- § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU gilt auch für Tätigkeiten, die genau ein Jahr gedauert haben (Anschluss an Bundessozialgericht, Urteil vom 9. März 2022 – B 7/14 AS 79/20 R - SGb 2022, 699).
- Die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 45 AEUV bleibt im Fall eines schwangerschaftsbedingten Beschäftigungsverbotes unberührt.
- § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch Zeiten eines schwangerschaftsbedingten Beschäftigungsverbotes in die Berechnung der Jahresfrist einzubeziehen sind.
- Zur Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 AEUV.
Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. Dezember 2023 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat den Klägerinnen auch deren außergerichtliche Kosten für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 28. Februar 2022.
Die 1990 geborene Klägerin zu 1. und ihre Tochter, die am September 2020 geborene Klägerin zu 2., sind rumänische Staatsangehörige. Die Klägerin zu 1. lebt seit dem 20. Juni 2019 in Deutschland. Vom 3. Juli 2019 bis zum 2. Juli 2020 war sie als Produktionshelferin in einem Betrieb für Fleisch- und Wurstproduktion abhängig beschäftigt. Grundlage hierfür war ein befristeter Arbeitsvertrag, in dem eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden und ein Stundenlohn von 9,20 Euro vereinbart worden waren. Unter dem 5. März 2020 sprach der Arbeitgeber nach Überprüfung des Arbeitsplatzes laut Mutterschutzgesetz (MuschG; §§ 4, 8 MuSchG) ab dem 3. April 2020 ein generelles Beschäftigungsverbot aus. Die Klägerin war ab dem 3. April 2020 nicht mehr für den Arbeitgeber tätig, der ihr nunmehr Mutterschutzlohn auf der Grundlage von monatlich 168 Stunden zu je 9,35 Euro zahlte. Mit Bescheid vom 19. November 2020 bescheinigte die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit L –, dass in Bezug auf die vorgenannte Beschäftigung die Arbeitslosigkeit unverschuldet eingetreten und die Bereitschaft zur Beendigung der Arbeitslosigkeit gegeben sei. Zudem wurde die unfreiwillige Arbeitslosigkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 Nr. 2 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) bestätigt. Die Klägerinnen bewohnten im streitigen Zeitraum eine Wohnung zu einer monatlichen Warmmiete von 580,- Euro. Die Klägerin zu 1. erhielt Kindergeld, die Klägerin zu 2. Leistungen in Höhe von monatlich 174,- Euro nach dem Unterhaltsvorschussgesetz. Weitere Einnahmen hatten sie nicht. Ihren Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 22. November 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Dezember 2021 mit der Begründung ab, ein Anspruch sei gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. Die Klägerin zu 1. verfüge über kein Daueraufenthaltsrecht im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II. Sie sei auch nicht Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Auch die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen lägen hier nicht vor. Damit liege ich hier nur ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche vor, woraus der Leistungsausschluss folge.
Hiergegen haben die Klägerinnen am 4. Januar 2022 Klage erhoben. Sie haben darauf verwiesen, dass gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU das Aufenthaltsrecht unter anderem für Arbeitnehmer fortbestehe, soweit diese nach einer mehr als einjährigen Beschäftigung unfreiwillig arbeitslos würden. Daher greife der Leistungsausschluss hier nicht. Nachdem der Beklagte Leistungen ab dem 1. März 2022 bewilligt hat, haben die Klägerinnen mit Schriftsatz vom 13. Juli 2023 den Streitzeitraum auf den eingangs genannten Zeitraum beschränkt.
Mit Gerichtsbescheid vom 5. Dezember 2023 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22. November 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Dezember 2021 dazu verurteilt, den Klägerinnen für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 28. Februar 2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung ihrer tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die Klägerinnen erfüllten die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Die Voraussetzungen für den Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II lägen nicht vor. Die Klägerin zu 1. sei im streitgegenständlichen Zeitraum zwar keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen, sie sei jedoch nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Hier lägen die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU vor. Allerdings sei die Klägerin zu 1. nicht, wie in der Norm vorausgesetzt, mehr als ein Jahr beschäftigt gewesen, sondern genau ein Jahr. Die hier vorliegende Regelungslücke sei in der Weise zu schließen, dass die einjährige Beschäftigung unter den Tatbestand des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU zu subsumieren sei. Der Umstand, dass die Klägerin zu 1. ab dem 3. April 2020 einem Beschäftigungsverbot unterlegen und daher tatsächlich weniger als ein Jahr gearbeitet habe, führe zu keiner anderen Bewertung des Sachverhaltes. Dies folge zum einen aus dem Sinn und Zweck der nationalen Mutterschutzvorschriften, die gerade den Zweck verfolgten, Beschäftigungsverhältnisse auch während einer schwangerschaftsbedingt eingeschränkten Einsetzbarkeit der Arbeitnehmerin aufrechtzuerhalten. Der Klägerin zu 1. Mutterschutzzeiten zum Nachteil gereichen zu lassen, sei mit der Zielsetzung nationaler Mutterschutzvorschriften und auch des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots von Männern und Frauen nicht zu vereinbaren. Zum anderen sei in der europarechtlichen Rechtsprechung geklärt, dass die Arbeitnehmereigenschaft im europarechtlichen Sinne aufrecht erhalten bleibe, sofern die Erwerbstätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium der Schwangerschaft aufgegeben werde (Bezugnahme auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs <EuGH> vom 19. Juni 2014 – C-507/12- Saint Prix).
Gegen den ihm am 20. Dezember 2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 15. Januar 2024 Berufung eingelegt. Er meint, die von dem Sozialgericht vorgenommene Auslegung des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU spreche gegen dessen klaren Wortlaut. Außerdem sei eine solche rechtliche Würdigung einer europarechtlichen Regelung dem EuGH vorbehalten. Der Beklagte habe den Umstand des Beschäftigungsverbotes ab dem 3. April 2020 bereits in einem anderen Widerspruchsverfahren berücksichtigt und den gesetzlich vorgegebenen zeitlichen Schutzbereich, vorliegend bis zum 12. November 2020, berücksichtigt. Zur Bestimmung des Endes der Fortgeltungsdauer der Beschäftigteneigenschaft sei in der Regel auf die Mutterschutzfrist nach § 6 Abs. 1 MuSchG zurückzugreifen, also auf die Dauer von acht Wochen nach Entbindung. Eine Fortgeltung der Beschäftigteneigenschaft sei hier damit ab dem 13. November 2020 nicht mehr in Betracht gekommen. Dagegen spreche auch nicht die vom Sozialgericht zitierte Entscheidung des EuGH.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. Dezember 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerinnen beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie meinen, hinsichtlich der Auslegung des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU sei es durch die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 9. März 2022 (B 7/14 AS 79/20 R) geklärt, dass die zeitlich unbegrenzte Fortwirkung des Arbeitnehmerstatus auch an eine genau ein Jahr andauernde Beschäftigung anknüpfe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die die Klägerinnen betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 SGG.
Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist zutreffend. Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid vom 22. November 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Dezember 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten. Ihnen stehen für den streitigen Zeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zu.
Dass die Klägerinnen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen – die Klägerin zu 2. ist nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II Mitglied der Bedarfsgemeinschaft -, hat das Sozialgericht zutreffend ausgeführt. Davon geht auch der Senat aus. Der hier allein streitige Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II ist nicht einschlägig. Danach sind von Leistungen ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen. Die Klägerin zu 1. ist zwar Ausländerin. Sie hat sich im streitigen Zeitraum aber nicht nur zur Arbeitsuche in Deutschland aufgehalten. Sie war während der Zeit des Bestehens des Beschäftigungsverhältnisses vom 3. Juli 2019 bis zum 2. Juli 2020 Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Dieser Status ist ihr nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU erhalten geblieben. Danach bleibt das Recht nach Absatz 1 für Arbeitnehmer unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Eine unfreiwillige durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit liegt hier ohne weiteres vor, diese bescheinigt durch Bescheid der Agentur für Arbeit L vom 19. November 2020. Im Rechtssinne liegt hier auch eine mehr als einjährige Tätigkeit vor. Dass § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU auch für Tätigkeiten gilt, die genau ein Jahr gedauert haben, hat das BSG ausdrücklich entschieden (Urteil vom 9. März 2022 – B 7/14 AS 79/20 R - SGb 2022, 699 mit Anm. Bokeloh). Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an, so dass § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU hier nicht schon deshalb ausgeschlossen ist, weil die Tätigkeit der Klägerin zu 1. genau ein Jahr gedauert hat.
Dem Anspruch steht hier auch nicht der Umstand entgegen, dass die Klägerin zu 1. ab dem 3. April 2020 aufgrund eines von ihrem Arbeitgeber erklärten Beschäftigungsverbotes tatsächlich nicht mehr gearbeitet hat. Die Klägerin zu 1. war vom 3. Juli 2019 bis zum 2. Juli 2020 durchgehend Arbeitnehmerin und damit tätig im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU.
Nach § 2 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen. Der Begriff des Arbeitnehmers im Freizügigkeitsrecht ist als autonomer Begriff des Gemeinschaftsrechts unionsrechtlich zu bestimmen; er muss mit dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Arbeitnehmerbegriff nicht übereinstimmen. In Abgrenzung zu Nichterwerbstätigen ist jeder als „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 45 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Zugleich bleibt das Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nach den Regelungen in Abs. 3 Satz 1 für Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätige unberührt bei vorübergehender Erwerbsminderung in Folge Krankheit oder Unfall, unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbstständigen Tätigkeit in Folge von Umständen, auf die der Selbstständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit oder Aufnahme einer Berufsausbildung, wenn zwischen der Ausbildung und der früheren Erwerbstätigkeit ein Zusammenhang besteht. Im Umkehrschluss verliert eine Person freizügigkeitsrechtlich die Arbeitnehmereigenschaft also mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wobei jedoch – wie die in § 2 Abs. 3 Satz 1 FreizügG/EU aufgeführten Fallkonstellationen zeigen – diese Eigenschaft nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestimmte Folgewirkungen haben kann. Damit hängen die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 45 AEUV und die sich aus ihr ergebenden Rechte nicht unbedingt vom tatsächlichen Bestehen oder Fortbestehen eines Arbeitsverhältnisses ab (vgl. BSG, Urteil vom 9. März 2022 - B 7/14 AS 91/20 R – NZS 2023, 259 mit Anm. Becker). Über die Fälle des tatsächlich beendeten Arbeitsverhältnisses hinaus hat der EuGH seine Rechtsprechung in Sachverhaltskonstellationen weiterentwickelt, in denen – bei einem fortbestehenden Arbeitsverhältnis – das Erfordernis der tatsächlichen Tätigkeit für die Erfüllung des Arbeitnehmerbegriffs ausnahmsweise entfallen kann. Für Erziehende in Elternzeit, deren Arbeitsverhältnis nach nationalem Recht ruht, hat er ausgeführt, dass der Arbeitnehmer im Elternurlaub während dieses Urlaubs ein Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts bleibt. Zudem muss sichergestellt werden, dass die Rechte, die der Arbeitnehmer bei Antritt des Elternurlaubs bereits erworben hatte oder dabei war zu erwerben, bis zum Ende des Elternurlaubs bestehen bleiben und sich der Arbeitnehmer im Anschluss an den Elternurlaub im Hinblick auf diese Rechte in derselben Situation befindet wie vor dem Elternurlaub (vgl. die Nachweise im Urteil des BSG vom 9. März 2022 - B 7/14 AS 91/20 R – NZS 2023, 259).
Wenn aber die Arbeitnehmereigenschaft nach vorstehenden Ausführungen durch einen Elternurlaub unberührt bleibt, gilt das Gleiche erst Recht für den vorliegenden Fall eines schwangerschaftsbedingten Beschäftigungsverbotes. Entsprechend hat der EuGH auch in der vom Sozialgericht in Bezug genommenen Entscheidung vom 19. Juni 2014 (C-507/12 – Saint Prix - NZA 2014, 765) Art. 45 AEUV dahin ausgelegt, dass eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, die Arbeitnehmerschaft im Sinne dieser Vorschrift behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Stelle findet. Dabei kann die letztgenannte Einschränkung – Aufnahme der Beschäftigung innerhalb angemessener Zeit – vorliegt keine Rolle spielen, weil am Erhalt der Arbeitnehmereigenschaft (jedenfalls) bis zum 2. Juli 2020 keine Zweifel bestehen, da die Klägerin zu 1. bis dahin einem Beschäftigungsverbot unterlag und das Arbeitsverhältnis mit ihrem Arbeitgeber bestand.
Wenn aber die Klägerin zu 1. jedenfalls bis zum 2. Juli 2020 Arbeitnehmerin war, war sie auch im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU „tätig“. Das gilt umso mehr, als Frauen durch die mutterschutzrechtlichen Vorschriften keine Nachteile im Erwerbsleben erleiden dürfen (BeckOK ArbR/Dahm MuSchG § 3 Rn. 6). Das Bundesverfassungsgericht hatte es als mit Art. 6 Abs. 4 des Grundgesetzes unvereinbar erachtet, dass Zeiten, in denen Frauen wegen der mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbote ihre versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrachen, nach damaligem Recht bei der Berechnung der Anwartschaftszeit in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung nicht berücksichtigt wurden (Beschluss vom 28. März 2006 – 1 BvL 10/01 - NJW 2006, 1721). Bei dieser Sachlage ist § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch Zeiten eines schwangerschaftsbedingten Beschäftigungsverbotes in die Berechnung der Jahresfrist einzubeziehen sind.
Der Einwand des Beklagten, zur Bestimmung des Endes der Fortgeltungsdauer der Beschäftigteneigenschaft sei in der Regel auf die Mutterschutzfrist des § 6 Abs. 1 MuSchG – also acht Wochen nach der Entbindung – zurückzugreifen, greift vorliegend nicht durch, weil im Rahmen der Auslegung des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU der Fortbestand der Arbeitnehmereigenschaft bis zum 2. Juli 2020 ausreicht, um von einer einjährigen Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU auszugehen.
Ob die demnach erhaltene Arbeitnehmereigenschaft unbegrenzt andauert oder von einer zweijährigen Höchstfrist auszugehen ist (vgl. Bergmann/Dienelt/Dienelt FreizügG/EU § 2 Rn. 126; offen gelassen in BSG, Urteil vom 13. Juli 2017 - B 4 AS 17/16 R - juris), kann dahinstehen, weil eine solche Frist vorliegend im streitigen Zeitraum noch nicht verstrichen war.
Eine Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 AEUV war hier nicht geboten. Eine Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV bestand hier bereits deshalb nicht, weil der Senat nicht letztinstanzlich entscheidet. Eine ausnahmsweise Vorlagepflicht auch nicht-letztinstanzlicher Gerichte besteht nach der Rechtsprechung des EuGH nur in den hier nicht einschlägigen Fällen, in denen das nationale Gericht eine Vorschrift des Unionsrechts oder eine sonstige Handlung eines Unionsorgans für ungültig erachtet und außer Anwendung lassen will (Calliess/Ruffert/Wegener AEUV Art. 267 Rn. 29). Aber auch eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 2 AEUV war hier nicht notwendig. Wird danach eine Frage über die Auslegung der Verträge oder über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegen. Eine Vorlage an den EuGH war hier aber nicht notwendig, weil die Arbeitnehmereigenschaft schwangerer Frauen, die aus Gründen des Mutterschutzes einem Beschäftigungsverbot unterliegen, durch die Rechtsprechung des EuGH bereits eindeutig bejaht worden ist (Urteil vom 19. Juni 2014 - C-507/12 – Saint Prix - NZA 2014, 765). Daraus ergibt sich auch im Zusammenspiel mit deutschem Verfassungsrecht zwanglos die hier gefundene Auslegung des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU, so dass die hier aufgeworfene Frage eindeutig zu beantworten ist („acte clair“; vgl. BSG, Urteil vom 29. März 2022 - B 11 AL 4/21 R – juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.