L 11 SB 91/22

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 32 SB 183/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 91/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. Bei Vorliegen einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit ist neben Teil B Nr. 9.2.1 der Anlage zu § 2 VersMedV nach der Anlage eines aorto-bifemoralen Prothesenbybasses auch der Bewertungsmaßstab von Teil B Nr. 9.2.2 der Anlage zu § 2 VersMedV heranzuziehen, der einen Einzel-GdB von (nur) 20 nach größeren gefäßchirurgischen Eingriffen (z. B. Prothesenimplantation) mit vollständiger Kompensation einschließlich Dauerbehandlung mit Antikoagulantien vorsieht.
  2. Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei müssen die Instanzgerichte bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 3 Satz 1 SGB IX maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 16. Dezember 2021 - B 9 SB 6/19 R – juris).

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 22. Februar 2022 geändert. Der Beklagte wird unter entsprechender Änderung seines Bescheides vom 21. März 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 2019 verurteilt, den Grad der Behinderung zugunsten des Klägers mit Wirkung ab dem 19. September 2019 mit 50 festzustellen.

 

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

 

Der Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten für den gesamten Rechtsstreit zu 9/10 (in Worten: neun Zehntel) zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.

 

Zugunsten des 1959 geborenen Klägers hatte der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. August 2018 den GdB mit 20 festgestellt wegen einer psychischen Störung mit funktionellen Organbeschwerden (Einzel-GdB 20), einer Funktionsstörung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden (Einzel-GdB 10) und einer Funktionsstörung des linken Hüftgelenkes (Einzel-GdB 10).

 

Am 22. Oktober 2018 beantragte der Kläger bei dem Beklagten einen höheren GdB. Nach medizinischen Ermittlungen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 21. März 2019 mit Wirkung ab dem 22. Oktober 2018 den GdB mit 40 fest. Dabei ging er bei ansonsten unveränderten Einzel-GdB von einem Einzel-GdB von 30 für eine operierte arterielle Verschlusskrankheit aus. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, den er damit begründete, dass ein psychisches Leiden mit einem Einzel-GdB von 30 und sein Wirbelsäulenleiden mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten seien. Zudem bestehe bei ihm ein Aneurysma spurium des linken Ellenbogens sowie ein aorta-bifemoraler Prothesenbypass. Der Kläger übermittelte dem Beklagten ein unfallchirurgisches Gutachten des Unfallchirurgen Dr. M vom 7. April 2019, welches aufgrund eines Unfalls vom 22. Oktober 2016 für eine private Unfallversicherung erstattet worden ist. Nach weiteren medizinischen Ermittlungen wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 2019 zurück.

 

Hiergegen hat der Kläger am 1. August 2019 Klage erhoben. Er hat sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren vertieft und darauf hingewiesen, für den Bereich der unteren Extremitäten sei er nach einer mehrfragmentären Femurfraktur links in seiner Gehfähigkeit dauerhaft eingeschränkt, sodass ihm insoweit ein Einzel-GdB von 20 zustehe.

 

Das Sozialgericht hat Befundberichte bei der Fachärztin für Psychiatrie G, bei der Internistin K und bei dem Internisten und Hausarzt Dr. G eingeholt.

 

Das Sozialgericht hat bei dem Facharzt für Orthopädie und Chirurgie Dr. T ein fachorthopädisches/fachchirurgisches Gutachten vom 1. August 2021 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 1. Juli 2021 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei dem Kläger betrage 40, wobei eine Wirbelsäulenleiden mit einem Einzel-GdB von 10 bis 20, die Funktionsbeeinträchtigungen der Beine mit einem Einzel-GdB von 10, eine psychische Alteration und Schmerzempfindung mit einem Einzel-GdB von 20 und eine periphere arterielle Verschlusskrankheit mit einem Einzel-GdB von 20 bis 30 zu bewerten sei.

 

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 10. November 2021 weiterhin die Ansicht vertreten, der Einzel-GdB für sein psychisches Leiden sei mit 30 zu bewerten. Hierzu hat er eine Stellungnahme des Diplom-Psychologen S vom 9. November 2021 zu den Gerichtsakten gereicht.

 

Das Sozialgericht hat die auf Feststellung eines GdB von 50 gerichtete Klage durch Urteil vom 22. Februar 2022 abgewiesen und sich zur Begründung insbesondere auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. T bezogen. Führend sei hier das Leiden im Funktionskreis Herz/Kreislauf, welches mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sei. Ebenfalls mit einem Einzel-GdB von allerdings allenfalls 30 seien die Beeinträchtigungen des Nervensystems und der Psyche zu bewerten. Insoweit sei die bei dem Kläger bestehende Somatisierung- und Angststörung zu berücksichtigen, welche jedoch nur eine Ausprägung einer leichteren psychovegetativen oder psychischen Störung erreiche. Der Kläger habe im Rahmen seiner Begutachtung erklärt, noch regelmäßig mit der Familie Urlaubsreisen zu unternehmen und einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen. Die allenfalls mittelgradigen funktionellen Auswirkungen im Bereich der Lendenwirbelsäule seien mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Die Bewegungseinschränkungen der Hüftgelenke seien mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten.

 

Gegen das ihm am 14. März 2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 8. April 2022 Berufung eingelegt. Die Angaben des Sachverständigen Dr. T seien teilweise nicht eindeutig, zudem habe er zu Fragen Stellung genommen, die nicht unter seine fachärztliche Expertise fallen würden. Unklar seien seine Ausführungen zur operierten arteriellen Verschlusskrankheit. Fachfremd seien seine Ausführungen zum psychischen Leiden. Zu berücksichtigen seien zudem ein chronisches Asthma und eine Einschränkung der Lungenfunktion.

 

Der Senat hat Befundberichte bei der Psychiaterin G und bei dem Hausarzt Dr. G eingeholt. Nach Auswertung der Befundberichte ist der Beklagte zu der Einschätzung gelangt, die Lungenkrankheit des Klägers sei seit Januar 2023 mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, was sich aber nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB auswirke.

 

Der Senat hat bei dem Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. T ein psychiatrisches Gutachten vom 25. November 2023 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 22. November 2023 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei dem Kläger sei mit 50 zu bewerten. Dabei sei eine seelische Störung mit phobischen, depressiven, zwanghaften und somatoformen Faktoren mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Der seelische Zustand habe zumindest seit Beginn der psychiatrischen Behandlung im September 2019 Bestand. Der Sachverständige hat ausgeführt, bei dem Kläger lägen sowohl körperliche als auch seelische Erkrankungen vor. Er habe sich aufgrund einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit einer gefäßchirurgischen Operation unterziehen müssen. Im Vordergrund stünden wiederkehrend auftretende phobische Zustände mit Panikattacken. Die Frequenz dieser Zustände sei erheblichen Schwankungen unterworfen, ein erheblicher Leidensdruck sei zu erkennen. Diese umschriebene seelische Beschwerdebildung sowie die Folgen körperlicher Erkrankungen führten zu gereizt-depressiven Stimmungsauslenkungen wechselnder Ausprägung. Die Flexibilität und das Anpassungsvermögen des Klägers sei durch eine neurotische Persönlichkeitsstruktur beeinträchtigt. Es fänden sich deutliche zwanghafte Züge bei hohen häufig nicht erreichbaren selbstgesteckten Leistungszielen. Es liege eine labile Selbstwertregulation einhergehend mit tief greifender Empfindsamkeit vor. Als psychischer Abwehrmechanismus sei Projektion zu nennen. Der Kläger bleibe hinter eigenen Leistungszielen zurück und begründe dies mit beruflicher Überforderung. Diese Argumentation sei auch ärztlichen Befundberichten zu entnehmen. Die Hinnahme körperlicher Erkrankungen sei bei der neurotischen Persönlichkeitsstruktur des Klägers bedeutsam, der seelische Leidenszustand werde dadurch in besonderer Weise verstärkt. Wegen der körperlichen Leiden hat der Sachverständige die Feststellungen des Sachverständigen Dr. T übernommen.

 

Der Beklagte hat zu dem Gutachten von Dr. T eine ärztliche Stellungnahme zu den Gerichtsakten gereicht, in der insbesondere bemängelt worden ist, der Sachverständige habe nicht ausreichend begründet, warum er vom bisher festgestellten Gesamt-GdB von 40 abweiche. In der Stellungnahme heißt es weiter, insbesondere den abweichenden Bewertungen der Funktionsstörung der Wirbelsäule und der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit könne nicht gefolgt werden.

 

Der Kläger beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 22. Februar 2022 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom 21. März 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 2019 zu verurteilen, zugunsten des Klägers mit Wirkung ab dem 22. Oktober 2018 den Grad der Behinderung mit 50 festzustellen.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Sachverständige Dr. T verkenne, dass auch der Beklagte von einem Einzel-GdB von 30 für das psychische Leiden ausgehe, woraus sich aber kein Gesamt-GdB von 50 ergebe.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung des Klägers ist zulässig und weitgehend begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist überwiegend unzutreffend. Die zulässige Klage ist überwiegend begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 21. März 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit er den geltend gemachten Anspruch ab dem 19. September 2019 betrifft, im Übrigen ist er rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 ab dem 19. September 2019, aber keine weitergehenden Ansprüche.

 

Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) in seiner seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind seit dem 1. Januar 2009 die in der Anlage zu § 2 VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten „versorgungsmedizinischen Grundsätze“ zu beachten, die durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite 249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928), vom 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124), vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I Seite 2153) und vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I Seite 2122) sowie durch Gesetze vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I Seite 3234), vom 17. Juli 2017 (BGBl. I Seite 2541) und vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I Seite 2652) Änderungen erfahren haben.

 

Einzel-GdB sind entsprechend den genannten Grundsätzen als Grad der Behinderung in Zehnergraden zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 152 Abs. 3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV).

 

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist der GdB hier seit dem 19. September 2019 mit 50, dagegen seit Antragstellung bei dem Beklagten bis zum 18. September 2019 nicht mit mehr als 40 zu bewerten. Die GdB-Bewertung folgt aus einer Gesamtschau der vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere aus den Gutachten der Sachverständigen Dr. T und Dr. T, die jeweils auf einer ambulanten Untersuchung des Klägers sowie einer kritischen Würdigung der sonstigen medizinischen Unterlagen beruhen und sowohl auf der Grundlage der herrschenden medizinischen Lehre als auch im Einklang mit den versorgungsmedizinischen Grundsätzen erstattet worden sind.

 

Führend ist hier ein seelisches Leiden, das nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV seit dem 19. September 2019 mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten ist. Denn bei dem Kläger liegen stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vor, die innerhalb des vorgegebenen Bewertungsrahmens mit einem Einzel-GdB von 30 angemessen bewertet sind. Dies ergibt sich aus den schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Dr. T. Auch der Kläger und – ausweislich seines Schriftsatzes auch vom 15. April 2024 – der Beklagte teilen diese Einschätzung. Der Senat teilt auch die Einschätzung des Sachverständigen, dass der Einzel-GdB von 30 sicher erst mit Beginn der psychiatrischen Behandlung am 19. September 2019 bei der Psychiaterin G belegt ist.

 

Ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 30 ist eine periphere arterielle Verschlusskrankheit zu bewerten. Hier ist eine solche im Stadium IIb nach Fontaine mit Beckenachsenverschluss ausdrücklich diagnostiziert worden (vgl. nur Epikrise des C--Klinikums  vom 16. August 2018). Diese Diagnose beinhaltet eine schmerzfreie Gehstrecke von unter 200 Metern, so dass nach Teil B Nr. 9.2.1 der Anlage zu § 2 VersMedV ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 eröffnet wäre; kein anderer GdB-Rahmen ist im Übrigen bei der vom behandelnden Hausarzt in einer ärztlichen Auskunft für den Beklagten vom 7. März 2019 mitgeteilten Gehstrecke von maximal 300 Metern eröffnet. Nach Anlage eines aorto-bifemoralen Prothesenbybasses ist indes auch der Bewertungsmaßstab von Teil B Nr. 9.2.2 der Anlage zu § 2 VersMedV heranzuziehen, der einen Einzel-GdB von (nur) 20 nach größeren gefäßchirurgischen Eingriffen (z. B. Prothesenimplantation) mit vollständiger Kompensation einschließlich Dauerbehandlung mit Antikoagulantien vorsieht. Ein größerer gefäßchirurgischer Eingriff liegt ebenso vor wie die Dauerbehandlung mit Antikoagulanzien (vgl. nur Gutachten Dr. T, Seite 17). Maßgeblich ist demnach, ob hier von einer vollständigen Kompensation ausgegangen werden kann. Hier sind die diesbezüglich auch zu berücksichtigenden Mitteilungen über die dem Kläger mögliche Gehstrecke heranzuziehen, die indes stark voneinander abweichen (Reha-Entlassungsbericht der Klinik  S vom 25. Oktober 2018: 400 Meter einerseits, 1.870 Meter andererseits; ärztliche Auskunft von Dr. G vom 7. März 2019: anhaltende Schmerzen und Gehbehinderung in den Beinen nach einer Gehstrecke von ca. 200 Metern, maximale Gehstrecke 300 Meter; Unfallversicherungsgutachten von Dr. M vom 7. April 2019: anamnestisch Laufstrecke ca. 3.000 Meter, allerdings Schmerzen beim Laufen; Arztbrief der chirurgischen Gemeinschaftspraxis  vom 8. Mai 2019: 500 bis 600 Meter, dann plötzlich einsetzendes Taubheitsgefühl im linken Oberschenkel ausstrahlend bis zum Fuß, keine Claudicatiobeschwerden; Gutachten Dr. T: anamnestisch beträgt die maximale Gehstrecke zwischen 500 und 800 Meter, dann Kreuz- und Gesäßschmerzen, keine Schmerzen an Waden und Unterschenkeln; Eintrag in der Patientenakte von Dr. G vom 23. Juni 2022: läuft aktuell ca. 300 Meter, nach 200 Metern Schmerzen; Gutachten Dr. T: anamnestisch Taubheitsgefühl im rechten Oberschenkel, neurologischer Untersuchungsbefund: umschriebene Hypästhesie im Bereich des rechten Oberschenkels). In der Gesamtschau kann ungeachtet der teilweise erheblichen Abweichungen in den mitgeteilten Gehstrecken nicht von einer vollständigen Kompensation im Sinne von Teil B Nr. 9.2.2 der Anlage zu § 2 VersMedV ausgegangen werden, womit auch der Hinweis des Sachverständigen Dr. T korrespondiert, es sei bei dem Kläger sicherlich nicht von einer intakten Durchblutung der Beine auszugehen. Der Einzel-GdB beträgt damit 30, zumal es für die GdB-Bewertung nicht nur auf die Gehstrecke als vielmehr auch darauf ankommt, ab wann Schmerzen beim Gehen eintreten. Deswegen geht der Beklagte fehl, wenn er in seiner ärztlichen Stellungnahme vom 23. September 2020 in Bezugnahme auf das unfallversicherungsrechtliche Gutachten von Dr. M nur die darin anamnestisch mitgeteilte Gehstrecke, nicht aber auch die Schmerzen beim Laufen berücksichtigt hat, zumal der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten in einer gutachtlichen Stellungnahme vom 2. Juli 2019 in Kenntnis von dem zuletzt genannten Gutachten weiter von einem Einzel-GdB von 30 ausgegangen ist.

 

Das Lendenwirbelsäulenleiden ist nach Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Denn es liegen insoweit Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor. Dies ergibt sich aus dem schlüssigen Gutachten des Sachverständigen Dr. T, der auch nachvollziehbar die Schwierigkeiten bei der Bestimmung des korrekten Einzel-GdB beschreibt. Denn die nach der Neutral-Null-Methode gemessenen Bewegungsmaße sind durchgehend leichtgradig oder im Normbereich. Andererseits hat der Sachverständige aber einen deutlichen Druckschmerz in den Wirbelabschnitten L4, L5 und S1 sowie über dem Iliosakralgelenk links geschildert. Letztere Schmerzen sind über einen positiven Patrick-Test abgesichert worden. Radiologisch hat der Sachverständige deutliche degenerative Veränderungen sowie eine Spondylolisthesis L5/S1 festgestellt. Nach Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV ergibt sich der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem sogenannten Postdiskotomiesyndrom) primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. Sogenannte Wirbelsäulensyndrome (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie, sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Das Ausmaß der Bewegungseinschränkung ist vorliegend sehr gering. Betroffen ist nur ein Wirbelsäulenabschnitt. Mit Blick auf die radiologisch nachgewiesene Instabilität und die daraus nachvollziehbar resultierende geminderte Belastbarkeit und Schmerzen wird hier aber ein Einzel-GdB von 20 erreicht.

 

Seit dem Bestehen eines Einzel-GdB von 30 für das seelische Leiden wird ein Gesamt-GdB von 50 erreicht. Die negativen Interaktionen zwischen Wirbelsäulenleiden und der peripher arteriellen Verschlusskrankheit hat bereits Dr. T beschrieben. Dr. T hat in Ansehung der neurotischen Persönlichkeitsstruktur des Klägers nachvollziehbar erklärt, dass der seelische Leidenszustand des Klägers durch die Hinnahme der körperlichen Erkrankungen in besonderer Weise verstärkt wird, so dass in der Gesamtschau seit dem 19. September 2019 der GdB von 50 und damit die Schwerbehinderung erreicht wird. Für die Zeit davor mit einem Einzel-GdB von 20 für das psychische Leiden wird ein GdB von 50 dagegen noch nicht erreicht, weil sich aus den bis dahin vorliegenden Einzel-GdB von 30, 20, 20 und 10 für ein Hüftgelenksleiden nur ein Gesamt-GdB von 40 ergibt. Das Lungenleiden ist ohnehin erst seit Januar 2023 mit einem Einzel-GdB von 20 zu berücksichtigen.

 

Abschließend merkt der Senat an, dass die nuanciert abweichende Bewertung der Einzel-GdB gegenüber den Einschätzungen von Dr. T rechtlich möglich ist. Denn abgesehen davon, dass die von Dr. T gleichsam salomonischen GdB-Vorschläge 10 bis 20 (Wirbelsäule) und 20 bis 30 (Verschlusskrankheit) in den versorgungsmedizinischen Grundsätzen nicht vorgesehen sind, ist die vorzunehmende Bemessung des GdB grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei müssen die Instanzgerichte bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 3 Satz 1 SGB IX maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 16. Dezember 2021 - B 9 SB 6/19 R – juris).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

 

 

Rechtskraft
Aus
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