L 10 R 1319/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 17 R 1821/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 1319/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Bloße bildgebend sichtbare hirnorganische Veränderungen ohne funktionelle Defizite begründen keine zeitliche Leistungseinschränkung für leichte berufliche Tätigkeiten; Entsprechendes lässt sich auch nicht daraus ableiten, dass der Versicherte angibt, im Haushalt nur noch „das Nötigste“ zu machen.
2. Für die Frage des Eintritts eines Versicherungsfalls der Erwerbsminderung spielt es auch keine entscheidende Rolle, welche therapeutischen Möglichkeiten bestehen und ob diese ausgeschöpft sind; ebenso richtet sich die medizinische Beurteilung nicht nach bloßen „Eindrücken“ der erkennenden Richter vom Versicherten in Terminen, sondern nach überdauernden funktionellen Defiziten auf Grundlage objektiv-klinischer, ärztlicher Befunde, die schlüssig und nachvollziehbar sein müssen.
3. Die Zuerkennung eines Pflegegrads, noch dazu allein aufgrund eines „strukturierten Telefoninterviews“ mit Angehörigen des Versicherten, hat für sich gesehen keinerlei Aussagekraft zur zumutbaren beruflichen Einsetzbarkeit.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 04.04.2023 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Beteiligten streiten noch darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen (voller) Erwerbsminderung im Zeitraum vom 01.01.2022 bis 31.12.2024 hat.

Der 1961 geborene Kläger absolvierte nach eigener Angabe von Anfang September 1977 bis Ende Juli 1980 erfolgreich eine Ausbildung zum Schreiner (S. 66 VerwA). In der Folgezeit war er - mit Unterbrechungen namentlich durch Zeiten der Arbeitslosigkeit - in diesem Beruf bzw. als Fensterbauer und Landwirtschaftshelfer beschäftigt. Zuletzt arbeitete er von 2008 (so seine Angabe, S. 102, 146 SG-Akte) bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit im September 2016 (vgl. S. 209 und 284 VerwA) versicherungspflichtig als Hausmeister in einem Kinderdorf. Von Mitte Oktober 2016 bis Mitte Oktober 2019 bezog er Kranken- bzw. Arbeitslosengeld und ab März 2020 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Wegen der weiteren Einzelheiten der zurückgelegten rentenrechtlichen Versicherungszeiten wird auf den Versicherungsverlauf vom 21.11.2022 (S. 180 ff. SG-Akte) Bezug genommen. Bei dem Kläger ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt (S. 168 VerwA); außerdem erhält er von der Pflegekasse Pflegegeld nach Pflegegrad 2 (Bescheid vom 01.07.2020, S. 85 VerwA).

Aus zwei Rehabilitationsmaßnahmen auf Kosten der Beklagten (stationär im Dezember 2015/Januar 2016 in der
S1-klinik B1 - Abt. Psychosomatik - und ganztägig ambulant im Oktober 2018 im Zentrum für ambulante Rehabilitation - Z1 - in A1) wurde der Kläger jeweils mit einem zeitlichen Leistungsvermögen für jedenfalls leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts im Umfang von sechs Stunden und mehr täglich entlassen (s. im Einzelnen die ärztlichen Entlassungsberichte vom 14.01.2016, S. 182 ff. VerwA und vom 23.10.2018, S. 234 ff. VerwA).

Den Antrag des Klägers auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung von Mitte Juni 2019 lehnte die Beklagte nach Durchführung medizinischer Ermittlungen (u.a. Einholung des Gutachtens des Facharztes
H1 vom 20.09.2019 mit Hinweis auf ein aggravierendes Beschwerdevorbringen des Klägers, S. 294 ff. VerwA) ab (Bescheid vom 10.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.11.2019).

Am 15.06.2020 beantragte der Kläger unter Verweis auf seine weitere (tagesklinische) Behandlung erneut die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte versagte dies zunächst wegen mangelnder Mitwirkung des Klägers (kein Formrentenantrag trotz Aufforderung) mit Bescheid vom 02.09.2020. Nachdem der Kläger den Formrentenantrag unter dem 22.09.2020 eingereicht hatte (s. S. 59 VerwA), zog die Beklagte (weitere) medizinische Befundunterlagen bei und ließ diese durch
H1 sozialmedizinisch auswerten (Stellungnahme vom 06.10.2020, S. 347 f. VerwA). Beim Kläger bestünden, so der Beratungsarzt, degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit lumbaler Spinalkanalstenose L1/2, ein Zustand nach (Z.n.) Operation eines Bandscheibenvorfalls L1/2 im November 2019 - gebessert entlassen -, eine sehr leichte Fußheberparese bei konservativer Therapieempfehlung, ein Z.n. tagesklinischer Behandlung einer mittelgradigen depressiven Episode bei rezidivierend depressiver Störung - gebessert entlassen - sowie eine somatoforme Schmerzstörung. Von neurologisch-psychiatrischer Seite sei der zuerkannte Pflegegrad nicht nachvollziehbar. Der Kläger könne leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts in wechselnder Körperhaltung noch sechs Stunden und mehr arbeitstäglich verrichten (ohne Nachtschicht, ohne besonderen Zeitdruck, ohne Klettern und Steigen bzw. auf Leitern und Gerüsten). Mit Bescheid vom 07.10.2020 (S. 90 ff. VerwA) lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers in der Sache mangels Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen ab.

Im Widerspruchsverfahren holte sie sodann nach Beiziehung weiterer ärztlicher Unterlagen das Gutachten des Facharztes
B2 vom 24.05.2021 ein (S. 361 ff. VerwA), der beim Kläger nach Untersuchung und unter Hinweis auf eine auffällige Beschwerdeaggravation sowie nicht authentische Beschwerdeangaben bei Rentenbegehren eine somatoforme Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren sowie eine rezidivierende depressive Störung, aktuell leichtgradige Episode, diagnostizierte. Der Gutachter bestätigte die Leistungsbeurteilung des H1 (zusätzliche qualitative Einschränkungen: keine hohen Anforderungen an das Anpassungs- und Umstellungsvermögen und keine hohe Verantwortung für Personen). Hierauf gestützt wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 21.07.2021 (S. 160 ff. VerwA) zurück.

Dagegen hat der Kläger am 06.08.2021 beim Sozialgericht Ulm (SG) mit dem Begehren auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung (zunächst begehrt auf Zeit, in der mündlichen Verhandlung vor dem SG dann auf Dauer und „hilfsweise“ auf Zeit ab dem 01.06.2020 gefasst, S. 192 SG-Akte) Klage erhoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen auf die aktenkundigen Berichte der Ärzte der Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums
S1 W1 respektive auf die dort „festgestellte“ Arbeitsunfähigkeit und Empfehlung einer regelmäßigen fachpsychiatrischen Kontrolle bzw. der Durchführung einer ambulanten Psychotherapie verwiesen; es sei „unklar“, ob diese Berichte dem Gutachter vorgelegen hätten. Außerdem sei der Kläger wegen seiner instabilen psychischen Gesundheitssituation auch weiterhin behandlungsbedürftig; auf der Psyche beruhe auch sein eingeschränktes Hörvermögen. 

Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen gehört.
S2 hat in seiner Auskunft vom 27.10.2021 (S. 28 SG-Akte) über eine geringgradige Schwerhörigkeit links mit Ohrgeräuschen beim Kläger berichtet; Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit resultierten daraus nicht. Der S3 hat über eine einmalige Behandlung des Klägers am 27.10.2021 berichtet (Diagnosen: Dysthymie, rezidivierende depressive Störung, zurzeit mittelgradige Episode, somatoforme Schmerzstörung bei somatischen und psychischen Faktoren, Polyarthritis, Z.n. Bandscheibenvorfall im November 2019); zum zeitlichen Leistungsvermögen hat sich der Arzt nicht zu äußern vermocht (Auskunft vom 27.10.2021, S. 34 f. SG-Akte) und im Übrigen auf seinen Arztbrief vom 27.10.2021 (S. 70 f. SG-Akte, Befund: wach, bewusstseinsklar, zeitlich, örtlich, situativ und zur Person orientiert, in der Stimmung bedrückt, sorgenvoll, keine Suizidalität, affektiver Rapport und Psychomotorik ohne Befund [o.B.], psychisch auslenkbar, Auffassung und Kooperationsfähigkeit o.B., kein wahnhaftes Erleben, Halluzinationen oder schizophrene Ich-Störungen, keine kognitiv mnestischen Beeinträchtigungen, „berichtet“ über Zukunftsängste, psychosomatische Beschwerden) verwiesen. K1 hat in ihrer Auskunft vom 29.10.2021 (S. 36 f. SG-Akte, nebst Karteikartenauszug S. 57 f. SG-Akte) gemeint, der Kläger könne wegen schwerer psychischer Probleme mit chronischen Schmerzen (freilich zuletzt diagnostiziert am 21.10.2021: Angst und depressive Störung, gemischt, F41.2 ICD-10, S. 58 SG-Akte) einer leichten beruflichen Tätigkeit nicht mehr im Umfang von mindestens sechs Stunden arbeitstäglich nachgehen; seit Dezember 2019 sei sein Gesundheitszustand gleichbleibend. Wegen der von ihr vorgelegten (teilweise bereits aktenkundigen) Facharztberichte wird auf S. 38 ff. SG-Akte verwiesen.

Die Beklagte hat die sozialmedizinische Stellungnahme des 
F1 vom 16.12.2021 (S. 61 SG-Akte) vorgelegt, der darauf hingewiesen hat, dass sich aus den aktenkundigen Unterlagen weiterhin eine zeitliche Leistungslimitierung nicht ergebe, insbesondere sei die Leistungseinschätzung der Hausärztin nicht nachvollziehbar. Die Klägerseite wiederum hat diese Einschätzung verteidigt, auf den zuerkannten Pflegegrad sowie auf die „prekäre Situation“ des Klägers mit psychopharmakologischer Medikation verwiesen (s. im Einzelnen S. 64 SG-Akte).

Sodann hat das SG bei
K1 Patientenunterlagen für die Zeit ab November 2021 (s. dazu S. 68 ff. SG-Akte, u.a. Arztbrief des B3 vom 24.02.2022, S. 68 SG-Akte: Z.n. Hodenkarzinom rechts [1989], Prostataadenom, hypogonadotroper Hypogonadismus, befundlich unter guter Testosteron-Therapie im Wesentlichen bis auf eine rektal vergrößerte adenumkonsistente Prostata - nicht tastsuspekt - nichts Auffälliges bei deutlich verbesserter körperlicher Symptomatik) und bei S3 einen Bericht über die dortige Untersuchung des Klägers am 10.02.2022 beigezogen (S. 76 SG-Akte, u.a.: Symptomatik „bei Anamnese und psychopathologischem Befund“ [freilich: nicht weiter mitgeteilt] „etwas“ verschlechtert, daher Paroxetin [Antidepressivum] von 30 auf 40 mg aufdosiert).

Im Anschluss daran hat das SG bei
R1 von Amts wegen das Sachverständigengutachten vom 07.06.2022 (S. 86 ff. SG-Akte) eingeholt. Gegenüber R1, die den Kläger am 17.05.2022 im Beisein von dessen Schwägerin (der Lebenspartnerin seiner Schwester) untersucht hat, hat der Kläger u.a. angegeben, „tagsüber viel zu machen“ („eigentlich den ganzen Tag aktiv“, auch körperlich, S. 114 SG-Akte), insbesondere im Schuppen des im Übrigen komplett verpachteten Bauernhofs der Familie, „wirklich depressiv sei er jetzt nicht“ (S. 99 SG-Akte). Tagsüber schaue er „nach den Sachen“ (im Schuppen) oder „fahre eine Runde auf dem Fahrrad“ bzw. „als Hobby manchmal“ Motorrad (S. 102 SG-Akte; freilich gegenüber B2 noch, S. 364 VerwA: „Land- und Forstwirtschaft weiter sein Hobby“, Helfen der Nachbarn, z.B. im Wald „Holz machen“, „schaffen im Maschinenschuppen“, mit dem Schlepper). Er sei - so seine Angaben (a.a.O.) - ein „kontaktfreudiger Mensch“ („mag Menschen“, trifft sich mit Nachbarn), esse tagsüber an einem Imbiss bzw. hole sich beim Metzger eine Semmel, sehe TV und empfange Besuch von seiner Schwester aus Bayern (a.a.O.). Bezüglich der Haushaltsführung hat der Kläger - so die Sachverständige - „ausweichende“ Antworten gegeben (S. 99 SG-Akte), er mache „nur das Nötigste, zum Einkaufen komme alle zwei bis drei Wochen die Schwägerin und die Schwester“ (S. 102 SG-Akte). Die Schwägerin wiederum hat behauptet, der Kläger könne „eigentlich gar nichts alleine“ machen, er habe Angst vor allem (S. 99 SG-Akte). Den zuerkannten Pflegegrad erwähnte weder der Kläger, noch seine Schwägerin, ebenso wenig wie eine aufsuchende Pflege oder eine Haushaltshilfe, worauf R1 ausdrücklich aufmerksam gemacht hat (S. 101 SG-Akte).

Die Sachverständige hat beim Kläger körperlich-somatisch (s. im Einzelnen S. 104 ff. SG-Akte) ein regelrechtes, flüssiges Gangbild mit normaler Schrittgeschwindigkeit (normales Schuhwerk, keine Hilfsmittel) bei unauffälliger erschwerter Gangprüfung, einen kräftig-muskulösen Habitus („sonnengebräunt“, S, 114 SG-Akte), ein problemloses in die tiefe Hocke gehen, ein problemloses Sitzen während der Untersuchung, eine regelrechte Wirbelsäulenbeweglichkeit ohne Nervenwurzelreize (S. 111 SG-Akte), eine freie Beweglichkeit aller Extremitätengelenke, eine „gute“ Feinmotorik, eine unauffällige Motorik bei symmetrischen Kraftgraden, eine regelrechte Somatosensorik sowie eine nur leichte Schwerhörigkeit ohne Hörgeräteversorgung beschrieben; bei der gesamten Untersuchung hätten sich keinerlei Hinweise auf Schmerzen gefunden (lediglich Angabe einer Schmerzaffektion unterhalb der Fußsohle, S. 116 SG-Akte).

Psychopathologisch (s. im Einzelnen S. 106 f. SG-Akte) hat der Kläger - so
R1 - nur am Anfang der Untersuchung ängstlich „gewirkt“, im Verlauf hat er sich dann im Kontakt freundlich zugewandt, humorvoll, bei „guter“ Schwingungsfähigkeit und herstellbarem affektiven Rapport sowie normaler Stimmung (S. 114 SG-Akte) gezeigt. Die Sachverständige hat ihn als „einfach strukturiert“ beschrieben, wobei seine geistige Flexibilität und Auffassungsgabe nur „etwas“ vermindert gewirkt habe (freilich in der Testung: Prüfung der Auffassungsgabe unauffällig, S. 115 SG-Akte). Bewusstseinsstörungen sowie Störungen der Mnestik und Kognition hat die Sachverständige entgegen den subjektiven Angaben des Klägers klinisch verneint. Ebenso wenig hat sie inhaltliche Denkstörungen oder produktive Symptome (Wahn, Halluzinationen, Sinnestäuschungen, Ich-Störungen) feststellen können; lediglich teilweise hat der Kläger mit einer ängstlichen Grübelneigung („etwas fassadär“) sowie mit Insuffizienz- und Minderwertigkeitsgefühlen imponiert. Eine Antriebsstörung hat R1 in Ansehung der (o.a.) Tagesaktivitäten verneint, ebenso wie eine besondere Erschöpfbarkeit bei unauffälliger Psychomotorik. Im Beck-Depressions-Inventar - den Testfragebogen hat die Schwägerin entsprechend den Angaben des Klägers ausgefüllt (S. 109 SG-Akte) - haben sich demgegenüber Hinweise auf eine schwere Depression ergeben - was R1 als „leichte Beschwerdebetonung“ bei auch im Übrigen diskrepantem (Schmerz-)Beschwerdevorbringen bewertet hat (S. 115, 116 SG-Akte) -, im Blutserumspiegel ein Mirtazapinwert [Antidepressivum] deutlich unterhalb des therapeutischen Wirkbereichs (s. S. 110 SG-Akte).

Die Sachverständige hat beim Kläger auf ihrem Fachgebiet eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichtgradig, bei Verdacht auf (V.a.) eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsakzentuierung „allenfalls auf dem Boden stattfindender Hirnabbauprozesse“ sowie eine somatoforme Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren diagnostiziert (S. 117 SG-Akte) und gemeint, dass eine dementielle Entwicklung (Hinweis auf die Schädel-MRT vom 25.03.2020, S. 324 VerwA: nur beginnende/leichte Aspekte einer cerebralen Mikroangiopathie mit einzelnen sehr kleinen lakunären Infarktarealen cerebral beidseits; keine größeren Infarkt-Defekte, auch keine akute intracranielle Ischämie und auch keine Hinweise auf eine sonstige Liquorzirkulationsstörung) sowie - auf der Grundlage der fremdanamnestischen Angaben der Schwägerin - eine Neigung des Klägers zur „Bagatellisierung nicht gänzlich ausgeschlossen werden“ könne (S. 116 SG-Akte). Der Umstand, dass beim Kläger ein stationärer Aufenthalt in einer Schmerzklinik geplant und dass er Oxycodon [Opioid-Analgetikum] einnehme (s. freilich erneut Medikamentenspiegel, S. 110, 155 SG-Akte: Nachweis der Antidepressiva Mirtazapin und Paroxetin; Angabe des Klägers: Oxycodon 9 mg morgens, S. 100, 128 SG-Akte, er nehme „alle Medikamente gewissenhaft ein“, S. 100 SG-Akte), spreche - ausdrücklich entgegen den vorangegangenen gutachtlichen Darlegungen - für einen „gewissen“ Leidensdruck (S. 116 f. SG-Akte). Ohne fremde Hilfe könne der Kläger nicht „vollschichtig“ und konkurrenzfähig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig werden (S. 117 SG-Akte); aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen sei die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit derart beeinträchtigt, dass es bei „Verdacht der Entwicklung einer dementiellen Erkrankung“ (S. 120 SG-Akte) zu einer Dekompensation kommen würde. Es sei von einem Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten im Umfang von drei bis unter sechs Stunden täglich auszugehen (ohne erhebliche Anforderungen an die Umstellungs-, Anpassungs- und Konzentrationsfähigkeit, ohne Schichtarbeit und ohne Stressbelastung, z.B. Akkord). Diese Leistungseinschränkung bestehe („erst“) ab dem 09.06.2021 (Entlassung aus der teilstationären Behandlung; s. dazu den Entlassungsbericht der Ärzte des Klinikums
S1 in  W1 vom 08.06.2021, S. 41 ff. SG-Akte; dort freilich unter Angabe der nervenärztlichen Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode: keine fronto-temporale-Demenz oder eine andere rasch progrediente Demenz, bei Entlassung Stimmung noch wechselhaft, aber deutlich schwingungsfähiger, Antrieb gebessert, Kläger zeigt sich reflektierter, bei Bedarf Unterstützung durch den sozial-psychiatrischen Dienst, Fortführung der ambulanten psychiatrischen Betreuung); die therapeutischen Möglichkeiten seien ausgeschöpft, eine Leistungssteigerung mittels „entsprechender“ Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben („Re-Integration“) nur eventuell („theoretischerweise“) möglich, wenn sich ein chronisch progredient dementieller Prozess „nicht bewahrheite“ (S. 122 SG-Akte). Der Kläger habe sein Leben lang nur körperlich gearbeitet. Tätigkeiten, die „mehr kognitive Fertigkeiten“ erforderten oder eine Umschulung „in diesem Bereich“ seien „keinesfalls“ möglich (S. 122 SG-Akte). Leichte Sortierarbeiten oder „allenfalls“ eine Pförtnertätigkeit wären unter Beachtung der o.a. Einschränkungen hingegen zumutbar (S. 120 SG-Akte); besonderer Arbeitsbedingungen bedürfe es im Übrigen nicht und der Kläger sei auch in seiner Gehfähigkeit nicht eingeschränkt (S. 121 SG-Akte). Abweichend von den Vorgutachtern komme den fremdanamnestischen Angaben der Schwägerin Bedeutung zu, „die die tatsächliche Selbstständigkeit bei bagatellisierendem Probanden darstelle“ (S. 122 SG-Akte); seit den vorangegangenen Begutachtungen sei überdies auch eine erhöhte therapeutische Inanspruchnahme sowie „eine genauere diagnostische Einordnung“ erfolgt.

Die Beklagte ist der Leistungseinschätzung der
R1 mit der sozialmedizinischen Stellungnahme der H2 vom 15.07.2022 (S. 159 ff. SG-Akte) entgegengetreten. Die Beratungsärztin hat in ihrer ausführlichen Stellungnahme zusammengefasst darauf hingewiesen, dass der von der Sachverständigen erhobene klinische Befund für sich spreche und gerade, da nur leichtgradig auffällig, keine zeitliche Leistungslimitierung begründen könne. Namentlich kognitive Einschränkungen habe R1 gerade nicht objektiviert und auch aus dem Entlassungsbericht der Ärzte des Klinikums S1 W1 vom 08.06.2021 ergäben sich solche nicht, zumal dort auch eine spezifische neurologische Testung hinsichtlich eines schleichenden demenziellen Prozesses durchgeführt worden sei und zwar mit unauffälligem Ergebnis. Ohnehin habe die Sachverständige selbst darauf aufmerksam gemacht, dass der Kläger aus der dortigen Behandlung in einem gebesserten Zustand entlassen worden sei. Insgesamt zeige das klinische Bild beim Kläger keine wesentlichen Änderungen gegenüber dem, das bereits die Gutachter H1 und B2 beschrieben hätten. Die zeitliche Leistungsbeurteilung der R1 sei nicht ansatzweise plausibel. Es bestünden richtigerweise überhaupt keine belastbaren gesundheitlichen Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts nicht mehr wenigstens sechs Stunden täglich unter Beachtung der von der Sachverständigen angeführten qualitativen Einschränkungen verrichten könne. Der Umstand, dass der Kläger ersichtlich unangenehme Tätigkeiten im Haushalt vermeide und dass die von ihm geschilderte Soziobiographie Hinweise auf eine etwas eingeschränkte (soziale) Lebensführung sowie auf eine unterdurchschnittliche intellektuelle Kompetenz enthalte, ändere daran nichts, zumal er damit auch jahrelang gearbeitet habe.
In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 03.08.2022 (S. 165 ff. SG-Akte) ist die Sachverständige bei ihrer Einschätzung verblieben und hat u.a. gemeint, dass „aufgrund der über Jahre depressiv ängstlichen Symptomatik, zumindest leichter kognitiver Abbauprozesse und auch deshalb weiterer Zunahme einer ängstlich vermeidenden Persönlichkeit“ das Umstellungs- und Anpassungsvermögen des Klägers „durchaus“ eingeschränkt sei, was
H2 nicht zur Kenntnis genommen habe. Es bestehe „schlussendlich“ ein Muster ungünstiger Faktoren, auch mit den somatischen Erkrankungen. Dem wiederum hat H2 in ihrer weiteren Stellungnahme vom 20.10.2022 (S. 174 f. SG-Akte) entgegengehalten, dass die Ausführungen der R1 nichts an dem von ihr dokumentierten, nur leichtgradig auffälligen Befund änderten, dass - ausgehend von dem Entlassungsbericht vom 08.06.2021, auf den die Sachverständige maßgeblich abstellte - nicht eine Verschlechterung, sondern eine Verbesserung vorliege (dort noch Angabe einer mittelgradigen depressiven Episode) und dass das von der Sachverständigen genannte „Muster von ungünstigen Faktoren“ nichts anderes beschreibe als Integrationshemmnisse, die eine krankheitsbedingte zeitliche Leistungslimitierung nicht begründeten.

Die Klägerseite hat das Gutachten der
R1 verteidigt (s. im Einzelnen S. 175 f. SG-Akte) und geltend gemacht, dass der Kläger „aufgrund der heftigen Schmerzen“ jetzt Cannabis erhalte.

In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 04.04.2023 hat die Schwester des Klägers mitgeteilt, dass die Angst ihres Bruders „nicht gespielt“ sei, er vielmehr so sei, wie er sich „jetzt hier in der Verhandlung zeige“. Eine Teilhabe am Arbeitsleben sei nicht möglich, ihr Bruder habe ja auch „alles gemacht“.

Mit Urteil vom 04.04.2023 hat das SG
den Bescheid der Beklagten vom 07.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.07.2021 „aufgehoben“ und die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund eines Versicherungsfalls am 09.06.2021 für die Zeit vom 01.01.2022 bis 31.12.2024 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und angeordnet, dass die Beklagte die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 80 v.H. zu erstatten hat. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass beim Kläger der Versicherungsfall einer Erwerbsminderung - drei bis unter sechsstündiges Leistungsvermögen bei Verschlossenheit des (Teilzeit-)Arbeitsmarkts - zum Zeitpunkt der Entlassung aus der teilstationären Behandlung (im Klinikum S1 W1) am 09.06.2021 nachgewiesen sei. Dabei hat es sich maßgeblich auf das Gutachten der R1 nebst ergänzender Stellungnahme gestützt und gemeint, dass trotz der von ihr beim Kläger diagnostizierten lediglich leichtgradigen rezidivierenden depressiven Störung „in Zusammenschau mit der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstruktur sowie der chronischen Schmerzstörung“ eine quantitative Leistungsminderung vorliege, zumal sich der Kläger mehrmals in teilstationärer Behandlung befunden habe und die therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft seien. Die Einwände des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten überzeugten demgegenüber nicht. Die ausgeurteilte Rente sei zu befristen, obgleich der Anspruch des Klägers unabhängig von der Arbeitsmarktlage bestehe, weil es nicht unwahrscheinlich sei, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden könne. Denn auch die Sachverständige habe auf eine noch mögliche Steigerung des Leistungsvermögens durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben hingewiesen, weshalb eine Besserung innerhalb von drei Jahren möglich erscheine (Hinweis auf § 102 Abs. 2 Satz 1, 2 und 5 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VI]). Der Rentenbeginn (01.01.2022) ergebe sich aus § 101 Abs. 1 und § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI „mit dem Antragsmonatsersten“. Hinsichtlich einer Rentengewährung für einen früheren Zeitraum ab 01.06.2020 habe die Klage hingegen keinen Erfolg, weil ein früherer Versicherungsfall nicht nachgewiesen sei.

Gegen das ihr am 24.04.2023 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 04.05.2023 Berufung eingelegt, mit der sie sich gegen ihre Verurteilung wendet. Sie hat ihre Einwände gegen das Gutachten der R1 nebst ergänzender Stellungnahme wiederholt und vertieft. Das SG habe sich mit ihrem Vorbringen gar nicht weiter auseinandergesetzt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 04.04.2023 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat das angefochtene Urteil respektive die gutachtliche Einschätzung der
R1 verteidigt. Außerdem hat die Klägerseite mitgeteilt, dass „die Mirtazapin-Dosis“ durch K1 „angepasst“ und dem Kläger zusätzlich Sertralin (Antidepressivum) verordnet worden sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den In-halt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.





Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist zulässig und auch begründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 04.04.2023, soweit die Beklagte unter „Aufhebung“ (richtig: Abänderung) des Bescheids vom
07.10.2020 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 21.07.2021 zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.01.2022 befristet bis zum 31.12.2024 verurteilt worden ist. Nicht Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist das Urteil des SG mithin insoweit, als es die Klage im Übrigen - und damit ausweislich der Entscheidungsgründe bezüglich des Begehrens der Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung auch für die Zeit vom 01.06.2020 bis 31.12.2021 sowie über den 31.12.2024 hinaus auf Dauer, also unbefristet, abgewiesen hat. Denn Berufungsführerin ist ausschließlich die Beklagte, die durch die Klageabweisung im Übrigen nicht beschwert ist und diese auch nicht angreift; insoweit ist das Urteil mithin rechtskräftig geworden und bindet die Beteiligten (§ 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG).

Das SG hat die Beklagte zu Unrecht unter Abänderung des angefochtenen Bescheids vom
07.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.07.2021 verurteilt, dem Kläger - ausgehend von einem Versicherungsfall am 09.06.2021 (Tag der Entlassung des Klägers aus der ab dem 08.04.2021 stattgehabten teilstationären psychiatrischen Behandlung im Klinikum S1 W1) - Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des (Teilzeit-)Arbeitsmarkts (vgl. dazu § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI und Bundessozialgericht - BSG - Großer Senat 10.12.1976, GS 2/75 u.a., in juris) vom 01.01.2022 (vgl. § 115 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 1 SGG; der Hinweis des SG in diesem Zusammenhang auf „den Antragsmonatsersten“ und § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI erschließt sich nicht, weil diese Regelung den Fall einer „verspäteten“ und nicht den Fall einer - ausgehend von der Rechtsauffassung des SG - „verfrühten“ Antragstellung betrifft) befristet (vgl. § 102 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB VI; entgegen dem SG ist Satz 5 der Regelung bei der vorliegend ausgeurteilten sog. Arbeitsmarktrente ebenfalls nicht einschlägig) bis zum 31.12.2024 zu gewähren. Denn der Bescheid vom 07.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.07.2021 ist, soweit er zur Überprüfung des Senats steht (s.o.), rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger ist trotz der bei ihm bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Sinne der maßgeblichen gesetzlichen Regelungen nicht erwerbsgemindert, weshalb ihm eine Rente wegen Erwerbsminderung im ausgeurteilten Zeitraum nicht zusteht.

Rechtsgrundlage für die vom Kläger mit seiner Klage begehrte Rente wegen voller Erwerbsminderung ist § 43 Abs. 2 SGB VI. Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie (u.a.) voll erwerbsgemindert sind. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht über die Regelung des § 43 Abs. 2 SGB VI hinaus nach der Rechtsprechung des BSG (s.o.) bei regelmäßig bejahter Verschlossenheit des (Teilzeit-)Arbeitsmarkts auch dann, wenn eine zeitliche Leistungseinschränkung von drei bis unter sechs Stunden vorliegt (vgl. die Legaldefinition teilweiser Erwerbsminderung in § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Unter Zugrundelegung dessen ist der Kläger nicht erwerbsgemindert, sondern vielmehr noch in der Lage,
unter Beachtung qualitativer Einschränkungen zumindest leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten. Entgegen dem SG ist ein Versicherungsfall der Erwerbsminderung weder am 09.06.2021 noch zu einem späteren Zeitpunkt bis zur Entscheidung des Senats eingetreten, mithin auch kein entsprechender Leistungsfall (vgl. zur Unterscheidung grundlegend BSG 29.11.1990, 5/4a RJ 41/87, in juris, Rn. 22 ff.; 05.03.1965, 11/1 RA 239/61, in juris, Rn. 15).

Der Kläger leidet in somatischer Hinsicht von orthopädischer Seite im Wesentlichen an degenerativen Wirbelsäulenveränderungen mit lumbaler Spinalkanalstenose bei Z.n. Bandscheibenvorfall im November 2019 und Zervikalneuralgie ohne neurologische Ausfälle und Reizerscheinungen sowie an einer Arthritis. Dies stützt der Senat maßgeblich auf die (urkundsbeweislich verwertbare) sozialmedizinische Stellungnahme des 
H1 vom 06.10.2020, die (als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen verwertbare) sozialmedizinische Stellungnahme des F1 und das Gutachten der R1 - alle drei haben die aktenkundigen fachärztlichen Befundunterlagen übereinstimmend ausgewertet - sowie auf die Auskunft (gegenüber dem SG) des S3 vom 27.10.2021.

Diese Gesundheitsstörungen bedingen beim Kläger freilich keine funktionellen Defizite mit Auswirkung auf das zeitliche Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten, sondern führen lediglich zu den bereits von den Reha-Ärzten des Z1
A1 und später von H1 angeführten qualitativen Einschränkungen (wechselnde Körperhaltung, kein Heben/Tragen von schweren Lasten, keine häufigen Zwangshaltungen bzw. Überkopfarbeiten, kein häufiges Bücken, keine Arbeiten auf Leitern/Gerüsten bzw. mit Klettern/Steigen, keine Arbeiten unter Erschütterungen/Vibrationen). Dies - keine zeitliche Leistungslimitierung - ergibt sich schon daraus, dass beim Kläger bei den Begutachtungen durch B2 (dessen Gutachten im Wege des Urkundsbeweises verwertet wird) und R1 jeweils klinisch keinerlei höhergradige - sondern nicht einmal mittelgradige - Einschränkungen seitens des Bewegungs- und Haltungsapparats vorgelegen haben (s. im Einzelnen den von B2 dokumentierten Befund S. 366 ff. VerwA, namentlich: Wirbelsäule normal bis auf Hartspann im Halswirbelsäulen-[HWS-]Bereich, alle vier Extremitäten frei beweglich, alle Reflexe unauffällig, keine Hinweise auf Paresen, Arm- und Beinhalteversuche [AHV/BHV] sicher, kräftiger Händedruck, verschwielte, an - so B2 - manuelle Arbeit gewöhnte Hände, gute Muskulatur, Sensibilität intakt, nur Einbeinstand/Romberg „etwas“ unsicher, alle anderen Gangprüfungen sicher; zum somatischen Befund von R1 s. die obige Darstellung im Tatbestand) und der Kläger gegenüber beiden Gutachtern auch Tagesablaufaktivitäten beschrieben hat (s. auch dazu oben im Tatbestand), die mit schwereren oder auch nur mittelgradigen manuellen Einschränkungen respektive Schmerzzuständen nicht widerspruchsfrei in Einklang zu bringen sind, zumal beide Gutachter im Rahmen ihrer jeweiligen Untersuchungen auch ein auffälliges Schmerzverhalten beim Kläger gerade nicht haben feststellen können und übereinstimmend auf nicht authentische, aggravierende - so B2 (wie zuvor bereits auch schon H1 in seinem urkundsbeweislich verwertbaren Gutachten vom 20.09.2019) - bzw. „beschwerdebetonte“ - so relativierend R1 - Angaben des Klägers hingewiesen haben. Damit ist namentlich die Behauptung des Klägers, er leide an dauerhaften, erheblichen Ganzkörperschmerzen klar widerlegt, ebenso seine Behauptung einer „gewissenhaften“ Einnahme des hochpotenten Schmerzmittels Oxycodon, das im von R1 entnommenem Blutserum gerade nicht nachgewiesen worden ist.

Soweit in früheren Facharztberichten noch weitere orthopädisch-chirurgische Diagnosen aufgelistet worden sind, kommt dem in Ansehung der gutachtlich dokumentierten Befunde keine weitere Bedeutung zu, zumal nicht einmal eine regelmäßige fachärztliche orthopädisch-chirurgische Behandlung seit der letzten Rehabilitation des Klägers ersichtlich ist (s. insbesondere seine Angaben S. 13 SG-Akte). Ohnehin kommt es
im Rahmen der Prüfung von Erwerbsminderung nicht entscheidend auf die Art und Anzahl der gestellten Diagnosen und auch nicht auf eine bestimmte Diagnosestellung oder Bezeichnung von Befunden an, sondern allein auf die Beeinflussung des individuellen quantitativen sowie qualitativen Leistungsvermögens durch dauerhafte Gesundheitsstörungen (BSG 28.02.2017, B 13 R 37/16 BH, in juris, Rn. 15), also auf die durch die Gesundheitsstörungen verursachten funktionellen Beeinträchtigungen. Dem entsprechend sind auch die Ursachen der Gesundheitsstörung nicht maßgeblich (BSG a.a.O.).

Von neurologischer Seite bestehen zwar die beim Kläger in der Schädel-MRT vom 25.03.2020 sichtbar gewordenen hirnorganischen Veränderungen, die freilich auch die Sachverständige - ebenso wie die beurteilenden Radiologen (Arztbrief vom 26.03.2020, S. 324 VerwA) - lediglich als leichtgradig eingestuft hat. Funktionelle Defizite, denen nicht bereits mit den o.a. qualitativen Einschränkungen hinreichend Rechnung getragen ist, resultieren daraus nicht. Weder
S3, noch B2 und R1 haben irgendwelche neurologischen Ausfallerscheinungen beim Kläger beschrieben. Die Leistungseinschätzung der Sachverständigen beruht in diesem Zusammenhang auch lediglich auf der Verdachtsdiagnose eines „Hirnabbauprozesses“ bzw. einer (beginnenden) dementiellen Entwicklung respektive auf den subjektiven Beschwerdeangaben des Klägers und den diese stützenden pauschalen Angaben seiner Schwester bzw. Schwägerin, die aber, eben weil diese Angaben keinerlei Stütze in den objektiv-klinischen Befunden finden (s. auch dazu die obige Darstellung im Tatbestand, insbesondere: keine Auffälligkeiten der Auffassungsgabe in der Testung, keine klinische Beeinträchtigung der Kognition, keine Bewusstseinsstörungen, keine Gedankenstörungen, unauffällige Psychomotorik), unmaßgeblich sind. Unabhängig davon, dass eine Erwerbsminderung schon nicht mit bloßen (Verdachts-)Diagnosen begründet werden kann (s.o.; speziell zu Verdachtsdiagnosen Senatsurteil vom 19.10.2023, L 10 R 3609/21, n.v.; Freudenberg in jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 43 Rn. 70, Stand 03.04.2024, m.w.N. zur Rspr. des BSG), hat die spezifische Testuntersuchung hinsichtlich einer dementiellen Erkrankung im Rahmen der tagesklinischen Behandlung des Klägers im Klinikum S1 W1 einen unauffälligen Befund ergeben. Darauf hat H2, deren sozialmedizinische Stellungnahmen als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen verwertet werden, zutreffend hingewiesen, ebenso darauf, dass objektiv-klinisch irgendwelche neurogenen Defizite beim Kläger nicht ansatzweise ersichtlich sind; dem hat der Senat nichts hinzuzufügen.

Damit ist der Leistungseinschätzung der
R1 bereits aus diesen Gründen insgesamt der Boden entzogen, woran auch ihre ergänzende Stellungnahme auf die durchgreifenden Einwände der H2 nichts ändert.

Soweit
H1 in seiner Stellungnahme vom 06.10.2020 auf Grundlage früherer Berichte noch eine leichte Fußheberparese beim Kläger erwähnt hat, hat eine solche bereits zum Zeitpunkt der Untersuchung durch B2 nicht mehr vorgelegen (Befund u.a.: keine Paresen, s.o.) und bei R1 hat der Kläger auch lediglich einen unspezifischen Schmerz unterhalb der Fußsohle bei vollkommen unauffälliger erschwerter Gangprüfung angegeben. Dass aus einer leichten Fußheberparese ohnehin keine zeitliche Leistungslimitierung für leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung resultiert, ergibt sich im Übrigen aus der Leistungsbeurteilung des H1.

In psychiatrischer Hinsicht leidet der Kläger
an einer rezidivierenden depressiven Störung in überdauernd allenfalls leichtgradiger Ausprägung sowie an einer somatoformen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren in ebenfalls nur leichtgradiger Ausprägung. Dies stützt der Senat auf das Gutachten des B2 und auf den von der Sachverständigen erhobenen, oben im Tatbestand dargestellten Befund; hinsichtlich der vom Kläger behaupteten Schmerzzustände ergibt sich eine allenfalls leichte objektivierte Ausprägung bereits aus den vorstehenden Ausführungen, auf die verwiesen wird. Die Beratungsärztin H2 hat in ihren sozialmedizinischen Stellungnahmen in jeder Hinsicht schlüssig und gut nachvollziehbar dargelegt, dass sich aus dem von R1 dokumentierten objektiv-klinischen Befund - der im Wesentlichen dem entspricht, den bereits B2 im Rahmen seiner Untersuchung erhoben hat - gerade keine höhergradigen Störungen mit Auswirkung auf das zeitliche Leistungsvermögen ableiten lassen (wofür auch die vom Kläger gegenüber den Gutachtern geschilderten Alltagsaktivitäten und erhaltenen Interessen sprechen) bzw., mit den Worten von H2, dass der klinische Befund für sich selbst spricht. Auch dem hat der Senat nichts hinzuzufügen.

Soweit
R1 zusätzlich noch den V.a. auf eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsakzentuierung „allenfalls auf dem Boden stattfindender Hirnabbauprozesse“ geäußert hat, ergibt sich bereits aus den obigen Darlegungen, dass und warum daraus von vornherein eine zeitliche Leistungslimitierung nicht abgeleitet werden kann. Ohnehin beruht der angenommene Verdacht wiederum maßgeblich auf den Beschwerdeangaben des Klägers und weder seine erhaltene Kontaktfähigkeit und soziale Eingebundenheit (Besuch und plaudern mit Nachbarn, Kontakt zur Schwester und Schwägerin) lassen irgendein angstbedingtes Vermeidungsverhalten erkennen, worauf H2 ebenfalls hingewiesen hat. Dass der Kläger - wie behauptet -, hinsichtlich Haushalt und Einkaufen „nur das Nötigste“ macht, ist nicht ansatzweise geeignet, eine krankheitsbedingte zeitliche Leistungsminderung zu begründen. 

Soweit
H1 in seiner Stellungnahme nach Aktenlage vom 06.10.2020 noch von einer mittelgradigen depressiven Episode ausgegangen ist, hat er gleichwohl keine zeitliche Leistungslimitierung gesehen und zugleich auf eine Besserung im Anschluss an die vorangegangene tagesklinische Behandlung des Klägers hingewiesen. Dass diese Besserung (nur noch leichtgradige psychische Auffälligkeiten) tatsächlich eingetreten ist, ergibt sich aus dem zeitlich später von B2 erhobenen Befund und auch R1 hat - wiederum zeitlich nachfolgend - ebenfalls nur noch leichte Anomalien von seelischer Seite zu objektivieren vermocht (s.o.).

Aus dem Arztbrief des
S3 vom 27.10.2021 - auf den er in seiner Auskunft gegenüber dem SG verwiesen hat - lässt sich nichts Abweichendes herleiten, wie der oben im Tatbestand von ihm wiedergegebene klinische Befund zeigt. Dass der Facharzt diese ebenfalls nur leichten klinischen Auffälligkeiten als mittelgradige Episode bezeichnet hat, ist nicht entscheidend (s.o.) und im Übrigen auch in Ansehung des dokumentierten Befunds nicht nachvollziehbar; ohnehin hat S3 ersichtlich den Beschwerdeangaben des Klägers eine maßgebliche Bedeutung beigemessen, obgleich diese Angaben einer Konsistenzprüfung gerade nicht standhalten (s.o.).
Soweit
S3 dann in seinem Arztbrief vom 05.04.2022 (Untersuchung des Klägers am 10.02.2022) eine leichte („etwas“) Verschlechterung behauptet hat, ist auch dies nicht nachvollziehbar, nachdem er einen entsprechenden klinischen Befund überhaupt nicht mitgeteilt hat - darauf hat schon F1 zutreffend aufmerksam gemacht - und seine Einschätzung wiederum maßgeblich auf den anamnestischen Angaben des Klägers beruht. Ungeachtet dessen hat sich bei der nur knapp drei Monate später stattgehabten Untersuchung des Klägers durch die Sachverständige wiederum nur ein leichtgradig auffälliger psychopathologischer Befund ergeben, sodass jedenfalls eine zeitlich überdauernde Verschlechterung (vgl. § 43
Abs. 2 Satz 2 und Abs. 1 Satz 2 SGB VI: „auf nicht absehbare Zeit“, also voraussichtlich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten, vgl. dazu nur BSG 23.03.1977, 4 RJ 49/76, in juris, Rn. 14 ff.) nicht angenommen werden kann.

Nämliches gilt hinsichtlich des Entlassungsberichts der Ärzte des Klinikums
S1 W1 vom 08.06.2021. Unabhängig davon, dass schon dem dortigen Aufnahmebefund vom 08.04.2021 - also nur wenige Wochen vor der Untersuchung des Klägers durch B2 am 24.05.2021 - klinisch nicht einmal auch nur mittelgradige funktionelle Störungen von psychischer Seite entnommen werden können (wach, voll orientiert, im Kontakt freundlich zugewandt, ausreichend gepflegt, Auffassung und Konzentration „etwas“ reduziert, formales Denken geordnet, kein Anhalt für inhaltliche Denkstörungen, Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen, Antrieb reduziert, affektiv niedergestimmt, aber noch schwingungsfähig, im Kontakt psychomotorisch ruhig, bündnisfähig; im Übrigen nur subjektive Angaben des Klägers), ist der Kläger ausweislich des Berichts am 09.06.2021 in gebessertem Zustand aus der Behandlung entlassen worden - auch darauf hat H2 zutreffend hingewiesen -, was mit dem nur knapp zwei Wochen zuvor (sic!) von B2 und dem zeitlich später von R1 erhobenen objektiv-klinischen Befund, der jeweils nur leichtgradige seelische Auffälligkeiten ergeben hat (s.o.), korrespondiert.

Wie
R1 - und ihr folgend das SG - vor diesem Hintergrund zu der Annahme eines Versicherungsfalls der Erwerbsminderung am 09.06.2021 gelangt ist, ist nicht ansatzweise nachvollziehbar. Ohnehin beruht ihre Leistungseinschätzung maßgeblich auf den Beschwerdeangaben des Klägers und seiner Schwägerin, denen nicht gefolgt werden kann, sowie auf Spekulationen und Mutmaßungen, die sozialmedizinisch ohne jegliche Relevanz sind, was H2 im Einzelnen ausführlich in ihren Stellungnahmen dargelegt hat. Daran hat wiederum auch die ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen nichts geändert, denn der von ihr erhobene objektiv-klinische Befund lässt keine andere Beurteilung zu; ihre Versuche, diesen nur leichtgradig auffälligen psychischen Befund mit den damit im Widerspruch stehenden Beschwerdebehauptungen des Klägers und den fremdanamnestischen Angaben seiner Schwägerin wegzudiskutieren, geht ins Leere, eben weil dem der Befund entgegensteht.
Ebenfalls nicht nachvollziehbar ist, warum sich - so
R1 - aus den zeitlich vorangegangenen Behandlungen des Klägers ab dem 09.06.2021 eine Erwerbsminderung ergeben sollte, zumal die tagesklinische Behandlung im Klinikum S1 W1 gerade erfolgreich gewesen ist. Auch die Behauptung der R1, die therapeutischen Möglichkeiten seien ausgeschöpft, ist schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil der Kläger ersichtlich nicht einmal das ihm verordnete
Mirtazapin in einer therapeutisch wirksamen Dosierung eingenommen hat, was sich klar aus dem Blutserumspiegel ergibt. Wie die Sachverständige allein aus diesem Grund gemeint hat zu behaupten, es liege eine ausgeschöpfte und leitliniengerechte Therapie vor und der Kläger habe einen „gewissen“ (sic!) Leidensdruck, ist vollkommen unerfindlich. Ohnehin spielt es für die Frage einer Erwerbsminderung überhaupt keine Rolle, welche therapeutischen Möglichkeiten bestehen oder ob diese ausgeschöpft sind. Eine nur leichtgradige Erkrankung, die - wie beim Kläger - keine funktionellen Defizite mit Auswirkung auf das zeitliche Leistungsvermögen bedingt, begründet keine Erwerbsminderung und zwar gänzlich unabhängig davon, ob wegen Krankheit oder Behinderung (weiter) Behandlungsbedürftigkeit oder - auch häufige - Arbeitsunfähigkeit besteht (BSG 31.10.2002, B 13 R 107/12 B, in juris,
Rn. 15 m.w.N.).

Unter Zugrundelegung all dessen haben sowohl
H1 (dieser gar noch diagnostisch ausgehend von einer - freilich gebesserten - mittelgradigen depressiven Episode, s.o.) als auch B2 und H2 für den Senat in jeder Hinsicht überzeugend dargelegt, dass die objektivierbaren psychischen Auffälligkeiten beim Kläger lediglich zu qualitativen Einschränkungen (keine Nachtschicht, keine Arbeiten unter besonderem Zeitdruck, z.B. Akkord, keine hohen Anforderungen an das Anpassungs- und Umstellungsvermögen, keine hohe Verantwortung für Personen) führen, nicht jedoch zu einer quantitativen Leistungsminderung für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen.

Damit ist schließlich auch die - nur pauschale und befundfreie - Leistungseinschätzung der
K1 widerlegt, bei der ohnehin eine besondere Fachkompetenz auf psychiatrischem Gebiet nicht erkennbar ist. Abgesehen davon hat sie bei ihrer Untersuchung des Klägers am 21.10.2021 ausweislich ihres Karteikartenauszugs nur noch eine Angst und depressive Störung, gemischt, diagnostiziert (was eine leichte oder nicht anhaltende ängstliche Depression beinhaltet und voraussetzt, dass keine der beiden Störungen eindeutig vorherrscht und keine für sich genommen eine eigenständige Diagnose rechtfertigt, s. die Definition F41.2 ICD-10) und gemeint, dass beim Kläger seit Dezember 2019 keine wesentliche Änderung im (psychischen) Gesundheitszustand eingetreten ist. Damit fehlt freilich auch ihrer Einschätzung eines zeitlich geminderten Leistungsvermögens bereits jegliche Grundlage, worauf bereits F1 hingewiesen hat.

Der nur pauschale Vortrag der Klägerseite, der Kläger erhalte „aufgrund heftiger Schmerzen“ nunmehr auch Cannabis sowie Sertralin und das Mirtazapin sei aufdosiert worden, rechtfertigt keine andere Bewertung. Zum einen hat keiner der behandelnden Ärzte im (noch) streitigen Zeitraum „heftige Schmerzen“ beim Kläger objektiviert - und der rechtskundig vertretene Kläger hat im Anschluss an die Begutachtung durch
R1 auch keinerlei entsprechende ärztliche Befundunterlagen vorgelegt oder seine Angaben auch nur substantiiert -, zum anderen ist der Hinweis auf eine bloße weitere, auch pharmakologische, Behandlungsbedürftigkeit schon nicht geeignet, eine Erwerbsminderung zu begründen (s.o.). Ohnehin relativieren sich die Angaben des Klägers schon dadurch, dass er seine Medikamente jedenfalls in der Vergangenheit gerade nicht „gewissenhaft“ und das ihm verordnete Mirtazapin nur unterhalb des therapeutischen Wirkbereichs eigenommen hat (s. auch dazu bereits oben).

Irrelevant ist auch, welchen „Eindruck“ der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem SG gemacht hat oder gemacht haben will. Die Frage einer Erwerbsminderung richtet sich nicht nach „Eindrücken“ medizinischer Laien, sondern nach funktionellen Defiziten auf Grundlage objektiv-klinischer, ärztlicher Befunde, die schlüssig und nachvollziehbar sein müssen.

Sonstige (internistische) Gesundheitsstörungen, die Auswirkung auf das zeitliche Leistungsvermögen des Klägers haben könnten, liegen nicht vor. Insoweit nimmt der Senat auf die sozialmedizinische Stellungnahme des
F1 Bezug und macht sich diese zu eigen. Abweichendes hat sich auch im weiteren Verfahren nicht ergeben. Dass die nur geringgradige Schwerhörigkeit des Klägers links mit Ohrgeräuschen keine Auswirkungen auf sein berufliches Leistungsvermögen hat, ergibt sich aus der Auskunft (gegenüber dem SG) des S2. Von urologischer Seite lassen sich namentlich dem Arztbrief des B3 vom 24.02.2022 schon keine Funktionsstörungen mit Auswirkung auf das berufliche Leistungsvermögen entnehmen. Wie bereits oben dargelegt, kommt es nicht auf Diagnosen und bildgebende Veränderungen oder Blutwertanomalien an.

Nach alledem bestehen für den Senat
keinerlei Zweifel, dass der Kläger - entgegen dem SG - jedenfalls noch leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung der oben festgestellten qualitativen Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich verrichten kann (und zwar seit Rentenantragstellung durchgehend), sodass er weder voll, noch teilweise erwerbsgemindert ist (§ 43 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB VI); mangels entsprechendem Versicherungsfall stellt sich die Frage der Dauer einer Rente wegen Erwerbsminderung nicht.

Dass dem Kläger für die Zeit vor dem vom SG fälschlich angenommenen Versicherungsfall am 09.06.2021 bzw. dem ausgeurteilten Leistungszeitraum (beginnend von dem Monat der Rentenantragstellung an, § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung zusteht, steht rechtskräftig fest (s.o.). Ohnehin hat nicht einmal die Sachverständige R1, auf die sich die Klägerseite beruft, eine Erwerbsminderung des Klägers vor dem 09.06.2021 auch nur behauptet und der Annahme einer überdauernden zeitlichen Leistungseinschränkung steht ohnehin bereits das Gutachten des B2 entgegen, der die Beurteilung des H1 in dessen sozialmedizinischer Stellungnahme vom 06.10.2020 bestätigt hat.

Soweit sich aus den Ausführungen der R1 beim Kläger gewisse Integrations- bzw. Vermittlungshemmnisse für die Erlangung eines leidensgerechten Arbeitsplatzes ableiten lassen - worauf H2 aufmerksam gemacht hat -, ist dies für die Frage einer Erwerbsminderung ohne Bedeutung. Denn das Risiko der Vermittlung eines geeigneten, freien Arbeitsplatzes trägt die Arbeitsverwaltung, nicht jedoch die gesetzliche Rentenversicherung, die ihre Versicherten allein vor den Nachteilen einer durch Krankheit oder Behinderung geminderten Leistungsfähigkeit zu schützen hat (s. nur BSG 14.05.1996, 4 RA 60/94, in juris, Rn. 30).

Unerheblich ist auch, dass beim Kläger ein Pflegegrad (freilich auf Grundlage eines Telefoninterviews mit seiner Schwester, worauf die Beklagte aufmerksam gemacht hat) bzw. ein GdB anerkannt ist, weil beides für sich gesehen nichts über die berufliche Einsetzbarkeit eines Versicherten aussagt (s. dazu nur BSG 19.09.2015, B 13 R 290/15 B, in juris, Rn. 5; Senatsurteil vom 14.12.2023, L 10 R 2331/23, in juris, Rn. 44; Senatsbeschluss vom 21.12.2021, L 10 R 3259/20, www.sozialgerichtsbarkeit.de). Ohnehin hat auch die Sachverständige nicht einmal ansatzweise Umstände beschrieben, die eine Pflegebedürftigkeit des Klägers begründen könnten (vgl. S. 101, 112, 114 SG-Akte). Eine solche lässt sich insbesondere nicht dadurch auch nur plausibilisieren, dass seine Schwester bzw. seine Schwägerin (nur pauschal) „berichtet“ haben, der Kläger würde den Haushalt nicht schaffen (S. 93 SG-Akte) und Hilfe beim Einkaufen benötigen (S. 114 SG-Akte).

Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist vorliegend nicht erforderlich (vgl. BSG 14.09.1995, 5 RJ 50/94, in juris, auch zum Nachfolgenden). Denn nach der Rechtsprechung des BSG steht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine so große Anzahl von Tätigkeitsarten zur Verfügung, dass das Vorhandensein einer geeigneten Verweisungstätigkeit offensichtlich ist. Nur ausnahmsweise ist für einen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbaren Versicherten wie den Kläger mit zumindest sechsstündigem Leistungsvermögen für leichte Arbeiten die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich, wenn die Erwerbsfähigkeit durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist. In der Rechtsprechung des BSG sind bestimmte Fälle anerkannt (z.B. Einarmigkeit, vgl. BSG a.a.O., m.w.N.), zu denen der vorliegende Fall aber nicht gehört. Vielmehr braucht eine Verweisungstätigkeit erst benannt zu werden, wenn die gesundheitliche Fähigkeit zur Verrichtung selbst leichter Tätigkeiten in vielfältiger, außergewöhnlicher Weise eingeschränkt ist. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn ein Versicherter noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten ohne Heben und Tragen von Gegenständen über 5 kg, ohne überwiegendes Stehen und Gehen oder ständiges Sitzen, nicht in Nässe, Kälte oder Zugluft, ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltungen und nicht unter besonderen Unfallgefahren zu verrichten vermag (BSG a.a.O.; BSG 27.04.1982, 1 RJ 132/80, in juris). Denn ein Teil dieser Einschränkungen stimmt bereits mit den Tätigkeitsmerkmalen einer körperlich leichten Arbeit überein; dies gilt insbesondere für die geminderte Fähigkeit, Lasten zu bewältigen und eine geringere Belastbarkeit der Wirbelsäule (BSG a.a.O.) mit den hierauf beruhenden Einschränkungen. Diese zur früheren Rechtslage entwickelten Grundsätze sind auch für Ansprüche auf Renten wegen Erwerbsminderung nach dem ab dem 01.01.2001 geltenden Recht weiter anzuwenden (vgl. zuletzt BSG 11.12.2019, B 13 R 7/18 R, in juris). Nicht anders liegt der Fall des Klägers. Auch bei ihm wird den qualitativen Einschränkungen (s.o.) im Wesentlichen bereits dadurch Rechnung getragen, dass ihm nur noch leichte Arbeiten zugemutet werden.

Soweit
R1 beim Kläger eine „einfache Strukturierung“ bei gleichzeitig nur „etwas“ verminderter Flexibilität und Auffassungsgabe (freilich in der Testung: Prüfung der Auffassungsgabe unauffällig, s.o.) beschrieben hat, ist nicht ansatzweise nachvollziehbar, inwieweit dies eine Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarkts für leichte Tätigkeiten begründen sollte. Zu Recht hat die Beklagte angemerkt, dass der Kläger über eine abgeschlossene Schul- und Berufsausbildung verfügt und jahrzehntelang gearbeitet hat. Eine irgendwie geartete neurogene geistige Minderbemittlung respektive Retardierung hat die Sachverständige nicht einmal nur behauptet und irgendwelche höhergradigen kognitive Störungen bzw. entsprechende funktionelle Defizite in Folge der bildgebend sichtbaren (nur leichtgradigen) hirnorganischen Veränderungen sind beim Kläger gerade nicht objektiviert (s.o.). Die fremdanamnestischen Angaben seiner Schwester und seiner Schwägerin stehen vielmehr in einem eklatanten Widerspruch zu den dokumentierten objektiv-klinischen Befunden und sind im Kern unglaubhaft.

Schließlich liegt beim Kläger auch keine schwere spezifische Leistungsbehinderung in Gestalt einer Einschränkung seiner Wegefähigkeit (vgl. dazu nur BSG 12.12.2011, B 13 R 79/11 R, in juris, Rn. 20 m.w.N.) vor. Eine solche lässt sich weder aus dem von
B2, noch aus dem von R1 erhobenen klinisch-somatischen bzw. -psychopathologischen Befund ableiten; eine irgendwie geartete Beeinträchtigung des Klägers beim Gehen oder hinsichtlich der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist von der Sachverständigen auch ausdrücklich verneint worden. 

Der medizinische Sachverhalt ist hinreichend geklärt. Insbesondere das Gutachten des 
B2, der von der Sachverständigen R1 dokumentierte klinische Befund und die sich damit auseinandersetzenden sozialmedizinischen Stellungnahmen der H2 sowie die Stellungnahmen der Beratungsärzte H1 und F1 haben dem Senat die erforderlichen Grundlagen für seine Überzeugungsbildung vermittelt. Dass es bei dem Kläger seit der Begutachtung durch R1 zu einer wesentlichen Verschlimmerung seines Gesundheitszustands gekommen ist, ist weder ersichtlich, noch konkret dargetan worden; insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Die Gerichte müssen ohne konkrete Anhaltspunkte nicht ins Blaue hinein ermitteln (dazu statt vieler nur BSG 24.02.2021, B 13 R 79/20 B, in juris, Rn. 14 m.w.N., auch zur Rspr. des Bundesverfassungsgerichts). Dass und warum der Leistungseinschätzung der R1 und der K1 nicht gefolgt werden kann, ist ebenfalls bereits oben aufgezeigt worden.


Nach alledem kann die angefochtene Entscheidung des SG, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, keinen Bestand haben, weshalb das Urteil des SG insoweit im Rahmen des Berufungsantrags der Beklagten abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.




 

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