S 13 AS 760/23

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 13 AS 760/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Rückzahlungen und Guthaben mindern die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung auch nach der Änderung des § 22 Abs. 3 SGB II ab dem 1. August 2016 (entgegen LSG Sachsen-Anhalt vom 21. Dezember 2022, L 5 AS 283/22, juris).

Der Bescheid vom 6. März 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Juni 2023 wird aufgehoben.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob beim Kläger ein Guthaben aus einer Betriebs- und Heizkostenabrechnung für das Jahr 2021 im März 2022 auf seine Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) anzurechnen ist.

Der 1984 geborene Kläger stand beim Beklagten im Leistungsbezug. Er wohnt zur Miete unter der im Rubrum ersichtlichen Anschrift und wandte 502,42 € Grundmiete auf. Bereits seit dem 1. Januar 2014 trägt der Beklagte nur noch die nach seiner Auffassung angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH). Mit Änderungsbescheid vom 23. Dezember 2020 bewilligte er dem Kläger und seinem Sohn vorläufig Leistungen unter Berücksichtigung von 269,50 € Grundmiete und – in tatsächlicher Höhe – 80 € Heizkosten und 77 € Nebenkosten für Januar bis Juni 2021, wobei er die Leistungen hälftig verteilte. Mit vorläufigem Bescheid vom 18. Juni 2021 in Gestalt einer abschließenden Bewilligung vom 22. November 2021 berücksichtigte er für Juli bis Dezember 2021 davon abweichend 275,85 € Grundmiete und 80 € Betriebskosten, wobei er auf den Sohn des Klägers in den Monaten Juli und September bis Dezember 2021 als temporäres Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft keine KdUH verteilte.

Mit vorläufigem Bescheid vom 22. November 2021 in Gestalt von Änderungsbescheiden vom 27. November und 15. Dezember 2021 sowie vom 10. März 2022 und abschließender Bewilligung vom 28. Juni 2022 bewilligte der Beklagte dem Kläger ohne Berücksichtigung seines Sohnes bei den KdUH unter anderem für März 2022 Leistungen in Höhe von (i.H.v.) insgesamt 979,10 €, wobei er die KdUH der Höhe nach wie zuletzt berücksichtigte.

Mit Schreiben vom 16. Dezember 2022 forderte der Beklagte den Kläger zur Vorlage der Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2021 auf. Die Abrechnung vom 16. Februar 2022 reichte der Kläger beim Beklagten am 6. Januar 2023 ein. Diese wies einen auf den Kläger entfallenden Betrag von 1.742,69 € aus, wobei darin 519,20 € Heizkosten enthalten waren. Dem stellte die Hausverwaltung 161,32 € monatliche beziehungsweise (bzw.) insgesamt 1.935,84 € Vorauszahlung gegenüber, wobei sich ein Guthaben von 193,15 € ergab. Wegen des weiteren Inhalts wird auf Seite 337 des Ausdrucks der elektronischen Akte des Beklagten (E-Akte) verwiesen.

Mit Schreiben vom 13. Januar 2023 hörte der Beklagte den Kläger wegen einer Überzahlung i.H.v. 159,31 € und der Aufhebung nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) an. Mit Bescheid vom 6. März 2023 setzte der Beklagte dies um.

Hiergegen erhob der Kläger am 22. März 2023 Widerspruch. Zur Begründung führte er aus: Rechtsgrundlage für die Aufhebung könne nur § 45 SGB X sein, wobei er weder Kenntnis noch grob fahrlässige Unkenntnis gehabt habe. Da er einen Teil der KdUH aus eigenen Mitteln aufgebracht habe, habe er darauf vertrauen können, dass er das mühsam erzielte Einkommen nicht abgeben müsse. Zu Unrecht habe der Beklagte die KdUH nicht in vollem Umfang berücksichtigt. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juni 2023 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte aus: Er habe Nebenkosten i.H.v. 942 € und Heizkosten i.H.v. 960 € geleistet bzw. anerkannt. Der tatsächliche Verbrauch habe laut Abrechnung 1.223,49 € bzw. 519,20 € betragen. Daraus ergebe sich eine Nachzahlung i.H.v. 281,49 € bzw. eine Gutschrift i.H.v. 440,80 €. Aus der Differenz von Nachzahlung und Gutschrift ergebe sich ein Gesamtguthaben von 159,31 €, das im März 2022 bedarfsmindernd sei. Auf Vertrauensschutz könne sich der Kläger nicht berufen.

Hiergegen hat der Kläger am 19. Juli 2023 Klage erhoben. Begründend gibt er über seinen bisherigen Vortrag hinaus an: Das Guthaben wirke sich nicht auf die anerkannten Mietkosten aus.

Er beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 6. März 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Juni 2023 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

            die Klage abzuweisen,

und verweist auf seinen bisherigen Vortrag.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (GA) und die E-Akte verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

A. Das Gericht konnte gemäß § 124 Absatz (Abs.) 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (Schreiben vom 15. bzw. 19. Januar 2024, Blatt 49 bzw. 593 GA).

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 6. März 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Juni 2023. Hiergegen wendet sich der Kläger statthaft mit der Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG).

B. Die Klage ist sowohl hinsichtlich der Aufhebung (dazu I.) als auch der Erstattung (dazu II.) begründet.

I. Als Rechtsgrundlage für die Aufhebung kommt nur § 40 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nummer (Nr.) 3 SGB II in der im Rücknahmezeitpunkt geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011 (Bundesgesetzblatt <BGBl> I, Seite <S.> 850; zur Maßgeblichkeit des im Zeitpunkt der Aufhebung geltenden Rechts für die Aufhebung Bundessozialgericht <BSG> vom 25. April 2018, B 14 AS 15/17 R, juris Randnummer <Rn.> 10 mit weiteren Nachweisen <m.w.N.>) in Verbindung mit (i.V.m.) § 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) und § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) in Betracht. Danach ist eine rechtswidrige begünstigende Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II auch nach Unanfechtbarkeit mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn der Betroffene die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III ist das nach § 45 Abs. 1 SGB X bestehende Ermessen aufgehoben, soweit die in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts vorliegen.

Die abschließende Bewilligung von Arbeitslosengeld II für den streitbefangenen Monat März 2022 durch den Bescheid vom 28. Juni 2022, mit der sich die vorangegangenen vorläufigen Bewilligungen nach § 39 Abs. 2 SGB X erledigten (vergleiche <vgl.> BSG, Urteil vom 19. März 2020, B 4 AS 1/20 R, juris Rn. 10 m.w.N.), war rechtmäßig. Rechtsgrundlage war § 19 i.V.m. den §§ 7, 9, 11, 20 fortfolgende SGB II, § 22 Abs. 3 SGB II dabei in der Fassung des Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26. Juli 2016 (BGBl I, S. 1.824; zum Geltungszeitraumprinzip BSG vom 12. September 2018, B 4 AS 39/17 R, BSGE 126, 294), wonach hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.

Der Bedarf des Klägers ergibt sich aus dem Regelbedarf und dem Mehrbedarf zur Erwärmung des Wassers (dazu 1.) und den KdUH (dazu 2.).

1. Der Regelbedarf des Klägers beläuft sich auf 449 € (§ 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II) zuzüglich des Mehrbedarfs zur Erwärmung des Warmwassers nach § 21 Abs. 7 SGB II i.H.v. 10,33 €, also insgesamt auf 459,33 €.

2. Ergänzt werden die Bedarfe durch die KdUH nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II, die nicht anteilig auf den Sohn als Mitglied einer temporären Bedarfsgemeinschaft (BG) entfallen (zum Abweichen vom Kopfteilprinzip bei den KdUH im Falle des Vorliegens einer temporären BG BSG, Urteil vom 17. Februar 2016, B 4 AS 2/15 R, SozR 4-4200 § 22 Nr. 89). Der Vorschrift zufolge werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Nach Abs. 3 mindern Rückzahlungen und Guthaben, die dem Bedarf für Unterkunft und Heizung zuzuordnen sind, die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Monat der Rückzahlung oder der Gutschrift; Rückzahlungen, die sich auf die Kosten für Haushaltsenergie oder nicht anerkannte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beziehen, bleiben außer Betracht.

Die tatsächlichen Aufwendungen im März 2022 beliefen sich auf 502,42 € Grundmiete, 80 € Heizkosten und 80 € Betriebskosten, mithin insgesamt 662,42 €. In Abzug zu bringen ist die Gutschrift aus dem Vormonat, wobei offenbleiben kann, ob von 193,15 € oder mit dem Beklagten von 159,31 € auszugehen ist. Denn der Minuend wird durch die tatsächlichen Aufwendungen i.H.v. 662,42 € gestellt und nicht durch den vom Beklagten anerkannten Bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013, B 14 AS 83/12 R, SozR 4-4200 § 22 Nr. 74; Knickrehm in Knickrehm/Roßbach/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 8. Auflage 2023, § 22 Rn. 32; Lauterbach in BeckOGK, § 22 SGB II Rn. 98, Stand 1. Dezember 2021; Piepenstock in jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 22 Rn. 186; anders Adolph in Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 22 Rn. 204, der einen Prozentsatz zwischen übernommenen und nicht übernommenen Kosten ansetzen will). Damit hält die Kammer entgegen der Auffassung des Landessozialgerichts (LSG) Sachsen-Anhalt (Urteil vom 21. Dezember 2022, Aktenzeichen <Az.> L 5 AS 283/22, juris) die höchstrichterliche Rechtsprechung auch nach der Änderung des § 22 Abs. 3 SGB II zum 1. August 2016 für einschlägig. Das Wortlautargument aus § 22 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB II („… mindern die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Monat der Rückzahlung …“) gilt nach wie vor, da die Norm insoweit unverändert blieb. Unter Aufwendungen sind mithin die tatsächlichen und nicht die vom Leistungsträger als angemessen erachteten Bedarfe für die KdUH zu verstehen. Soweit nach Halbsatz 2 Rückzahlungen, die sich auf die Kosten für Haushaltsenergie oder nicht anerkannte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beziehen, neuerdings außer Betracht bleiben, hat der Gesetzgeber nunmehr zwar eine ausdrückliche Regelung zur Anrechnung eines Guthabens bei nicht vollständiger Übernahme der KdUH im Abrechnungszeitraum geschaffen. Sie betrifft aber nur die Frage, welche Rückzahlungen überhaupt als mindernd in Betracht kommen. Welcher Betrag gemindert wird, lässt der Halbsatz 2 offen. Zwischen beiden Aspekten ist aber nach wie vor zu differenzieren. Halbsatz 2 findet beispielsweise auch Anwendung, wenn das Jobcenter im Zeitpunkt der Gutschrift bereits wieder die tatsächlichen, weil womöglich mittlerweile angemessenen KdUH übernimmt. Zudem ist es vom Einzelfall abhängig, ob die Kürzung auf die angemessenen KdUH bei der Grundmiete, den Heizkosten oder den Betriebskosten ansetzt. Begrenzt sich aber die Kürzung auf die Grundmiete, unterfallen Rückzahlungen dem Halbsatz 2 nicht. Eine vom Gesetzgeber avisierte Neuordnung des Anwendungsbereichs des § 22 Abs. 3 (jetzt Halbsatz 1) SGB II in Reaktion auf das BSG-Urteil vom 12. Dezember 2013 (Az. B 14 AS 83/12 R) hätte mithin einer klaren Äußerung bedurft, die indes nicht getroffen wurde.

Folglich berührt hier die Erstattung nicht die vom Beklagten anerkannten Bedarfe, sodass dieser die teilweise Rücknahme des Bescheids vom 28. Juni 2022, soweit er den Monat März 2022 betrifft, nicht auf den Zufluss der Erstattung im Vormonat stützen kann.

II. Mithin entfällt auch die Ermächtigung für das Erstattungsverlangen aus § 50 Abs. 1 SGB X.

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung bedurfte wegen der 750 € nicht übersteigenden Beschwer des Beklagten der Zulassung, vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Die Zulassung beruht auf § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG. Bisher ist nicht höchstrichterlich geklärt, ob an der bisherigen Rechtsprechung des BSG zur Anrechnung eines Guthabens aus einer Betriebs- und Heizkostenabrechnung auf die tatsächlichen KdUH im Anrechnungsmonat auch nach der Neuregelung in § 22 Abs. 3 SGB II ab 1. August 2016 festzuhalten ist. Diese Frage ist auch weiterhin klärungsbedürftig, da § 22 Abs. 3 SGB II nach dem Zwölften Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes ab 1. Januar 2023 unverändert weiter gilt (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. Dezember 2022, L 5 AS 283/22, juris).

 

Rechtskraft
Aus
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