S 12 KA 218/23

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 12 KA 218/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze


Bei der Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Parodontose-Behandlung ist nicht auf die aktuellste, sondern auf die im streitgegenständlichen Zeitraum gültige Parodontose-Richtlinie abzustellen. Diese ist als untergesetzliche Norm für die Beteiligten verbindlich.

Soweit nach den Vorgaben der Parodontose-Richtlinie der Röntgenbefund aktuelle (in der Regel nicht älter als sechs Monate) auswertbare Röntgenaufnahmen erfordert, zeigt bereits der Zusatz „in der Regel“, dass hiervon im Einzelfall abgewichen werden kann. Hierfür bedarf es aber der einzelfallbezogenen Begründung des Ausnahmefalls in der zahnärztlichen Dokumentation.
 


1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger hat die Gerichtskosten sowie die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beklagten sowie der Beigeladenen zu 2) zu tragen. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um eine Abrechnung systematischer PAR-Behandlungen in einem Behandlungsfall im Mai 2021.

Der Kläger ist vertragszahnärztlich tätig mit einer Praxis in A-Stadt.

Die DAK-Gesundheit stellte mit Schreiben vom 18.01.2022 einen Antrag auf Prüfung der Wirtschaftlichkeit der vertragszahnärztlichen Versorgung bei der Gemeinsamen Prüfungsstelle der Zahnärzte und Krankenkassen in Hessen (im Folgenden nur Gemeinsame Prüfungsstelle) für den Zeitraum 01.04.2021 bis 30.06.2021. Den Antrag begründete sie damit, dass im Behandlungsfall der H. F. die vertraglichen Regelungen nicht eingehalten worden seien. Entsprechend der Richtlinien Abschnitt B. V. 2 zur Parodontosebehandlung seien zur Anamnese und Diagnostik Röntgenaufnahmen erforderlich. Diese sollten in der Regel nicht älter als 6 Monate zum Zeitpunkt der Diagnostik sein. Ihre Feststellungen hätten ergeben, dass im Zeitraum von 18 Monaten vor Ausstellung des Behandlungsplanes keine Röntgenaufnahmen zur Abrechnung gebracht worden seien, so dass sie davon ausgehe, dass diese wesentliche Voraussetzung zur Durchführung einer regelgerechten Parodontosebehandlung nicht gegeben gewesen sei. 

Die Gemeinsame Prüfungsstelle leitete den Antrag an den Kläger weiter und forderte Behandlungsunterlagen an.

Der Kläger teilte in einem kurzen Schreiben am 03.02.2022 mit, dass er zur Beantragung der (lokalen Zweit-) Parodontitisbehandlung der Patientin F., H. keine neuen/aktuellen Röntgenbilder angefertigt (Strahlenschutz!) habe und damit nicht richtlinienkonform gehandelt hätte. Dies habe allerdings weder auf die Notwendigkeit noch auf die ordnungsgemäße Durchführung der Parodontitistherapie einen Einfluss gehabt.

Eine weitere Stellungnahme reichte er am 21.03.2022 ein. Darin teilte er mit, dass er zur PAR-Therapie in o.g. Fall keine (neuen) Röntgenaufnahmen angefertigt hätte, da er keinen diagnostischen Informationsgewinn und schon gar keine therapierelevanten Informationen von neuen Röntgenaufnahmen erwartet hätte. Eine erfolgreiche erste PAR-Therapie sei in diesem Fall im Jahr 2004 durchgeführt worden. Im Rahmen des Recalls sei jährlich ein PAR-Befund erhoben worden, der über die Jahre jeweils eine stabile parodontale Situation wiedergespiegelt hätte. Im Zeitraum 2020-2021 hätten sich im Seitenzahnbereich Taschentiefen von 4 mm und an zwei Stellen von 5 mm entwickelt. Daher habe er sich zu einer zweiten, auf acht Seitenzähne begrenzten, PAR-Therapie entschlossen gehabt. Diese habe er, ohne erneutes Röntgen, nach Genehmigung durch die Krankenkasse im Mai 2021 lege artis durchgeführt. Für ihn hätte bezüglich der Anfertigung von (neuen) Röntgenbildern der Strahlenschutz (§ 83 Strahlenschutzgesetz), bei nicht zu erwartendem diagnostischem Informationsgewinn, im Vordergrund gestanden.

Die Gemeinsame Prüfungsstelle nahm mit Bescheid vom 03.08.2022 eine Honorarkorrektur in Höhe von 347,30 € vor und begründete diese damit, dass kein Röntgenbild angefertigt worden sei. Um aber eine genaue Diagnose bei der Befunderhebung erstellen zu können, seien neben dem PAR-Status unbedingt Röntgenaufnahmen erforderlich, die den gesamten Gebisszustand darstellen würden. In den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 91 Abs. 6 SGB V für die PAR-Behandlung würden als Grundlage für die Therapie aktuelle (in der Regel nicht älter als sechs Monate) auswertbare Röntgenaufnahmen gefordert (Punkt V.2), wobei stets die Gesamtsituation im Gebiss zu beachten sei (Punkt V.3). Ausnahmetabestände seien nicht vorgesehen. Ohne die Beurteilung der Knochensituation sei eine zielführende und auf Nachhaltigkeit ausgelegte Therapieplanung nicht möglich.

Im Behandlungsfall H. F. sei daher wie folgt abzusetzen gewesen:

PAR-Status    255 Pkte x 1,1773 € =      300,21 €
Anästhesien      40 Pkte x 1,1773 € =        47,09 €


Der Kläger legte gegen den Bescheid am 18.08.2022 Widerspruch ein und führte in seinem Schreiben aus, eine Beurteilung der Knochenverhältnisse durch Röntgenaufnahmen vor einer PAR-Ersttherapie oder einer Folgetherapie nach Jahren ohne begleitender Überwachung des Krankheitsverlaufes bzw. deutlicher Erhöhung des Taschenniveaus, sei unumstritten eine notwendige Begleitmaßnahme zur Therapieplanung. Bei einer Zweitbehandlung nach einer längeren Phase mit zweimal jährlichem Recall und lediglich lokaler Reinfektion mit Taschentiefen von unter bis maximal dem Niveau der Erstbehandlung sei eine erfolgreiche und nachhaltige PAR-Therapie ohne erneute Röntgendiagnostik möglich. Die Unbedingtheit der Röntgendiagnostik werde auch durch die Bestimmungen für die PAR-Therapie für Versicherte nach § 22a SGB V in Frage gestellt. Die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, die gemäß § 91 Abs. 6 SGB V keine Ausnahmebestände vorsehe, stehe in dieser Situation den Pflichten des Strahlenschutzverantwortlichen nach § 8 Strahlenschutzgesetz entgegen. Für ihn sei der Strahlenschutz das höhere Rechtsgut. Eine Richtlinie, die den Strahlenschutz ohne Ausnahmebestände einschränke, dürfe in dieser Form keinen Bestand haben. Er strebe daher eine juristische Rechtsgüterabwägung an.

Zur Bearbeitung des Widerspruches forderte der Beklagte die vollständigen Behandlungsunterlagen an. Zur Vorbereitung der Sitzung des Beklagten am 18.04.2023 übersandte dieser dem Kläger den Prüfbericht.

In der Sitzung vom 18.04.2023 beschloss der Beklagten den Widerspruch zurückzuweisen.

Es erging am 31.07.2023 der zurückweisende Bescheid. Darin wiederholte der Beklagte im Wesentlichen den Vortrag aus dem Bescheid der Gemeinsamen Prüfungsstelle.

Anschließend hat der Kläger anwaltlich vertreten Klage erhoben. Er trägt vor, in dem streitgegenständlichen Behandlungsfall sei eine Röntgenuntersuchung aus medizinischer Sicht nicht notwendig und insbesondere nicht zweckmäßig gewesen. Der Umstand, dass er keine aktuellen Röntgenaufnahmen angefertigt habe, hätte weder auf die Notwendigkeit noch auf die ordnungsgemäße Durchführung der PAR-Therapie Einfluss gehabt. Er habe keine Röntgenaufnahmen angefertigt, weil hieraus kein diagnostischer Informationsgewinn und keine therapierelevanten Informationen zu erwarten gewesen seien. In der streitgegenständlichen Situation würden die einschlägigen Leitlinien keine Röntgenaufnahme vorsehen. Überdies habe keine rechtfertigende Indikation gemäß § 83 Abs. 3 StrSchG vorgelegen, weshalb eine Röntgenuntersuchung überhaupt nicht hätte erbracht werden dürfen.

Er weise auch darauf hin, dass im Prüfungszeitraum die PAR-Richtlinie in der Fassung vom 17.12.2020 gegolten habe. Maßstab für die Behandlung in der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung sei gem. § 2 Abs. 1 SGB V der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse, wobei der medizinische Fortschritt zu berücksichtigen sei. Damit sei die aktuellere Richtlinie zu Grunde zu legen. Es handele sich hierbei um Vorgaben zur Qualitätssicherung, daher sei zur qualitativen Prüfung einer Behandlung – auch wenn sei in der Vergangenheit liege – immer der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen und nicht etwa veraltete Vorgaben.

Nach § 3 Abs. 1 der Richtlinie sei die Röntgenuntersuchung nur ergänzend und nur dann durchzuführen, wenn eine rechtfertigende Indikation im Sinne des Strahlenschutzrechts vorliegen würde. Der Vorrang des Strahlenschutzrechtes werde durch die PAR-Richtlinie nicht eingeschränkt. Vielmehr habe der G-BA die PAR-Richtlinie nach den Vorgaben des Strahlenschutzgesetzes ausgestaltet. Hier sei noch der ergänzende Hinweis angebracht, dass zwischen einer (evidenzbasierten) medizinischen Indikation für eine Röntgenuntersuchung einerseits und der strahlenschutzrechtlich relevanten rechtfertigenden Indikation hierzu andererseits zu unterscheiden sei. Es handele sich um zwei verschiedene Prüfprogramme. Beide Voraussetzungen müssten erfüllt sein, damit eine radiologische Untersuchung berechtigterweise durchgeführt werden dürften. Dies hätten die Prüfgremien nicht gesehen.

Die im Dezember 2020 veröffentlichte S3-Leitlinie „Die Behandlung von Parodontitis Stadium I bis III“ zeige auf Seite 29 ebenfalls, dass die radiologische Feststellung des Knochenabbaus lediglich eines von mehreren gleichwertigen diagnostischen Verfahren sei. Daraus folge, dass die radiologische Diagnostik entgegen der Auffassung der Prüfgremien unter evidenzbasierten wissenschaftlichen Gesichtspunkte weder obligat noch notwendig sei. Mit der Sondierung zur Feststellung der Indikation für die PAR-Therapie sowie der vorangegangenen Langzeitüberwachung im Rahmen des - ebenfalls - leitliniengerechten jährlichen Recall-Systems sei eine Röntgenuntersuchung obsolet gewesen.

Das Gericht hat mit Beschluss vom 24.08.2023 die Kassenzahnärztliche Vereinigung Hessen, die sechs Verbände der Krankenkassen in Hessen sowie die antragstellende Krankenkasse zum Verfahren beigeladen.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 31.07.2023 aufzuheben.

Der Beklagte und die Beigeladene zu 2) beantragen jeweils,
die Klage abzuweisen.

Die restlichen Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.

Der Beklagte trägt vor, die vom Kläger zitierte Richtlinie vom 17.12.2020 sei im Bundesanzeiger am 21.06.2021 (BAnz AT 21.06.2021 B2) veröffentlicht worden und am 01.07.2021 in Kraft getreten. Da die hier in Rede stehende PAR-Behandlung im II. Quartal 2021 stattgefunden habe und in diesem Quartal auch abgeschlossen worden sei, sei diese Richtlinie im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Der Fall sei vielmehr nach der vorangegangenen Richtlinie, die bis zum 30.06.2021 gültig gewesen sei, zu beurteilen. Es werde darauf hingewiesen, dass diese PAR-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses den Rechtscharakter einer Norm aufweise und für die Behandlung von GKV-Patienten durch Vertragszahnärzte verbindlich sei.

Für den vorliegenden Fall sei festzustellen, dass unter Punkt V. 2 der bis zum 30.06.2021 gültigen Richtlinie eindeutig neben dem klinischen Befund bzw. dem PAR-Status Röntgenaufnahmen vorliegen und befundet sein müssten, die in der Regel nicht älter als sechs Monate sein dürften. Ausnahmetatbestände kenne die Richtlinie in diesem Zusammenhang nicht. Die Verbindlichkeit dieser Richtlinie könne auch nicht durch Hinweise auf die potentielle Strahlenbelastung durch die geforderte Röntgenaufnahme relativiert werden. Die sich aus radiologischen Untersuchungen ergebende Strahlenbelastung sei dem G-BA nämlich durchaus bekannt gewesen.

Ein exzeptioneller Ausnahmefall, der höchst ausnahmsweise - wie dargestellt - den Verzicht auf die Anfertigung einer Röntgenaufnahme auch in Ansehung der gültigen Richtlinie rechtfertigen könne, liege nicht vor und sei auch nicht in der Falldokumentation des Klägers entsprechend dokumentiert worden.

Auf die von der Verfahrensbevollmächtigten des Klägers zitierten S3-Leitlinien zur Behandlung von Parodontitis komme es damit nicht mehr an, da die seinerzeit gültige PAR-Richtlinie als Rechtsnorm eindeutig den Vorrang gegenüber einer solchen Empfehlung aufweise.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte des Beklagten sowie auf die vorgelegten Behandlungsunterlagen Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.


Entscheidungsgründe

Die Kammer hat in der Besetzung mit einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Vertragszahnärzte sowie einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Sie konnte dies trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beigeladenen zu 1), 3), 4) und 7) tun, weil diese ordnungsgemäß geladen und auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (§ 110 Abs. 1 SGG).

Die Klage ist zulässig, denn sie ist insbesondere form- und fristgerecht bei dem zuständigen Sozialgericht erhoben worden.

Gegenstand des Verfahrens ist nur der Bescheid des Beklagten, nicht auch der der Prüfungsstelle. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird (stRspr des BSG, vgl. BSGE 78, 278, 280).

Die Klage ist aber unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 31.07.2023 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Im System der gesetzlichen Krankenversicherung nimmt der an der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung teilnehmende (Zahn)Arzt - Vertrags(zahn)arzt - die Stellung eines Leistungserbringers ein. Er versorgt die Mitglieder der Krankenkassen mit (zahn)ärztlichen Behandlungsleistungen, unterfällt damit auch und gerade dem Gebot, sämtliche Leistungen im Rahmen des Wirtschaftlichen zu erbringen. Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, darf er nach dem hier anzuwendenden Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch, Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) nicht erbringen. Die Krankenkassen und die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen überwachen die Wirtschaftlichkeit der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung. Über die Frage, ob der Vertrags(zahn)arzt gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen hat und welche Maßnahmen zu treffen sind, entscheiden die Prüfgremien (§ 106 Abs. 1, Abs. 2, § 106a Abs. 1 und § 106c Abs. 1, Abs. 3 SGB V).

Konkretisiert wird das Wirtschaftlichkeitsgebot im Bereich der systematischen Parodontose-Behandlung gemäß § 91 Abs. 6 SGB V durch die Richtlinien für die systematische Behandlung von Parodontopathien (PAR-Behandlung) als Abschnitt V der zum 01.01.2004 in Kraft getretenen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Behandlungsrichtlinien) vom 04.06.2003/24.09.2003, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2003, Seite 24966 (im Folgenden: Parodontose-Richtlinien).

Entgegen der Auffassung des Klägers kommt vorliegend nicht die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur systematischen Behandlung von Parodontitis und andere Parodontalerkrankungen in der Fassung vom 17.12.2020 oder gar in der Fassung vom 16.12.2021 zur Anwendung, da diese aktualisierten Parodontose-Richtlinien erst zum 01.07.2021 bzw. 13.05.2022 in Kraft getreten sind und damit außerhalb des streitgegenständlichen Behandlungszeitraumes. Eine Rückwirkung der neuen Parodontose-Richtlinien ist ausgeschlossen.

Soweit der Kläger vorträgt, es sei der medizinische Fortschritt zu berücksichtigen, weshalb immer die aktuellere Richtlinie zugrunde zu legen sei, verkennt dies den Charakter der Richtlinie als untergesetzliche Norm, die in ihrem Geltungszeitraum unter anderem für die Versicherten und Leistungserbringer verbindlich ist (vgl. § 91 Abs. 6 SG V). Dies bedeutet, dass auf die im maßgeblichen Zeitraum gültige Richtlinie zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit abzustellen ist. Soweit sich Änderungen im Hinblick auf das Qualitätsmanagement oder neue medizinische Erkenntnisse ergeben, ist es die Aufgabe des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) die Regelungen anzupassen. Dabei bestimmt der G-BA auch ab welchem Zeitpunkt die Änderung eintreten soll. Da die angepasste Richtlinie erst zum 01.07.2021 in Kraft getreten und keine rückwirkende Geltung anordnet, kann sie für die Behandlung vor diesem Zeitraum keine Geltung beanspruchen. Die Wirtschaftlichkeit der Parodontosebehandlung ist infolgedessen anhand der bis zum 30.06.2021 geltenden Parodontose-Richtlinie zu bestimmen.

Der Bescheid ist formell und materiell rechtmäßig ergangen, da er richtigerweise auf die Anforderungen der bis zum 30.06.2021 geltenden Parodontose-Richtlinien abstellt.

Der Beklagte hat zu Recht die Behandlung als unwirtschaftlich eingeordnet, da die Voraussetzungen der Parodontose-Richtlinien nicht erfüllt sind.

Für die Dokumentation des klinischen Befunds (Parodontalstatus) wird in Abschnitt V.2. Parodontose-Richtlinien unter der Überschrift "Anamnese und Diagnostik im Hinblick auf den Parodontalzustand" Folgendes ausdrücklich geregelt:

„Anamnese und Diagnostik im Hinblick auf den Parodontalzustand
Grundlage für die Therapie sind die Anamnese, der klinische Befund (Parodontalstatus) und Röntgenaufnahmen. Die Krankenkasse kann vor der Kosten-Übernahmeentscheidung diese Unterlagen und den Patienten begutachten lassen. Die Anamnese umfasst:
-    Allgemeine Anamnese (darunter Risikofaktoren für Parodontitis wie Diabetes mellitus, Tabakkonsum, HIV-Infektion im fortgeschrittenen Stadium, Behandlung mit immun-suppressiven Medikamenten, Osteoporose)
-    Familienanamnese im Hinblick auf Parodontalerkrankungen
-    Spezielle Anamnese (Schmerzen, Vorbehandlungen)
Die Dokumentation des klinischen Befunds (Parodontalstatus) umfasst:
-    Taschentiefen und Blutung der Zahnfleischtaschen auf Sondieren
-    Parodontale Rezessionen um einen Ausgangswert für die Beurteilung einer möglichen Progression der Parodontitis zu erheben; fakultativ und alternativ kann auch der klinische Attachmentverlust aufgezeichnet werden.
-    Furkationsbefall:
Grad 1 = bis 3 mm in horizontaler Richtung
Grad 2 = mehr als 3 mm in horizontaler Richtung
Grad 3 = durchgängig
-    Zahnlockerung:
Grad I = gering horizontal (0,2 mm – 1 mm)
Grad II = moderat horizontal (mehr als 1 mm)
Grad III = ausgeprägt horizontal (mehr als 2 mm) und in vertikaler Richtung
Der Röntgenbefund erfordert aktuelle (in der Regel nicht älter als sechs Monate), auswertbare Röntgenaufnahmen. 
Die Diagnosen sind gemäß der jeweils gültigen Klassifikation der Parodontitiden der maßgeblichen parodontologischen Fachgesellschaft anzugeben.“

Die Einhaltung der Behandlungsrichtlinien sind Voraussetzung einer wirtschaftlichen PAR-Behandlung. Ein Vertragszahnarzt hat die Dokumentation so zu führen, dass die erbrachten Leistungen für einen Zahnarzt nachvollziehbar sind. Aus ihnen muss auch die Einhaltung der Behandlungsrichtlinien hervorgehen (vgl. SG Marburg, Urteil vom 15.11.2017, S 12 KA 796/16, Rn. 71 Juris unter Verweis auf SG Marburg, Urteil vom 21.11.2012, S 12 KA 8/12, Rn. 40 u. 89 f. Juris m. w. N., sowie SG Marburg, Urteil vom 17.11.2013, S 12 KA 419/13, Rn. 84 Juris). Die Dokumentation ist parallel zur Behandlung zu erstellen und beruht auf den eigenen Angaben des Vertragszahnarztes. Soweit keine Anzeichen für eine unwahre Dokumentation vorliegen, haben die Prüfgremien von der Richtigkeit der Dokumentation auszugehen. Damit beruht die Abrechnung, was fast für das gesamte Abrechnungswesen gilt, im Wesentlichen allein auf den Angaben des Vertragszahnarztes. Im Umkehrschluss muss sich dieser aber an seiner eigenen Dokumentation festhalten lassen und ist ihm der Einwand, er habe die Leistungen, zu deren Dokumentation er verpflichtet ist, zwar nicht dokumentiert, aber dennoch erbracht, abgeschnitten (vgl. SG Marburg, Urteil vom 15.11.2017, S 12 KA 796/16, Rn. 71 Juris unter Verweis auf SG Marburg, Urteil vom 05.12.2007, S 12 KA 804/06 Rn. 37 Juris; SG Marburg, Urteil vom 18.11.2015, S 12 KA 443/14, Umdruck S. 15).

An die aus den Parodontose-Richtlinien folgenden Vorgaben hat sich der Kläger nicht gehalten. Punkt V.2. der bis zum 30.06.2021 gültigen Richtlinie fordert die Aufnahme und Befundung von aktuellen Röntgenbildern. Diese Anforderung der Behandlungsrichtlinie hat der Kläger – was er auch einräumt – nicht erfüllt.

Nach Auffassung der Kammer lässt sich eine Ausnahme von der Verpflichtung zur Anfertigung von Röntgenbildern nicht allein aus den Normen des Strahlenschutzes oder der S3-Leitlinie ableiten. Während die vom Kläger aufgeführte S3-Leitlinie unverbindlich ist, ist davon auszugehen, dass dem G-BA die aus radiologischen Untersuchungen ergebene Strahlenbelastung bekannt war. Eine Regelungslücke der Parodontose-Richtlinien, die durch die (analoge) Anwendung der strahlenschutzrechtlichen Normen geschlossen werden müsste, liegt hier nicht vor. Dies vor allem auch deshalb, weil die Parodontose-Richtlinien zwar die Anfertigung von aktuellen Röntgenbildern zur Grundvoraussetzung für Abrechenbarkeit der PAR-Behandlung machen, jedoch durch die Formulierung „in der Regel“ gleichzeitig genügend Raum lassen, um im Einzelfall von der Anfertigung (aktueller) Röntgenbilder abzusehen. Ein solcher Ausnahmefall muss aber vom Vertragsarzt ausreichend in seiner Dokumentation begründet werden.

Hieran fehlt es vorliegend, da der Kläger in seiner ansonsten sehr ausführlichen Dokumentation jegliche Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Notwendigkeit der Anfertigung von Röntgenbildern vermissen lässt. Es ist aus der vorgelegten Karteikarte für die fachkundig besetzte Kammer weder erkennbar, dass dem Kläger die grundsätzliche Notwendigkeit der Anfertigung aktueller Röntgenbilder bewusst war, noch aus welchen Gründen er die Anfertigung im vorliegenden Fall für entbehrlich gehalten hat. Eine Begründung der Abweichung über die Notierung der Taschentiefen hinaus war vorliegend nach Auffassung der Kammer alleine deshalb angezeigt, da sich aus dem Parodontalstatus eine Furkationsbeteiligung ergibt, die wiederum im Regelfall die Anfertigung von Röntgenbildern erforderlich macht. Soweit der Kläger hierzu in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass dieser Befund unverändert so schon seit Anfertigung des ersten Röntgenbildes vorgelegen hätte, so wäre es jedenfalls notwendig gewesen, diese Einschätzung auch in die Dokumentation aufzunehmen.

Der Verweis auf die Sondierung und das durchgeführte Recall-System reicht der Kammer ebenfalls nicht zur Begründung aus. Zwar findet sich beides in der Dokumentation, jedoch nicht im Zusammenhang mit der Frage, ob die Anfertigung von Röntgenbilder notwendig war.

Ohne die Begründung des Ausnahmefalls in der Dokumentation fehlt es aber an einem Beleg für das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abweichen von der grundsätzlichen Verpflichtung zur Anfertigung von Röntgenbildern, sodass es bei der in der Richtlinie geregelten Verpflichtung bleibt.

Durch die Nichtanfertigung der geforderten Röntgenbilder ist die PAR-Behandlung im Fall H. F. unwirtschaftlich gewesen, wodurch der Beklagte die streitgegenständliche Absetzung der Behandlung in Höhe von 347,30 € vornehmen konnte.

Die Klage war daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Danach bedarf die Berufung der Zulassung im Urteil des Sozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 € nicht übersteigt. Dies ist vorliegend der Fall. 

Die Berufung war auch nicht nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung aufweist.
 

Rechtskraft
Aus
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