1. Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist unvollständig und fehlerhaft, wenn sie nur über die Möglichkeit der Klageerhebung schriftlich oder zur Niederschrift, aber nicht in elektronischer Form belehrt.
2. Allgemein gilt, dass derjenige die objektive Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen.
3. Für das Vorliegen von Ausnahmevorschriften trägt derjenige die Beweislast, der sich auf diese Norm beruft.
4. Für belastende Aufhebungsentscheidungen trägt die Behörde die Beweislast.
5. Eine Umkehr der Beweislast ist anzunehmen, wenn es um Tatsachen geht, die sich ausschließlich in der Sphäre eines Beteiligten befinden.
Der Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. August 2021 wird aufgehoben und es wird festgestellt, dass die Klägerin seit 1. April 2002 Mitglied in der Krankenversicherung der Rentner bei den Beklagten ist.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin seit dem 1. April 2002 bei der Beklagten Mitglied in der Krankenversicherung der Rentner oder freiwillig gesetzlich krankenversichert ist.
Die 1951 geborene Klägerin ist Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung bei der Beklagten. Seit 1996 bezieht sie eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Am 23. November 2020 (Bl. 178 der Behördenakte der Beklagten) beantragte sie den Wechsel in die Krankenversicherung der Rentner anstelle einer freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung. Bereits im Jahr 1996 habe sie dies telefonisch beantragt, die Möglichkeit sei aber von der Beklagten „offen gelassen worden“. In der DDR sei sie 14 Jahre lange sozialversichert beschäftigt gewesen, seit 1984 sei sie in der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls sozialversichert gewesen und bis 1988 bei der AOK pflichtversichert. Von 1994 bis 1996 sei sie arbeitslos und freiwillig gesetzlich krankenversichert gewesen. Seit 1996 beziehe sie eine Erwerbsminderungsrente mit nur geringem Auszahlbetrag.
Mit Schreiben vom 22. Dezember 2020 wies die Beklagte darauf hin, dass sich zum 1. April 2002 die Rechtslage zur Berechnung der Vorversicherungszeiten für eine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner geändert habe. Bis zum 31. März 2002 bestehende freiwillige Krankenversicherung seien grundsätzlich als Pflichtversicherung in der Krankenversicherung der Rentner fortgeführt worden, wenn nicht ein Antrag auf Weiterführung der freiwilligen Krankenversicherung gestellt worden sei. Die Klägerin habe einen solchen Antrag gestellt.
Unter dem 25. Januar 2020 teilte die Klägerin mit, eine entsprechende Mitteilung nie erhalten zu haben und auch nie beantragt zu haben, die freiwillige gesetzliche Krankenversicherung fortführen zu wollen. Sie verlangte daher die sofortige, rückwirkende Umstellung der Krankenversicherung und die Rückzahlung der überzahlten Beiträge.
Mit Bescheid vom 17. Februar 2021 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Die Unterlagen aus dem Jahr 2002 seien aufgrund der gesetzlichen Aufbewahrungspflichten nicht mehr vorhanden. Eine Rekonstruktion des Vorgangs sei deshalb nicht mehr möglich. Die damaligen Bescheide seien aber bestandskräftig. Es verbleibe deshalb bei der freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung.
Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 5. März 2021 Widerspruch ein und fügte ihr Schreiben vom 15. August 1997 bei, mit dem sie die Aufnahme in die Krankenversicherung der Rentner beantragt und widerspruchsweise verfolgt hatte.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17. August 2021 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zwar seien grundsätzlich freiwillige gesetzliche Krankenversicherung in eine Krankenversicherung der Rentner mit Wirkung zum 1. April 2002 übergeleitet worden. Die Klägerin habe aber ihr Optionsrecht für den Verbleib in der freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung ausgeübt. Daher sei rückwirkend die freiwillige gesetzliche Krankenversicherung wiederhergestellt worden. Die Ausübung des Optionsrechts sei unwiderruflich. Da die Aufbewahrungsfristen abgelaufen seien, könnte die Ausübung des Optionsrechts nicht nachgewiesen werden. Die Klägerin trage aber die Beweislast für die Nicht-Ausübung, weil es sich um eine Tatsache handele, auf die sie sich berufe. Die Rechtsmittelbelehrung des Widerspruchsbescheids lautete darauf, dass die Klage bei dem Sozialgericht Darmstadt schriftlich oder zur Niederschrift einzulegen sei.
Hiergegen hat die Klägerin am 21. September 2021 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben. Sie behauptet, sie habe ihr Optionsrecht nicht ausgeübt, vielmehr von der Rechtsänderung keine Kenntnis gehabt. Sie leide seit 1984 an einer starken endogenen Depression und stehe unter ärztlicher Kontrolle.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. August 2021 aufzuheben und festzustellen, dass sie seit dem 1. April 2002 Mitglied in der Krankenversicherung der Rentner bei den Beklagten ist.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte bezieht sich zur Klageerwiderung auf die Gründe ihrer Verwaltungsentscheidungen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
An der Zulässigkeit der Klage bestehen insbesondere keine Bedenken, obwohl die Klagefrist gem. § 87 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht eingehalten war. Gem. § 66 Abs. 1 SGG beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist. Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig, außer wenn die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder eine schriftliche oder elektronische Belehrung dahin erfolgt ist, dass ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei (Absatz 2).
Im vorliegenden Fall war die Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft. Die Rechtsbehelfsbelehrung soll dem Betroffenen aufzeigen, mit welchem Mittel er sich wo und bei wem innerhalb welcher Frist gegen eine Entscheidung wehren kann (sog. Wegweiserfunktion der Rechtsbehelfsbelehrung; BSG v. 16.06.1982 - 10 RKg 35/81; BSG v. 09.02.1995 - 7 Rar 56/94; BSG v. 14.03.2013 - B 13 R 19/12 R; LSG Berlin-Brandenburg v. 25.11.2010 - L 5 AS 1773/10 B PKH; LSG Darmstadt v. 13.04.2012 - L 5 R 154/11; ferner LAG Baden-Württemberg v. 09.05.2018 - 4 TaBV 7/17; VGH Mannheim v. 05.02.2018 - A 11 S 192/18; Sozialgericht Darmstadt v. 23.05.2018 - S 19 AS 309/18 ER; Mink in: BeckOK SozR, 55. Ed. 01.12.2019, SGG, § 66 SGG Rn. 2; Müller, FA 2019, 272, 277; Senger in: jurisPK-SGG, § 66 SGG Rn. 10). Die Wegweiserfunktion ist dann erfüllt, wenn die Rechtsbehelfsbelehrung es dem Beteiligten ermöglicht, ohne Gesetzeslektüre die ersten Schritte zur fristgerechten Rechtswahrnehmung ermöglichen und er über die wesentlichen Formvorschriften belehrt ist (Müller, NVwZ 2020, 1092; Senger in: jurisPK-SGG, § 66 SGG Rn. 10). § 66 SGG ist deshalb im Lichte des Gebots des effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG zu betrachten und entsprechend auszulegen. Hierzu gehört auch die elek
Demzufolge ist auch eine Belehrung über die einzuhaltende Form zwingend. Diese Belehrung ist hier aber unvollständig. In dem Widerspruchsbescheid wird nur über die Möglichkeit belehrt, die Klage schriftlich oder zur Niederschrift zu erheben.
Die Belehrung (auch) über die elektronische Form ist aber zwingender Bestandteil einer vollständigen Rechtsbehelfsbelehrung. Die elektronische Klageerhebung ist in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit bereits seit dem Jahr 2007 zulässig, § 65a SGG. Eine Belehrung über die elektronische Form der Rechtsbehelfseinlegung hatte das BSG zwar in einer Entscheidung aus 2013 noch nicht für erforderlich angesehen (BSG v. 14.03.2013 - B 13 R 19/12 R; vgl. kritisch Müller, NZS 2015, 896, 898; a.A. LSG Darmstadt v. 13.04.2012 - L 5 R 154/11), denn die „elektronische Form“ sei zwar keine Unterform der Schriftform, aber es handele sich nicht um einen „klassischen“ bzw. „allgemein gebräuchlichen“ Weg zu den Gerichten. Die elektronische Einreichung habe trotz ihrer Zulassung noch keine solche praktische Bedeutung erlangt, dass es geboten wäre, die Beteiligten auf diese Form hinzuweisen. Dieser Rechtsprechung war aber spätestens seit dem Jahr 2016 nicht mehr zu folgen (vgl. auch SG Hildesheim v. 03.09.2020 - S 12 AS 13/19). Die Entscheidung des BSG hat sich überholt, denn spätestens seit Bereitstellung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) im Jahr 2016, war die elektronische Klageerhebung nicht mehr als außergewöhnlich zu bezeichnen. Es handelt sich daher bei der elektronischen Form um einen „Regelweg“, mit der Folge, dass ohne einen Hinweis hierauf die Wegweiserfunktion der Rechtsmittelbelehrung nicht erfüllt ist. Denn ein fehlender Hinweis erscheint durchaus geeignet, bei den Beteiligten den Eindruck zu erwecken, dass der Rechtsbehelf eben nicht in elektronischer Form eingelegt werden könne (Müller in: jurisPK-ERV Band 3, 1. Aufl., § 66 SGG Rn. 22).
Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. August 2021 ist rechtswidrig und war deshalb aufzuheben. Es war festzustellen, dass die Klägerin seit dem 1. April 2002 Mitglied in der Krankenversicherung der Rentner bei den Beklagten ist.
Mangels nachweisbarer Ausübung des Optionsrechts der Klägerin zugunsten einer freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung war festzustellen, dass die Klägerin seit dem 1. April 2002 Mitglied in der KVdR bei der Klägerin ist.
Gem. § 9 Abs. 1 Nr. 6 SGB V in der Fassung vom 23. März 2002 können der freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung Bezieher einer gesetzlichen Rente innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt der Versicherungspflicht beitreten, sofern diese nach dem 31. März 2002 gem. § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V versicherungspflichtig geworden sind. Die Klägerin unterfällt dem persönlichen Anwendungsbereich dieser Ausnahmevorschrift, da ihre Versicherungspflicht in der KVdR am 1. April 2002 eingetreten wäre.
Der Beitritt zur freiwilligen Krankenversicherung erfolgt gem. § 9 Abs. 2 SGB V durch Anzeige gegenüber der Krankenkasse. Das Vorliegen einer Beitrittsanzeige ist im Fall der Klägerin nicht nachweisbar. Die Beitrittserklärung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung108 des Berechtigten, die nach § 188 Abs. 3 SGB V schriftlich zu erfolgen hat.109 Andernfalls ist sie nicht wirksam. Die Erklärung muss der zuständigen Krankenkasse zugehen (Baierl in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 9 SGB V (Stand: 15.06.2020), Rn. 83).
Ob eine Beitrittsanzeige (Ausübung des Optionsrechts) durch die Klägerin abgegeben worden ist, ist zwischen den Beteiligten streitig. Die Beklagte hat vorgetragen, dass sie von der Ausübung des Optionsrechts ausgehe, dass die schriftliche Mitteilung der Klägerin allerdings nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungspflichten vernichtet worden sei.
Da die Vernichtung einer evtl. abgegebenen Optionserklärung durch die Klägerin in der Sphäre der Beklagten liegt, trägt diese nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast die prozessualen und beweisrechtlichen Nachteile der Nichterweislichkeit. Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast gilt, dass derjenige benachteiligt ist, der nach Ausschöpfung aller zulässigen und verhältnismäßigen Ermittlungsmöglichkeiten nach speziellen Regelungen des materiellen Rechts oder nach allgemeinen Grundsätzen die Folgen der fehlenden Feststellbarkeit zu tragen hat. Hier sieht das Gericht keine weiteren Ermittlungsmöglichkeiten.
Allgemein gilt, dass derjenige die objektive Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Dies betrifft das Vorhandensein der positiven und das Fehlen der negativen Tatbestandsvoraussetzungen. Dies wäre vorliegend grundsätzlich die Klägerin.
Für das Vorliegen von Ausnahmevorschriften trägt derjenige die Beweislast, der sich auf diese Norm beruft. Für belastende Aufhebungsentscheidungen trägt die Behörde die Beweislast. Eine Umkehr der Beweislast ist schließlich anzunehmen, wenn es um Tatsachen geht, die sich ausschließlich in der Sphäre eines Beteiligten befinden (BeckOGK/Müller, SGG § 103 Rn. 46, 47). Letzteres ist im vorliegenden Fall gegeben. Die (möglicherweise abgegebene) Erklärung der Klägerin befand sich im Aktenbestand der Beklagten. Dass die Beklagten diesen Aktenbestandteil teilweise vernichtet, ist alleine ihrer Sphäre zuzurechnen. Eine Verpflichtung zur Vernichtung bestand auch unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Vorgaben gerade nicht. Der datenschutzrechtliche Grundsatz der Datensparsamkeit beschränkt die Speicherung von Sozialdaten auf das Maß des Erforderlichen. Unterlagen, die für die Begründung des Versicherungsverhältnisses konstitutiv sind, sind aber gerade erforderlich in diesem Sinne und als Beweismittel gerade aufbewahrungspflichtig bis mindestens zur Beendigung bzw. vollständigen Abwicklung des Versicherungsverhältnisses.
Es ist deshalb davon auszugehen, dass eine entsprechende Erklärung durch die Klägerin nicht abgegeben worden ist.
Wenn aber davon auszugehen ist, dass die Klägerin nicht zugunsten einer freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung optiert hat, verbleibt es beim gesetzlichen Regelfall, mithin der Versicherungspflicht der Klägerin in der KVdR gem. § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V ab dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen am 1. April 2002.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.