L 4 KR 186/23

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 21 KR 713/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 4 KR 186/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Ein Aufstehbett (Aufrichtbett) kann als Hilfsmittel der Sicherung der ärztlichen Krankenbehandlung und dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienen oder ein Pflegehilfsmittel darstellen.

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 21. März 2023 und der Bescheid der Beklagten vom  10. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Mai 2019 geändert.

Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin mit einem Aufstehbett – unter Berücksichtigung eines von der Klägerin zu tragenden Eigenanteils von 519 € – zu versorgen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

 

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das gesamte Verfahren.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

 

Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Aufstehbett (auch bezeichnet als Aufrichtbett).

 

Aufstehbetten besitzen eine mehrfach geteilte Liegefläche, deren elektromotorisch gesteuerte Elemente – teilweise – (höhen)verstellbar sind und sich anwinkeln lassen. Hierdurch können die das Bett nutzenden Personen eine halbsitzende und sitzende Position einnehmen. Durch ein Absenken des Fußendes oder eine Drehung der Liegefläche um 90 Grad wird auch ein Aufstehen ermöglicht. Diese Funktionen erleichtern etwa Nahrungsaufnahme, Lesen oder Fernsehen, aber auch die Arbeit von Pflege- und therapeutisch tätigen Arbeitskräften. Neben Aufstehbetten werden auch Bettzurichtungen angeboten, die z.B. als (ebenfalls motorisch verstellbare) unterschiedlich große Einlegerahmen mit Sitz- und/oder Schwenkfunktion in ein bereits vorhandenes Bettgestell integriert werden können. Das vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen nach § 139 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) erstellte Hilfsmittelverzeichnisses (HMV) sieht insoweit innerhalb der Produktgruppe 19.40 (Krankenpflegeartikel, häuslicher Bereich) unterschiedliche Untergruppen vor (19.40.01 „Behindertengerechte Betten“, mit weiteren Unterteilungen, u.a. 19.40.01.7 „Betten, motorisch verstellbar, mit erhöhter Tragfähigkeit“ und 19.40.01.8 „Behindertengerechte Betten mit Sitz- und Aufrichtfunktion“, sowie 19.40.03 „Bettzurichtungen“, u.a. mit der weiteren Unterteilung 19.40.03.3 „Einlegerahmen, motorisch verstellbar mit Sitz-/Schwenkfunktion“).

 

Die 1954 geborene Klägerin hatte ein Körpergewicht von zuletzt geschätzt zwischen 120 und 160 kg. Sie leidet an folgenden Erkrankungen:

- Gonarthrose mit zunehmenden Schmerzen und Bewegungseinschränkungen,

- Elephantiasis beidseits mit multiplen Wunden im Bereich beider Fersen und beider Unterschenkel (Wundverband erforderlich),

- Ulcus cruris an beiden Füßen,

- Einschränkungen der Halte- und Greiffunktion bei Kraftminderung und Belastungstremor,

- chronische Niereninsuffizienz Stadium 4

- Diabetes mellitus Typ 2 mit diabetischer Nephropathie,

- Adipositas per magna,

- atrioventrikulärer Block (AV-Block) 3. Grades,

- Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern,

- Hypertonus,

- sacraler Decubitalulcus und Intertrigo der Bauchfalte,

- postmenopausale Osteoporose

- Gicht.

Ferner bestehen ein Zustand nach akutem Nierenversagen (Januar 2020) mit zwischenzeitlicher Dialysebehandlung und nach Schlaganfall (2002) mit residuellen Bewegungseinschränkungen der linken Körperseite.

 

Die Klägerin bezieht eine Altersrente sowie Leistungen der sozialen Pflegeversicherung, seit dem 1. Oktober 2022 nach Pflegegrad 4. Die Pflegeleistungen werden von einem Pflegedienst (D e.V.) sowie Pflegepersonen aus ihrem privaten Umfeld, seit dem Tod ihres Ehemannes im August 2022 u.a. ihrem Sohn, dem Zeugen W, erbracht. Außerdem erhält die Klägerin, die ihr Eigenheim derzeit allein bewohnt, seit November 2020 von ihrer Hausärztin verordnete ergotherapeutische Leistungen durch die Ergotherapiepraxis B GbR. Seit Januar 2020 steht der Klägerin ein 120 x 200 cm großes höhenverstellbares Bett zur Verfügung, spätestens seit März 2000 nutzt sie das Modell „Allura II 120“ der Fa. Burmeier, das ausweislich der Angaben im HMV (Artikel-Nr. 19.40.01.7018) neben elektromotorisch winkelverstellbaren Liege-Elementen (Rückenlehne 0° - 70°, Schenkellehne 0° - 30°, Unterschenkellehne 0° - 14°) auch über in die Betthäupter integrierte elektromotorische Hubsäulen mit einem Verstellbereich von 30 - 80 cm verfügt. Dieses Bett ermöglicht somit verschiedene Liegepositionen und eine halbsitzende Position zur Nahrungsaufnahme, unterstützt aber nur unzureichend das freie Sitzen an der Bettkante und nicht den Transfer von der Bettkante zum Rollstuhl.

 

Die Klägerin ist spätestens seit November 2020 bettlägerig, weitgehend immobil und vollständig von ihren Pflegepersonen abhängig. Sie ist in ihrer Selbständigkeit und ihren Fähigkeiten schwer beeinträchtigt. Einen Positionswechsel im Bett kann sie nur mit fremder Hilfe vornehmen. Der vorhandene Bettgalgen kann wegen unzureichender Kraft nur symptomatisch eingesetzt werden. Wegen schmerzhafter Bewegungseinschränkungen können Nacken- und Schürzengriff nur sehr begrenzt ausgeführt werden und ist das Heben der Arme nur bis Schulterhöhe möglich. Die Handkraft ist beidseits schwach. Stehen und Gehen sind nicht möglich. Bis zu 20 Minuten mit Hilfestellung eine sitzende Position an der Bettkante einzunehmen, gelingt ihr spätestens seit November 2023 wegen eines Defekt des Bettes – das Seitengeländer (auch bezeichnet als Seitengitter) ist nicht mehr höhenverstellbar – nicht mehr. Ein Transfer in einen Roll- oder Toilettenstuhl ist nicht möglich, die Darm- und Blasenentleerung erfolgen über eine Bettpfanne. Die Klägerin kann vorbereitete Nahrung zu sich nehmen.

 

Die Hausärztin der Klägerin, die Fachärztin für Innere Medizin We, verordnete ihr am 12. Juni 2018 ein „Aufsteh-Pflegebett“. Dem hierauf gestützten Antrag der Klägerin vom 29. Juni 2018 war ein Kostenvorschlag eines Sanitätshauses (RGmbH) für ein Pflegebett über 8.960 € brutto beigefügt, der neben der „HVMZ-Nummer: 19.40.03.3001“ u.a. Angaben zum Modell („RotoFlex -E, Art.-Nr. RO-1001-E“), zum Hersteller („PhysioNova GmbH“) sowie zur „Beschreibung Leistungserbringer“ („Indrea-B Pflegebett mit Aufsetz- und Aufstehfunktion auf Rollen, Holzumrandung Angular Buche Maße: 90 X 200 cm, Drehrichtung links“) enthielt.

 

Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit den Bescheiden vom 10. Juli und 7. November 2018, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2019, ab. Zur Begründung berief sich die Beklagte u.a. auf eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) – heutige Bezeichnung: Medizinischer Dienst (MD) – vom 27. September 2018, wonach die sozialmedizinische Notwendigkeit für das beantragte Aufstehbett nicht gesehen werden könne. So sei das Aufstehen aus sitzender Position nur mit einem erheblichen Kraftaufwand der Pflegeperson verbunden, sodass eine Verselbstständigung durch das gewünschte Aufstehbett nicht nachvollziehbar sei. Benötigt werde ein behindertengerechtes Bett mit motorisch höhenverstellbarer Liegefläche. Die Beklagte bezog sich hierbei jeweils – in den Bescheiden vom 10. Juli und 7. November 2018 lediglich in einer Betreffzeile, welche im Bescheid vom 10. Juli 2018 auch die o.g. Artikel-Nr. des HMV umfasste – auf ein Aufrichtbett der Marke „Rotoflex-E“.

 

Zur Begründung ihrer am 4. Juni 2019 erhobenen Klage, die ausweislich der Klagebegründung auf „die Kostenübernahme für das beantragte RotoFlex Aufstehbett i.S. des Kostenvoranschlages vom 29.6.2018 durch die Firma R GmbH“ gerichtet gewesen ist, hat die Klägerin vorgebracht, sie könne aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen nicht mehr alleine aufstehen.

 

Das Sozialgericht hat eine Produktbeschreibung für das Pflege-/Aufstehbett Indrea-B sowie Pflegegutachten des MDK vom 28. Februar, 4. Mai und 15. Juli 2020 zur Akte genommen. Es hat ferner Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärztinnen DM D (Fachärztin für Chirurgie und Gefäßchirurgie) vom 26. April 2021, Dr. Rö (Fachärztin für Innere Medizin mit Schwerpunkt Nephrologie) vom Mai 2021 und Frau We vom 10. Mai 2021 (nebst Therapiebericht der o.g. Ergotherapiepraxis vom 19. Januar 2021) sowie das Gutachten des Fachkrankenpflegers für Intensivmedizin und Anästhesie K vom 6. Februar 2022 nebst dessen ergänzenden Stellungnahmen vom 24. April und 8. November 2022 veranlasst. Auf den Inhalt dieser medizinischen Unterlagen wird verwiesen.

 

Mit Urteil vom 21. März 2023 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung unter Bezugnahme auf § 27 Abs. 1, § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V  ausgeführt: Ein Pflegebett könne als Hilfsmittel grundsätzlich dem – auf allgemeine Grundbedürfnisse des täglichen Lebens beschränkten – mittelbaren Behinderungsausgleich dienen, da es die fehlende Fähigkeit des Betroffenen, sich im Bett selbständig zu bewegen und das Bett zu verlassen, ausgleicht. Betroffen sei somit das Grundbedürfnis der Mobilität, denn ein Pflegebett erleichtere das Aufstehen und Zu-Bett-Gehen sowie das selbstständige Aufrichten und Sitzen. Dabei entfalle die Leistungspflicht der Krankenkasse nicht dadurch, dass das Hilfsmittel gleichzeitig die Pflege des Betroffenen erleichtere. Hieran gemessen habe die Klägerin gegenwärtig keinen Anspruch auf die begehrte Versorgung. Die Kammer folge den Ausführungen des Sachverständigen nicht. Nach dessen Feststellungen bestünden bei der Klägerin erhebliche funktionelle Einschränkungen der oberen und unteren Extremitäten mit der Folge, dass sie im Bereich der Mobilität schwerst beeinträchtigt sei. Bei der Untersuchung durch ihn am 17. Januar 2022 sei die Klägerin in der Lage gewesen, eine sitzende Position auf der Bettkante einzunehmen und 20 Minuten selbstständig zu halten. Bewegungsübungen der Beine hätten aktiv ausgeführt werden können. Die Mobilisierung der Klägerin sei dringende Zielsetzung der pflegerischen Betreuung und diene der Vorbeugung typischer Pflegekomplikationen bei Bettlägerigkeit in Form von Intertrigo, Dekubitus, bei Venenthrombose, Kontraktionen der großen Gelenke, Lungenentzündung, Rückbildung der Muskulatur etc. Die vielfältigen Funktionen des begehrten Aufstehbettes unterstützten diese Mobilisierung der Klägerin und erleichterten die pflegerische Versorgung. Das Aufstehbett würde sie in die Lage versetzen, intensiver an ihre Mobilität zu arbeiten, ihr Gewicht zu reduzieren und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Klägerin könne das Bett eigenständig bedienen.

Vor dem Hintergrund des aktuellen Gutachtens zur Pflegebedürftigkeit sei die Kammer allerdings nicht davon überzeugt, dass die Voraussetzungen für eine Versorgung der Klägerin nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V gegenwärtig (noch) vorlägen. Das Bett diene weder der Sicherung der Krankenbehandlung – weil für einen entsprechenden ärztlichen Behandlungsplan keine Anhaltspunkte ersichtlich seien – noch der Vorbeugung einer drohenden Behinderung – weil die Klägerin bereits jetzt nicht mehr in der Lage sei aufzustehen –, sondern allenfalls dem mittelbaren Behinderungsausgleich. Denn das von der Klägerin angestrebte Ziel, ihr ein selbstständiges Sitzen an der Bettkante sowie ein Aufstehen aus dem Bett zu ermöglichen, könne gegenwärtig durch das Aufstehbett nicht erreicht werden, weil sie weder in der Lage sei zu sitzen noch zu stehen. Nach dem aktuellen MDK-Gutachten vom 2. Dezember 2022 sei eine Rumpfkontrolle, eine Lagerung im Pflegerollstuhl sowie Gehen und Stehen bzw. ein Transfer in die Dusche/Badewanne nicht möglich.

 

Gegen dieses ihr am 28. April 2023 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin vom 26. Mai 2023, zu deren Begründung sie vorträgt:

Sie habe nach dem Erhalt der Verordnung selbst im Internet recherchiert und sei quasi zufällig auf ein Bett der Marke RotoFlex gestoßen. Es sei ihr aber nie um ein konkretes Modell gegangen, sondern einzig um ein Aufstehbett.

Der Sachverständige habe bestätigt, dass ihr ein Sitzen durchaus möglich sei, lediglich das Aufstehen aus sitzender Position erfolge unselbstständig und das Hantieren mit beiden Händen im Sitzen sei nicht möglich.

 

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

 

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 21. März 2023 und die Bescheide der Beklagten vom 10. Juli und 7. November 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Mai 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie mit einem Aufstehbett zu versorgen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und weist darauf hin, dass ihr im Hinblick auf das Vorbringen der Klägerin, ein Seitengitter des derzeit genutzten Bettes sei defekt, wodurch ihr ein Sitzen auf der Bettkante unmöglich sei,  bislang kein Reparaturantrag des Leistungserbringers vorliege.

 

Der Senat hat die Gutachten des Medizinischen Dienstes (MD) vom 8. September und 2. Dezember 2022 zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit zur Akte genommen und durch den Berichterstatter in zwei Erörterungsterminen am 21. Dezember 2023 und 30. Januar 2024 den Zeugen W sowie die Zeuginnen Ra (Mitarbeiterin des o.g. Pflegedienstes) und Sch (Mitarbeiterin der o.g. Praxis für Ergotherapie) vernommen.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die dem Senat vorgelegen hat, Bezug genommen.

 

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Der Senat kann gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem beide Beteiligte dem zugestimmt haben.

 

Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Urteil des Sozialgerichts und die o.g. Bescheide der Beklagten sind aufzuheben, weil die Klägerin von der Beklagten die Versorgung mit einem Aufstehbett beanspruchen kann.

 

A. Streitgegenstand sind neben dem Urteil des Sozialgerichts vom 21. März 2023 die Bescheide der Beklagten vom 10. Juli und 7. November 2018 in der Gestalt des Wider­spruchsbescheides vom 18. Mai 2019 sowie ein Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem Aufstehbett. Trotz entsprechender Formulierungen in den Bescheiden der Beklagten und den klägerischen Sachanträgen wird dieser Anspruch nicht beschränkt auf ein bestimmtes Modell verfolgt.

 

1. Das Gewollte, also das mit der Klage verfolgte Prozessziel, ist im Wege der Auslegung festzustellen. In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht. Diese Auslegung ist unter Berücksichtigung aller Umstände auch vom Berufungsgericht vorzunehmen, ohne an die Auslegung des Sozialgerichts gebunden zu sein (BSG, Urteil vom 14. Juni 2018 – B 9 SB 2/16 R –, juris, Rn. 12, m.w.N.). Bei der Auslegung von Anträgen, die ein Rechtsanwalt oder ein vergleichbar qualifizierter Prozessbevollmächtigter gestellt hat, ist dabei in der Regel davon auszugehen, dass dieser das Gewollte richtig wiedergibt (BSG, Beschluss vom 12. Dezember 2019 – B 10 EG 3/19 B –, Rn. 9, juris, m.w.N.); Ausnahmen von diesem Grundsatz sind angesichts der Umstände des jeweiligen Einzelfalls somit möglich.

 

2. Ausgangspunkt ist zunächst die o.g. Verordnung des Hausärztin der Klägerin vom 12. Juni 2018, die sich nur auf ein „Aufsteh-Pflegebett“, nicht aber auf ein konkretes Modell bezieht. Gemeint ist damit offenkundig – in Abgrenzung zu einem Bett mit einer bloßen Aufrichtvorrichtung wie dem klägerseitig derzeit genutzten – ein Bett, das ein Aufrichten der Rückenlehne bis zu 90 Grad und ein Absenken des Fußteils soweit erlaubt, dass die Klägerin an der Bettkante sitzen und das Bett (mit externer Hilfe) ggf. auch verlassen könnte. Dass die Klägerin ihren auf die o.g. Verordnung gestützten Versorgungsantrag mit dem o.g. Kostenvoranschlag eines Sanitätshauses verband, erlaubt aus Sicht des Senats nicht den Schluss, dass sie ihren Versorgungsanspruch beschränkt auf ein bestimmtes Hilfsmittel geltend macht. Denn zum einen ist nicht erkennbar, ob sich der Kostenvoranschlag auf das im HMV unter der Produktuntergruppe 19.40.03.03 („Einlegerahmen, motorisch verstellbar mit Sitz-/Schwenkfunktion“) gelistete Hilfsmittel „RotoFlex –E“ oder das nicht im HMV gelistete „Pflegebett / Aufstehbett Indrea-B“ (vgl. https://www.caretec.info/pflegebett-systeme/aufstehbett-indrea-b/) bezieht. Zum anderen waren Besonderheiten dieser unterschiedlichen Hilfsmittel – etwa, dass es sich bei ersterem um eine (nach der Einteilung des HMV) Bettzurichtung mit Aufstehfunktion und bei letzterem um ein vollständiges Aufstehbett handelt – im Laufe des Verfahrens ohne jede Bedeutung.

Dementsprechend hat auch die Beklagte in den o.g. Bescheiden die Versorgung der Klägerin mit jeder Art von Aufstehbett abgelehnt. Dass sie in der Betreffzeile der o.g. Bescheide das Hilfsmittel „RotoFlex –E“, z.T. auch die entsprechende Artikelnummer des HMV, erwähnt und im Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2019 davon ausgeht, die Klägerin habe die „Kostenübernahme“ gerade für dieses Hilfsmittel beantragt und dies sei durch den Bescheid vom 10. Juli 2018 abgelehnt worden, steht dem nicht entgegen. Denn auch insoweit gilt, dass nach der Begründung aller o.g. Bescheide Besonderheiten dieses Hilfsmittel nicht von Belang waren. Unabhängig hiervon müsste sich die Beklagte fragen lassen, aus welchen Gründen sie einem offensichtlich zweideutigen Kostenvoranschlag ohne Nachfrage bei der Klägerin oder dem Sanitätshaus einen bestimmten Inhalt verleiht.

Der Klägerin ging es daher, wie von ihr betont, nie um ein bestimmtes Modell eines Aufstehbettes. Daran ändert nichts, dass sie in ihrer Klagebegründung detailliert Funktionen und Vorteile eines Aufstehbetts der Marke RotoFlex beschrieb, da diese Textpassagen offenkundig weitgehend aus Werbematerial der Herstellerin übernommen sind und im Wesentlichen dazu dienen, generelle Vorteile eines Aufstehbetts darzulegen. Ersichtlich von der Klägerin nur geltend gemacht und zwischen den Beteiligten nur umstritten ist somit der Versorgungsanspruch dem Grunde nach, nicht aber ein ganz bestimmtes Produkt. Diese besonderen Umstände des vorliegenden Falles rechtfertigen die Abweichung vom o.g. Grundsatz, dass anwaltliche formulierte Anträge in der Regel das Gewollte richtig wiedergeben. Es ist auch zu erwarten, dass bei einer rechtskräftigen Verurteilung der Beklagten zur Ausstattung der Klägerin mit einem Aufstehbett kein zusätzlicher Streit über den Hersteller und das Fabrikat entstehen wird (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juli 2014 – B 3 KR 1/14 R –, juris, Rn. 13).

 

3. Aber auch dann, wenn man nicht nur eine Korrektur, sondern eine Umstellung des Antrags annähme und darin eine Klageänderung i.S.v. § 99 SGG erblickte, änderte dies am Ergebnis nichts. Denn diese Klageänderung wäre nach dem o.G. jedenfalls sachdienlich i.S.v. § 99 Abs. 1, 2. Alt. SGG.

 

B. Der Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem Aufstehbett resultiert aus § 27 Abs. 1 Satz 1, § 33 Abs. 1 SGB V (hierzu I.) bzw. § 40 Abs. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB XI – (hierzu II.).

 

I. Bezüglich der Anspruchsvoraussetzungen von § 27 Abs. 1 Satz 1 und § 33 Abs. 1  Satz 1 SGB V und der in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entwickelten Differenzierung von Hilfsmitteln, die entweder dem unmittelbaren oder dem mittelbaren Behinderungsausgleich dienen, verweist der Senat vollumfänglich auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts im angefochtenen Urteil. Abweichend von dessen Einschätzung gelangt der Senat allerdings zum Ergebnis, dass ein Aufstehbett im Falle der Klägerin zur Sicherung des Behandlungserfolgs (hierzu 1.) und dem mittelbaren Behinderungsausgleich (hierzu 2.) dient und sich als notwendig erweist (hierzu 3.).

 

1. Der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung dient ein bewegliches sächliches Mittel, soweit es spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt wird, um zu ihrem Erfolg beizutragen. Jedoch ist nicht jedwede gesundheitsfördernde Betätigung als "spezifischer Einsatz im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung“ anzusehen. Keinen ausreichend engen Bezug zu einer konkreten Krankenbehandlung weisen nach den dargelegten Maßstäben demgemäß diejenigen gesundheitsförderlichen Maßnahmen auf, die (nur) allgemein auf die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, die Mobilisierung von Restfunktionen des behinderten Menschen, die Erhöhung der Ausdauer und Belastungsfähigkeit sowie die Hilfe bei der Krankheitsbewältigung zielen. Ein weitergehender spezifischer Bezug zur ärztlich verantworteten Krankenbehandlung i.S.v. § 27 Abs. 1 SGB V kommt daher nur solchen Maßnahmen – z.B. zur körperlichen Mobilisation – zu, die in einem engen Zusammenhang zu einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer stehen und für die gezielte Versorgung i.S.d. Behandlungsziele des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V als erforderlich anzusehen sind (BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010 – B 3 KR 5/10 R –, juris, Rn. 21 ff, m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin erfüllt.

 

a. Seit vielen Jahren befindet sich die multimorbide, schwerkranke Klägerin in haus- und fachärztlicher Behandlung und erhält aufgrund ärztlicher Verordnung zahlreiche Leistungen zur Behandlung ihrer o.g. Krankheiten, soweit hier relevant u.a. Leistungen der häuslichen Krankenpflege und – seit November 2020 – wöchentlich Ergotherapie. Letztere dient – wie der Senat den MD(K)-Gutachten vom 8. August 2018, 28. Februar und 4. Mai 2020 sowie dem Bericht der o.g. Ergotherapiepraxis vom 19. Januar 2021 und dessen Bestätigung durch den Sachverständigen K entnimmt – dem Erhalt bzw. der Verbesserung der Mobilität in den oberen und unteren Extremitäten, dem Training zum Erhalt oder der Verbesserung kognitiver Funktionen, zur Steigerung der körperlichen Belastungsfähigkeit und Ausdauer sowie im Umgang mit Hilfsmitteln, dem Erlernen von Transfers, z.B. an die Bettkante, und Kompensationsmechanismen. Die angesprochene Mobilisierung dient ihrerseits – dies belegt das Gutachten des Sachverständigen K nachvollziehbar – auch der Vorbeugung typischer Pflegekomplikationen bei Bettlägerigkeit (z.B. Intertrigo, Beinvenenthrombose, Kontrakturen der großen Gelenke, Lungenentzündung, Rückbildung der Muskulatur). Hiermit korrespondieren Angaben der Hausärztin der Klägerin in ihrem o.g. Befundbericht, wonach das Aufstehbett für den Aufbau der Muskulatur mit Verbesserung der Mobilität und Sitzfähigkeit, zum Training und zur Reaktivierung der Koordinationsfähigkeit und Bewegungsabläufe sowie zur Prophylaxe von Pneumonien und druckbedingter Dekubiti indiziert sei.

 

b. Der Sicherung dieser vorwiegend ergotheraupeutischen, der Reaktivierung und Erhaltung der (Rest-)Mobilität der Klägerin dienenden ärztlich verordneten Krankenbehandlung dient ein Aufstehbett. Denn es erweitert die ergotherapeutischen Möglichkeiten erheblich. Insoweit folgt der Senat den plausiblen Angaben der Zeugin Sch. Danach könnte die Klägerin bei einem Bett mit Rückenstütze auf der Bettkante sitzen, ohne sich sofort auf die Ellenbogen oder – alternativ, aber für sie gesundheitlich ungünstig – auf den Handgelenken abstützen zu müssen. Die Klägerin könnte mithilfe des Aufstehbettes auch an einem Tisch sitzen, sodass ihre Hände etwas mit Knete bearbeiten könnten und nicht – wie derzeit – zu befürchten ist , dass sich die Knete in der Bettwäsche verklebt. Indem sie mit einem Aufstehbett und dessen fester Rückstütze den Fußboden erreichen würde, könnten mithilfe eines Igelballs ihre Füße beübt oder durch Heranrücken eines Pflegefahrrads ihre Beinmuskulatur trainiert, unter Umständen die Stehfähigkeit wieder hergestellt und hierdurch der Transfer in einen Roll- oder Toilettenstuhl ermöglicht werden.

 

c. Jenseits ergotherapeutischer Maßnahmen sichert ein Aufstehbett durch die damit ermöglichte Sitzposition – hierzu sogleich näher – die Krankenbehandlung auch insofern, als Körperbalance, Atmung, Nahrungsaufnahme und Verdauung sowie venöser und lymphatischer Rückfluss verbessert und typischen Pflegekomplikationen bei Bettlägerigkeit (z.B. Intertrigo, Beinvenenthrombose, Kontrakturen der großen Gelenke, Lungenentzündung) vorgebeugt wird. Zu diesen Feststellungen gelangt der Senat aufgrund der überzeugenden und widerspruchsfreien Ausführungen des Sachverständigen, er hält sie aber gleichfalls für allgemeinkundig.

 

Auch wenn Aufgabe der GKV primär nur die medizinische Rehabilitation ist (vgl. § 1 SGB V sowie § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), umfasst letztere auch die genannten weiteren, durch die Ermöglichung des Sitzens erreichbaren Ziele, weil sie die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen bezwecken (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R –, juris, Rn. 16, m.w.N.).

 

2. Das Aufstehbett dient bei der Klägerin auch dem mittelbaren Behinderungsausgleich. Zu den in diesem Rahmen berücksichtigungsfähigen (vom Sozialgericht zutreffend dargestellten) Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zählen u.a. das Sitzen und ein gewisser körperlicher und geistiger Freiraum.

 

a. Das Aufstehbett ermöglicht der Klägerin infolge der Stützung des Rückens – erzielt durch das Anwinkeln eines Bettrahmenelements und der Matratze bis zu 90 Grad – ein eigenständiges Sitzen, ohne dass sie sich auf den Handflächen oder dem Unterarm abstützen muss. Selbst wenn sie für längeres Sitzen auf Griffe oder ähnliches zum Abstützen angewiesen sein sollte, ändert dies nichts daran, dass sie diese Grundhaltungsart mit aufrechtem Oberkörper und hängenden („baumelnden“) Unterschenkeln oder ggf. den Boden berührenden Fußflächen derzeit nicht einnehmen kann, weil das vorhandene Bett – auch nach einer Reparatur des Seitengeländers – ein so ausgeprägtes Anwinkeln der Bettelemente und somit ein aufrechtes Sitzen nicht erlaubt. Soweit die Beklagte meint, auch das derzeit vorhandene Bett ermögliche der Klägerin ein „Sitzen“, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Unter Sitzen versteht man ein Körperhaltung, die insbesondere durch einen aufgerichteten Oberkörper geprägt ist und bei der man typischerweise mit Gesäß und Oberschenkeln  auf einer Unterlage (etwa einem Stuhl) ruht (vgl. www.duden.de., Stichwort: sitzen. Halbliegende Positionen mit auf einer Unterlage aufliegenden Unterschenkeln – diese Haltung erlaubt das vorhandene Bett – lassen sich unter diese Definition nicht mehr fassen.

 

b. Soweit das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums als Grundbedürfnis des täglichen Lebens (BSG, Urteil vom 10. September 2020 – B 3 KR 15/19 R –, juris, Rn. 17) in Rede steht, ist sind die bei jeder Form von Rehabilitation im Fokus stehende Selbstbestimmung und volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB IX) betroffen; hierbei wird den besonderen Bedürfnissen von Frauen mit Behinderung Rechnung getragen (§ 1 Satz 2 SGB IX). Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich werden daher nicht mit dem vorrangigen Ziel eingesetzt, auf die Krankheit, d.h. auf den regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand als solchen, kurativ-therapeutisch einzuwirken. Sie sollen vielmehr in erster Linie die mit diesem regelwidrigen Zustand bzw. mit der Funktionsbeeinträchtigung verbundene (oder im Falle der Vorbeugung zu erwartende) Teilhabestörung ausgleichen, mildern, abwenden oder in sonstiger Weise günstig beeinflussen. Bei der Beurteilung eines Anspruchs auf Versorgung mit einem Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich ist daher dem Teilhabeaspekt die nach dem SGB IX vorgesehene Bedeutung zuzumessen. Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich zielen in erster Linie auf eine Verbesserung der beeinträchtigten Teilhabe in der Gesellschaft und ermöglichen behinderten Menschen den Kontakt mit seiner Umwelt, insbesondere mit Familie und Nachbarschaft (BSG, Urteil vom 10. September 2020 – B 3 KR 15/19 R –, Rn. 18; Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R –, Rn. 38; jeweils juris und m.w.N.).

 

Vor diesem Hintergrund gestattet die mit einem Aufstehbett herzustellende (o.g.) Sitzposition der Klägerin in Verbindung mit einem herangerückten Tisch gemeinsame Aktionen mit ihrer Familie und anderen Personen ihres sozialen Umfelds, etwa gemeinsame Mahlzeiten, gemeinsame Spiele oder das gemeinsame Betrachten von Büchern, Fotoalben u.ä. Solche Aktionen sind derzeit – und auch nach einer Reparatur des vorhandenen Bettes – ausgeschlossen.

 

3. Das Aufstehbett ist zur Erzielung der o.g. Ziele – Sicherung der Behandlung einerseits, mittelbarer Behinderungsausgleich andererseits – notwendig i.S.v. § 12 Abs. 1 SGB V. Es ist weder nach dem Vorbringen der Beteiligten noch anderweitig ersichtlich, dass derselbe Erfolg bezüglich der Behandlungssicherung oder bezüglich des Behinderungsausgleichs, schon gar nicht bezüglich beider Zielsetzungen gleichzeitig, durch kostengünstigere, weniger aufwändige Mittel oder Maßnahmen zu erreichen wäre. Dies hat der Senat im Hinblick auf die Reparatur des vorhandenen Bettes bereits dargelegt. Die Erhöhung der ergotherapeutischen Behandlungsfrequenz – als u.U. kostengünstigere Leistung – ließe den Ausschluss der o.g. Therapieoptionen unberührt.

 

II. Selbst wenn man annähme, ein Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem Aufstehbett lasse sich aus den Vorschriften des SGB V nicht ableiten, bestünde ein solcher Anspruch nach den Regeln der sozialen Pflegeversicherung (Elftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XI).

 

1. Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB XI haben Pflegebedürftige Anspruch u.a. auf Versorgung mit solchen Pflegehilfsmitteln, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen, soweit die Hilfsmittel nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung oder anderen zuständigen Leistungsträgern zu leisten sind. Für Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel, die sowohl den in § 23 und § 33 SGB V als auch den in § 40 Abs. 1 SGB XI genannten Zwecken dienen können, prüft gemäß § 40 Abs. 5 Satz 1 SGB XI der Leistungsträger, bei dem die Leistung beantragt wird, ob ein Anspruch gegenüber der Krankenkasse oder der Pflegekasse besteht und entscheidet über die Bewilligung der Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel. Durch diese Regelung hat der o.g. Vorrang von Hilfsmitteln der Krankenversicherung vor Pflegehilfsmitteln seine Bedeutung verloren (Knorr in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 3. Aufl., § 40 SGB XI (Stand: 01.10.2021), Rn. 34). Im gerichtlichen Verfahren bedarf es keiner Beiladung des nicht angegangenen Leistungsträgers (BSG, Urteil vom 16. Juli 2014 – B 3 KR 1/14 R –, juris).

 

2. Die Voraussetzungen von § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB XI sind im vorliegenden Fall erfüllt.

 

a. Mit einem Aufstehbett würde sich das An- und Ausziehen der Klägerin durch die Pflegepersonen einfacher gestalten, insbesondere weil diverse Körperpartien für diese besser erreichbar wären. Auch das von der Zeugin R berichtete, einmal wöchentlich vor der Ergotherapie erforderliche Anlegen vom Kompressionsverbänden würde erleichtert. Beides gilt in besonderem Maße für unterdurchschnittlich große Pflegepersonen, weil die Klägerin bedingt durch ihre Körpermaße ein Bett mit Überbreite (120 cm) nutzt. Die beschriebenen Pflegeerleichterungen bietet das derzeitige Bett trotz des höhenverstellbaren Fußteils nicht.

 

Zu diesen Feststellungen gelangt der Senat aufgrund der nachvollziehbaren Angaben der Zeugin R, die seit über sechs Jahren als Pflegekraft bei der Klägerin eingesetzt wird und aufgrund ihrer Körpergröße von 162 cm die Situation unterdurchschnittlich großer Pflegepersonen (zur durchschnittlichen Körpergröße innerhalb Deutschlands vgl. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Gesundheitszustand-Relevantes-Verhalten/Tabellen/koerpermasse-frauen.html) aus eigener Erfahrung glaubhaft bewerten kann.

 

b. Die Versorgung der Klägerin mit einem Aufstehbett ist auch notwendig. Weder nach dem Vorbringen der Beklagten noch anderweitig ist ersichtlich, auf welche sonstige Weise die o.g. Pflegeerleichterungen zu erzielen wären.

 

III. Die von der Beklagten während des Verfahrens erhobenen Einwänden überzeugen nicht.

 

1. Dass die Klägerin nur fünf Minuten an Bettkante sitzen könne, hat die das Gutachten vom März 2022 erstellende Pflegefachkraft des MD – hierauf bezieht sich die Beklagte – nicht aufgrund eigener Wahrnehmung festgestellt, sondern sich auf ein MD-Gutachten vom September 2021 bezogen. Der Senat misst insoweit dem zeitlich jüngeren Gutachten des Sachverständigen K, der die Klägerin persönlich untersucht hat, einen höheren Stellenwert zu. Da die Klägerin derzeit überhaupt nicht alleine an der Bettkante sitzen kann, kommt es indes auch nicht entscheidend darauf an, für welche Dauer sie früher hierzu in der Lage war. Maßgeblich ist, dass sie durch ein Aufstehbett überhaupt wieder zu eigenständigem aufrechtem Sitzen befähigt wird.

 

2. Unbeachtlich ist auch, ob sie zur Erlangung einer solchen Position ggf. auf fremde Hilfe angewiesen ist. Denn Ansprüche auf Hilfsmittel sind nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie von den Versicherten nicht ohne Hilfe anderer Personen benutzt werden können (BSG, Urteil vom 23. August 1995 – 3 RK 7/95 –; Urteil vom 1. April 1981 – 5a/5 RKn 12/79 –; Urteil vom 8. Juni 1994 – 3/1 RK 13/93 –; ausführlich: Gerlach, in: Hauck/Noftz SGB V, Stand: Oktober 2023, § 33 Rn. 77 ff. m.w.N.). Hiermit korrespondierend bezieht sich der Anspruch auf Ausbildung im Gebrauch eines Hilfsmittels (§ 33 Abs. 5 Satz 2 SGB V) auch auf Personen, mit deren Hilfe Versicherte in die Lage versetzt werden, das Hilfsmittel zu nutzen (BeckOGK/Nolte, § 33 SGB V, Stand: 1. März 2021, Rn. 50; Wagner, in: Krauskopf Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung, § 33 SGB V, Stand: November 2023 Rn. 35).

 

IV. Der Umfang des Versorgungsanspruchs der Klägerin ist allerdings in zweifacher Hinsicht begrenzt.

 

1. Zum einen unterliegt er im Hinblick auf das konkrete Modell eines Aufstehbettes den Geboten der Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 12 SGB V). Deshalb ist bei einem – wie hier – nicht auf ein konkretes Modell gerichteten Anspruch dem Grunde nach der Krankenkasse die Auswahl der wirtschaftlichsten Versorgung überlassen. Unabhängig von eingereichten Kostenvoranschlägen ist die Krankenkasse daher z.B. auch berechtigt, Hilfsmittel nur leihweise zu überlassen (§ 33 Abs. 5 Satz 1 SGB V).

 

2. Aufgrund des Prinzips der Eigenverantwortung der Versicherten und der – bereits mehrfach zitierten – Gebote der Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit der Hilfsmittel sind Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens von der Leistungspflicht der GKV nicht umfasst. Dementsprechend müssen bei Hilfsmitteln, die einen solchen Gebrauchsgegenstand ersetzen, Versicherte einen Eigenanteil für ersparte Aufwendungen in Höhe des wirtschaftlichen Werts tragen. Wirtschaftlicher Maßstab hierfür sind die durchschnittlichen Anschaffungskosten für ein Produkt, welches gesundheitlich nicht eingeschränkte Personen üblicherweise benutzen (BSG, Urteil vom 17. Januar 1996 – 3 RK 39/94 –, Rn. 31; Urteil vom 7. Oktober 2010 – B 3 KR 5/10 R –, Rn. 28; jeweils juris und m.w.N.).

 

Allerdings existieren – soweit ersichtlich – keine statistischen Erhebungen über die durchschnittlichen Anschaffungskosten für Betten in Deutschland. Dies erscheint dem Senat plausibel, weil die jeweils an ein Bett gestellten Anforderungen, etwa bezüglich Größe, Komfort, Material und Ausstattung, und daher das entsprechende Konsumverhalten höchst unterschiedlich sind. Vor diesem Hintergrund hat sich der Senat anhand der Angebotspalette einiger überregional tätiger, das untere und mittlere Preissegment abdeckende Möbelhandelshäuser in Deutschland (Ikea, Möbel-Boss, Roller, Porta, Möbel Höffner, recherchiert jeweils am 22. April 2024) einen Überblick verschafft und auf der Grundlage des jeweils günstigsten und teuersten Modells (Einzelbett mit einer Größe bis 90 x 200 oder 100 x 200 cm, mit Lattenrost, ohne Matratze) einen Mittelwert je Anbieter sowie im Anschluss einen Durchschnitt der Mittelwerte wie folgt gebildet:

- Ikea: Modelle zwischen 50 und 608 € bei einem Mittelwert von 329 € (https://www.ikea.com/de/de/cat/einzelbetten-16285/?filters=f-typed-reference-measurement%3A90x200%20cm_bed%20frames&sort=PRICE_LOW_TO_HIGH, https://www.ikea.com/de/de/cat/einzelbetten-16285/?filters=f-typed-reference-measurement%3A90x200%20cm_bed%20frames&sort=PRICE_HIGH_TO_LOW),

- Möbel-Boss: Modelle zwischen 79,99 und 759,99 € bei einem Mittelwert von 437,99 € (https://moebel-boss.de/betten-C3002?query=:relevance:allCategories:3002:productType:3002:couchArea:100%20x%20200%20cm:couchArea:90%20x%20200%20cm&sortCode=price-asc, https://moebel-boss.de/betten-C3002?query=:relevance:allCategories:3002:productType:3002:couchArea:100%20x%20200%20cm:couchArea:90%20x%20200%20cm&sortCode=price-desc)

- Roller: Modelle zwischen 79,99 und 999,99 € bei einem Mittelwert von 539,99 € (https://www.roller.de/moebel/betten/einzelbetten/?q=:relevance:feature-betten-liegeflaeche:90%2Bx%2B200%2Bcm:feature-betten-liegeflaeche:100%2Bx%2B200%2Bcm&sort=price-asc, https://www.roller.de/moebel/betten/einzelbetten/?q=:relevance:feature-betten-liegeflaeche:90%2Bx%2B200%2Bcm:feature-betten-liegeflaeche:100%2Bx%2B200%2Bcm&sort=price-desc),

- Porta: Modelle zwischen 269,99 und 1.079 € bei einem Mittelwert von 674,50 € (https://porta.de/einzelbetten-C2812?nach=Preis-niedrigster-zuerst, https://porta.de/einzelbetten-C2812?nach=Preis-hoechster-zuerst),

- Möbel Höffner: Modelle zwischen 107,40 und 1.115,40 € bei einem Mittelwert von 611,40 € (https://www.hoeffner.de/einzelbetten).

Der hiernach gebildete Durchschnitt der Mittelwerte i.H.v. (329 € + 437,99 € + 539,99 € + 674,50 € + 611,40 € =) 519 € bildet den von der Klägerin zu tragenden Eigenanteil.

 

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits. Das Unterliegen der Klägerin in Höhe des von ihr zu leistenden Eigenanteils betrifft einen so geringfügigen Teil des Streitgegenstandes, dass er kostenrechtlich ohne Einfluss bleibt.

 

Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.

 

Rechtskraft
Aus
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