinen vertraglichen Pflichten gegenüber der Arbeitgeberin freigestellt und somit beschäftigungslos war. Aus dem Eintrag im „Vermittlungs‑, Beratungs- und Informationssystem (VerBIS)“ der Beklagten vom 2. Mai 2022 ergibt sich in diesem Zusammenhang weiter:
„Über die Möglichkeiten der Arbeitslosmeldung (online/persönlich) informiert. Arbeitslosmeldung erfolgt persönlich. Kunde besteht auf eine Terminvergabe zur Arbeitslosmeldung. Für die persönliche Arbeitslosmeldung Termin EZ am 25.05.2022 in ATV gebucht.“
Damit hat die Beklagte dem Kläger suggeriert, dass erst am 25. Mai 2022 eine persönliche Vorsprache möglich wäre. Dass sie der Meinung gewesen sein dürfte, dass vor dem 1. Juni 2022 auch keine persönliche Vorsprache nötig wäre, weil sie den hier maßgeblichen leistungsrechtlichen Beschäftigungsbegriff verkannte (hierzu oben I.), wofür im Übrigen auch die zunächst im Ausgangsbescheid erst ab 1. Juni 2022 erfolgte Bewilligung spricht, ist unerheblich. Entscheidend ist, dass beim Kläger durch die späte Terminvergabe hinsichtlich einer früheren Dienstbereitschaft der Beklagten ein Irrtum erregt wurde.
III. Mithin hat die Beklagte dem Kläger auch für den streitgegenständlichen Zeitraum Alg zu zahlen.
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Obsiegen des Klägers.
Die Berufung bedurfte aufgrund der 750 € nicht übersteigenden Beschwer der Beklagten der Zulassung (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Zulassungsgründe im Sinne des Abs. 2 sind indes nicht ersichtlich.