L 10 R 130/24

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 5 R 1582/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 130/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Die Versicherte trägt die objektive Beweislast dafür, dass der Versicherungsfall der Erwerbsminderung zu einem Zeitpunkt eingetreten ist, zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmals vorgelegen haben und seither ununterbrochen besteht.
2. Ohne ärztlich dokumentierte Befunde und funktionelle Beeinträchtigungen lässt sich nicht allein auf der Grundlage von einer behandelnden Psychotherapeutin mitgeteilten Beschwerdeangaben der Versicherten eine Erwerbsminderung feststellen.

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 12.12.2023 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin für die Zeit vom 01.10.2021 bis 30.09.2024 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zusteht.

Die 1964 geborene Klägerin - Mutter von drei Kindern, ihr erstes Kind verstarb 1991 im Alter von vier Jahren - war zunächst von Mitte Oktober 1981 bis Mitte April 1982 als hauswirtschaftlich-pflegerische Praktikantin im Kreiskrankenhaus E1 und von Anfang Mai 1982 bis Ende September 1984 als Pflegehilfskraft im Psychiatrischen Landeskrankenhaus E1 versicherungspflichtig tätig. Von Anfang Oktober 1984 - mit Unterbrechungen durch Mutterschutz und Erziehungsurlaub - bis Anfang März 1989 durchlief sie dort erfolgreich eine Ausbildung zur Krankenschwester und war in diesem Beruf, wiederum unterbrochen durch Mutterschutz- und Kindererziehungszeiten, bis Ende September 1996 (ab Anfang Februar 1993 in der Abteilung Neurophysiologie des Universitätsklinikums F1) beschäftigt. Von April 1999 bis Ende August 2013 war sie sodann geringfügig ohne Versicherungspflicht und vom 01.09.2013 (mit Unterbrechung im März 2014) bis 20.12.2016 (letzter Pflichtbeitragsmonat) versicherungspflichtig in Teilzeit (ein- bis dreimal die Woche, drei bis fünf Stunden, S. 178 VerwA) als Servicekraft in der Gaststätte des Lebensgefährten ihrer Schwester (S. 195 VerwA); ausweislich der Angaben der Klägerin (Aufgabe der Beschäftigung „wegen Geschäftsaufgabe“, S. 179 VerwA und S. 3 SG-Akte) gab dieser den Betrieb Ende 2016 auf. Wegen der weiteren Einzelheiten der zurückgelegten rentenrechtlichen Versicherungszeiten wird auf den Versicherungsverlauf vom 14.02.2024 (S. 33 ff. Senats-Akte), der für die Zeit nach Dezember 2016 keinerlei Eintragungen mehr enthält, Bezug genommen.

Vom 27.11.2013 bis 08.01.2014 befand sich die Klägerin in psychiatrisch-stationärer Behandlung in der F2-Klinik in B1. Im Entlassungsbericht vom 05.02.2014 nannten die Ärzte als Diagnosen eine rezidivierende depressive Störung ohne psychotische Symptome, gegenwärtig schwere depressive Episode (bei Entlassung nach teilweiser Besserung noch mittelgradig ausgeprägt), einen Zustand nach (Z.n.) Meningitis sowie eine Kurzsichtigkeit (Myopie). Sie wiesen darauf hin, dass die Klägerin seit Jahren nicht in psychiatrischer Behandlung stehe.

Am frühen Abend des 08.11.2016 stellte sich die Klägerin in der Chirurgischen Klinik des O1 Klinikums in L1 vor, nachdem sie ausgerutscht und hingefallen war; einen Bezug zu ihrer beruflichen Tätigkeit - namentlich einen Arbeitsunfall - erwähnte sie (auch in Folge) nicht. Die Ärzte diagnostizierten eine Schulterluxation rechts und veranlassten eine MRT der Schulter, die am 28.11.2016 eine subtotale Ruptur der Supraspinatussehne, eine partielle Ruptur der Infraspinatussehne, eine schwerste Tendinose der Subscapularissehne, einen Einriss des Bizepsankers mit Ablösung des anterioren Labrums und eine Tendinose der langen Bizepssehne mit ausgeprägtem subacromialen Sporn ergab. Wegen der Schulterbeschwerden bescheinigte der Hausarzt der Klägerin bis einschließlich 08.01.2017 Arbeitsunfähigkeit (S. 48 SG-Akte).

Am 13.10.2021 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung, nannte als Gesundheitsstörungen „Depressionen, Schulterluxation, Tinnitus, Gürtelrose“ sowie „wiederkehrender Schwindel nach Commotio“ und verwies auf ihren Hausarzt, ihren HNO-Arzt, ihre Psychotherapeutin und den Entlassungsbericht der Ärzte in B1; in ihrem Begleitschreiben zum Rentenantrag (S. 195 VerwA) schilderte die Klägerin ihren vielfältigen lebensgeschichtlichen und psychosozialen Belastungen, Unfälle erwähnte sie hingegen nicht, namentlich auch kein Schädeltrauma.

Mit Bescheid vom 28.10.2021 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mangels Vorliegens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (ausgehend vom Tag der Rentenantragstellung lediglich drei Monate mit Pflichtbeiträgen im Fünf-Jahres-Zeitraum) ab. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass der Versicherungsfall einer Erwerbsminderung am 29.11.2016 aufgrund des „unfallbedingten“ Endes ihres letzten Arbeitsverhältnisses eingetreten sei. Die Beklagte zog u.a. die o.a. ärztlichen Unterlagen bei, namentlich auch den Arztbrief des W1 vom 26.07.2021 über die erstmalige Behandlung der Klägerin sowie das Schreiben der H1 vom 04.02.2022 (u.a. deutliche Besserung im Verlauf der psychotherapeutischen Behandlung, daher Reduktion der psychopharmakologischen Dosis des Antidepressivums Venlafaxin 225 mg auf null) und deren Bericht vom selben Tag (Diagnosen: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, komplexe Traumafolgestörung; einzig angegebene ärztliche Behandlung wegen psychischer Probleme: F2-Klinik 2013/14); die Krankenkasse der Klägerin teilte der Beklagten mit, dass ihr keinerlei Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin bekannt seien. Der Beratungsarzt der Beklagten, L2, wies in sozialmedizinischen Stellungnahmen darauf hin, dass mit den aktenkundigen Unterlagen und insbesondere auch den Äußerungen der Psychologischen Psychotherapeutin eine Erwerbsminderung seit 2016 nicht ansatzweise begründet werden könne; die in der MRT im November 2016 sichtbaren Veränderungen im Bereich der rechten Schulter führten ohnehin allein zu qualitativen Einschränkungen, nicht jedoch zu einer quantitativen Minderung der Erwerbsfähigkeit. Darauf gestützt wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2022 zurück. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien nur bis 31.12.2018 erfüllt und für den Eintritt einer Erwerbsminderung im Jahr 2016 bestünden keinerlei Anhaltspunkte.

Hiergegen hat die Klägerin am 30.05.2022 beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben, mit der sie eine auf drei Jahre befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2021 begehrt hat. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt. Sie leide seit dem Tod ihres Sohnes an einer Depression und habe seitdem nur unter Aufbringung ihrer ganzen Kraft und nur stundenweise arbeiten können. Nach dem „unfallbedingten Ende ihrer Erwerbstätigkeit 2016“ sei es ihr „aus somatischen und psychischen Gründen“ nicht mehr möglich gewesen, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Wie H1 zutreffend beschrieben habe, sei sie über die Führung des Haushalts hinausgehenden Anforderungen nicht gewachsen. Außerdem müsse die Klägerin wegen der Schulterluxation „voraussichtlich“ operiert werden.

Das SG hat den Hausarzt der Klägerin, D1, sowie H1 schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. D1 hat u.a. bekundet (Auskunft vom 21.07.2022), die Klägerin 2016 wegen einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung der rechten Schulter (Anfang Dezember 2016 „noch“ schmerzhaft) und dann erst wieder Anfang 2020 wegen der Schulter und einer „depressiven Verstimmung“ behandelt zu haben. Seiner Auffassung nach seien der Klägerin „seit Beginn der Therapie“ leichte berufliche Tätigkeiten ohne schulterbelastende Arbeiten nur noch unter sechs Stunden täglich möglich. Aus dem von ihm übersandten Karteikartenauszug (S. 48 f. SG-Akte) ergibt sich namentlich die bereits oben erwähnte Behandlung mit Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich 08.01.2017 wegen der stattgehabten Schulterluxation rechts bei Z.n. Rotatorenmanschettenschaden, eine weitere Behandlung wegen Schulterschmerzen am 12.04.2017, eine einmalige Behandlung am 03.07.2017 wegen einer nicht näher bezeichneten Depression (F32.9 nach ICD-10) mit Venlafaxin-Verordnung sowie eine weitere Behandlung wegen eines Nacken-Schulter-Arm-Syndroms am 08.11.2017 mit Verordnung von manueller Therapie; im Jahr 2018 war die Klägerin überhaupt nicht bei D1 vorstellig und die nächste Behandlung fand erst wieder Ende 2019 bzw. Anfang 2020 wegen eines Herpes Zoster respektive des Nacken-Schulter-Arm-Syndroms statt (zwischen dem 08.11.2017 und dem 17.12.2019 fanden nur vereinzelte Rezeptausstellungen statt); am 12.05.2020 erfolgte dann erneut eine Behandlung wegen einer „depressiven Verstimmung“. H1 hat in ihrer Auskunft vom 03.09.2022 angegeben, dass es im Verlauf ihrer Langzeittherapie der Klägerin „2014-2019“ in Bezug auf die Schwere der affektiven Erkrankung zu einer Besserung gekommen sei. Die antidepressive Medikation habe „reduziert“ (s. freilich im Schreiben vom 04.02.2022 genauer: auf null) werden können. Eine vollständige Reduktion der Beschwerden sei nicht erzielt worden, ab 2020 (genauer: Mitte Mai 2020, S. 167 VerwA) habe insbesondere die depressive Symptomatik wieder „aggraviert“. Seit Beginn der Behandlung (Anfang 2014) liege die psychische Leistungsfähigkeit der Klägerin bei weniger als drei Stunden täglich. Dies gründe v.a. auf der geringen Belastbarkeit und schnell eintretenden Erschöpfung.

Die Beklagte hat die beratungsärztliche Stellungnahme des Sozialmediziners S1 vom 26.09.2022 (S. 70 f. SG-Akte) vorgelegt. In dieser hat er Arzt u.a. dargelegt, dass es bei der Klägerin nach dem akutstationären Aufenthalt bis Anfang 2014 ersichtlich zu einer deutlichen Stabilisierung gekommen sei, denn die psychopharmakologische Therapie habe in Folge auf null gesetzt werden können, was schon gegen die Annahme einer verminderten zeitlichen Leistungsfähigkeit spreche; einer gänzlichen „Symptomfreiheit“ bedürfe es nicht. Erst im Mai 2020 sei dann - so übereinstimmend die Unterlagen des D1 und die Äußerungen der H1 - eine Verschlechterung in Gestalt einer „depressiven Verstimmung“ eingetreten, also deutlich nach Ende 2018. Unabhängig von der Frage des aktuellen Gesundheitszustands der Klägerin und ihres aktuellen Leistungsbilds bestünden keinerlei Hinweise, dass ihr quantitatives Leistungsvermögen durchgängig seit Ende 2018 gemindert sei.

In ihrer „ergänzenden Stellungnahme“ vom 23.11.2022 ist H1 bei ihrer Auffassung geblieben und hat unter Darstellung der lebensgeschichtlichen Belastungen der Klägerin insbesondere (s. im Einzelnen S. 77 ff. SG-Akte) gemeint, dass die Beendigung der Psychotherapie (Anfang September 2019, s. S. 167 VerwA) nicht auf eine „deutliche Stabilisierung“, so S1, zurückzuführen gewesen sei, sondern weil das von der Krankenversicherung bewilligte Stundenkontingent aufgebraucht gewesen sei. Tatsächlich sei es bei der Klägerin nie zu einer „nennenswerten“ Remission der depressiven Symptomatik gekommen, es habe sich „nur eine partielle Besserung“ ergeben. Nach wie vor bestehe die Diagnose einer depressiven Episode, bei der sich lediglich der Schweregrad verändert habe. Der Klägerin sei „zu keiner Zeit eine „mehr als sechsstündige Erwerbstätigkeit“ möglich gewesen.

In seiner weiteren sozialmedizinischen Stellungnahme vom 25.01.2023 (S. 85 f. SG-Akte) ist S1 dabei geblieben, dass ein Versicherungsfall der Erwerbsminderung weder im November 2016 noch zu einem späteren Zeitpunkt bis Ende 2018 medizinisch zu begründen sei. Schon der Umstand, dass die Behandlungsfrequenz (jedenfalls bis Mai 2020) habe deutlich reduziert werden können und Psychopharmaka ausgeschlichen worden seien, spreche gegen eine erhebliche, gleichbleibende Krankheitsschwere mit Auswirkung auf das zeitliche Leistungsvermögen. Ohnehin habe H1 zuletzt lediglich noch ein „mehr“ als sechsstündiges Leistungsvermögen ausgeschlossen, sodass auch deshalb eine Erwerbsminderung nicht vorliege.

Die Klägerseite hat geltend gemacht, dass es der Klägerin ab Beendigung der beruflichen Tätigkeit „Ende Dezember 2016“ auf Grund der Depression nicht mehr möglich gewesen sei, eine Arbeitsstelle aufzunehmen (S. 87 SG-Akte).

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG den Bescheid vom 28.10.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2022 mit Gerichtsbescheid vom 12.12.2023 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab dem 01.10.2021 befristet bis zum 30.09.2024 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren; außerdem hat es angeordnet, dass die Beklagte die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen habe. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin aufgrund „der chronischen depressiven Störung“ seit Ende Dezember 2016 und bis heute in ihrer Leistungsfähigkeit auch in quantitativer Hinsicht derart eingeschränkt sei, dass sie nur noch drei bis unter sechs Stunden täglich arbeiten könne. Es hat sich dabei auf die Äußerungen der H1 gestützt, die schlüssig und überzeugend seien. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarkts beginne mit der Antragstellung (Hinweis auf § 101 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VI]) und sei auf drei Jahre zu befristen (Hinweis auf § 102 Abs. 2 Satz 1, 2 und 5 SGB VI).

Gegen den ihr am 13.12.2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 10.01.2024 Berufung eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen auf die Stellungnahmen des S1 sowie auf die ergänzend vorgelegte sozialmedizinische Stellungnahme des N1 vom 04.01.2024 (S. 7 f. Senats-Akte) verwiesen. N1 hat zusammengefasst darauf hingewiesen, dass H1 schon keine (Fach-)Ärztin sei, ihre Berichte im Verwaltungs- und SG-Verfahren keine klinischen Befunde enthielten, aus ihren Beschreibungen ohnehin nur eine allenfalls leichtgradige Depressivität der Klägerin abgeleitet werden könne und dass diese sich seit einem Jahrzehnt überhaupt nicht in psychiatrischer Facharztbehandlung befinde. Zu keinem Zeitpunkt sei aus den aktenkundigen Unterlagen eine Erwerbsminderung ersichtlich.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 12.12.2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat den angefochtenen Gerichtsbescheid verteidigt und vorgebracht, dass ihr Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht (erst) mit dem Ende ihrer letzten beruflichen Tätigkeit, das mit einem Unfall zusammengefallen sei, zumindest unter sechs Stunden täglich liege. Vorher habe die Klägerin in ihrer Arbeit in der Gastronomie „noch Halt gefunden“. Sie sei im Übrigen „auch“ über die hausärztliche Praxis bei H2 „angebunden“ gewesen, auf Grund ihrer Depression aber nur eingeschränkt in der Lage gewesen, Arztbesuche wahrzunehmen; „nur bezogen auf die Psychotherapie sei es der Klägerin gelungen, diese regelmäßig wahrzunehmen“.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den In-halt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist zulässig und auch begründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 12.12.2023, soweit die Beklagte klageantragsgemäß unter Aufhebung ihres Bescheids
vom 28.10.2021 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2022 zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.10.2021 befristet bis zum 30.09.2024 verurteilt worden ist.

Das SG hat die Beklagte zu Unrecht unter Aufhebung der Bescheide verurteilt, der Klägerin auf deren Rentenantrag vom 13.10.2021 (vgl. § 115 Abs. 1 Satz 1 SGB VI) - ausgehend von einem „Leistungsfall“ (richtig wäre: Versicherungsfall; vgl. zur terminologischen Unterscheidung grundlegend Bundessozialgericht [BSG] 29.11.1990, 5/4a RJ 41/87, in juris, Rn. 22 ff.; 05.03.1965, 11/1 RA 239/61, in juris, Rn. 15) Ende Dezember 2016 - Rente wegen voller Erwerbsminderung (bei medizinisch teilweiser Erwerbsminderung und Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarkts) vom 01.10.2021 (Beginn des Monats der [verspäteten] Rentenantragstellung, § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI; der Hinweis des SG auf § 101 Abs. 1 SGB VI geht schon nach dessen eigener Rechtsauffassung [Eintritt einer Erwerbsminderung Ende Dezember 2016 und Leistungsverurteilung ab Beginn des Rentenantragsmonats] fehl) befristet (vgl. § 102 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB VI; auch der Hinweis des SG auf Satz 5 der Norm geht fehl, weil die ausgeurteilte Rente gerade nicht „unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage“ bestehen soll) bis zum 30.09.2024 zu gewähren. Denn der Bescheid vom 28.10.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2022 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Der Senat vermag sich nach eigener Prüfung und Würdigung des Sach- und Streitstoffs (vgl. § 157 SGG) nicht davon zu überzeugen, dass bei der Klägerin zu irgendeinem Zeitpunkt ab Ende des Jahres 2016 - wie von ihr anwaltlich vertreten auch zuletzt ausdrücklich und allein geltend gemacht - bis spätestens 31.12.2018 (Zeitpunkt des letztmaligen Vorliegens der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, s. dazu sogleich) eine Erwerbsminderung im Sinne der maßgeblichen gesetzlichen Regelungen (§ 43 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 1 Satz 2 SGB VI) eingetreten ist und seither ununterbrochen - andernfalls fehlte der Versicherungsfall als Voraussetzung (s. dazu nur BSG
29.11.1990, 5/4a RJ 41/87, a.a.O. Rn. 24 f.; vgl. auch BSG 29.03.2006, B 13 RJ 31/05 R, in juris, Rn. 12) eines Leistungsfalls im Oktober 2021 und damit die Grundlage für die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung im ausgeurteilten Zeitraum - besteht; auf die Frage, ob bei der Klägerin ein Versicherungsfall der (vollen bzw. teilweisen) Erwerbsminderung nach dem 31.12.2018 eingetreten ist, kommt es von vornherein nicht an, weil die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seither nicht mehr erfüllt sind (s. statt vieler nur BSG 19.05.2004, B 13 RJ 4/04 R, in juris, Rn. 21).

Voraussetzung für einen Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung ist u.a. nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bzw. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, dass der Versicherte in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hat (sog. Drei-Fünftel-Belegung). Zu Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zählen nach § 55 Abs. 2 SGB VI auch freiwillige Beiträge, die als Pflichtbeiträge gelten (Nr. 1), oder (Nr. 2) Pflichtbeiträge, für die aus den in § 3 oder § 4 SGB VI genannten Gründen Beiträge gezahlt worden sind oder als gezahlt gelten (dies betrifft insbesondere auch Pflichtbeiträge für Lohnersatzleistungen, vgl. § 3 Satz 1 Nr. 3 und Nr. 3a SGB VI) oder Beiträge für Anrechnungszeiten, die ein Leistungsträger mitgetragen hat (Nr. 3).

Diese besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen hat die Klägerin letztmalig für einen spätestens am 31.12.2018 eingetretenen Versicherungsfall erfüllt. Zu diesem Zeitpunkt hat die sog. Drei-Fünftel-Belegung zuletzt vorgelegen, weil ausweislich des Versicherungsverlaufs vom 14.02.2024 (S. 33 ff.
Senats-Akte) - dessen Vollständig- und Richtigkeit die Klägerseite nicht in Zweifel gezogen hat - im Fünf-Jahres-Zeitraum vom 31.12.2013 bis 30.12.2018 insgesamt (noch) 36 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt sind, anders als bei einem erst am 01.01.2019 (dann nur 35 Monate mit Pflichtbeiträgen im Zeitraum vom 01.01.2014 bis 31.12.2018) oder später eingetretenen Versicherungsfall, nachdem ab Januar 2017 überhaupt keine rentenrechtlichen Versicherungszeiten mehr zurückgelegt sind.

Es greift vorliegend auch keiner der Tatbestände des § 43 Abs. 5 SGB VI bzw. des § 241 Abs. 2 SGB VI ein (dann wäre eine Pflichtbeitragszeit für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht erforderlich). Nach § 43 Abs. 5 SGB VI ist eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestands eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit (§ 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI) vorzeitig erfüllt ist (vgl. § 53 SGB VI). Dafür ist vorliegend nichts dargetan und auch nichts ersichtlich. Gemäß § 241 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sind Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor Eintritt der Erwerbsminderung für Versicherte auch dann nicht erforderlich, die vor dem 01.01.1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat vom 01.01.1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung mit sog. Anwartschaftserhaltungszeiten (§ 241 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 6 SGB VI) belegt ist. Dies ist vorliegend bereits deshalb nicht der Fall, weil das Versicherungskonto der Klägerin erst ab dem 15.10.1981 rentenrechtliche Zeiten aufweist (s. Versicherungsverlauf S. 33 Senats-Akte). Dass die Klägerin schließlich bereits vor dem 01.01.1984 erwerbsgemindert gewesen und seitdem durchgängig ist - sodass auch insoweit Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht erforderlich wären (§ 241 Abs. 2 Satz 1 a.E. SGB VI) -, ist nicht ersichtlich und von ihr auch nicht einmal nur behauptet worden.

Unter Zugrundelegung dessen müsste die Klägerin somit spätestens Ende Dezember 2018, dem letztmaligen Zeitpunkt, zu dem die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch erfüllt gewesen sind, und seither durchgehend (s.o.) erwerbsgemindert (gewesen) sein. Dies vermag der Senat nicht festzustellen.

Nach den im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsätzen der Darlegungs- und objektiven Beweislast müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen (vorliegend also der Eintritt einer Erwerbsminderung i.S.d. § 43 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 SGB VI) im Übrigen erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. z.B. BSG 11.12.2019, B 13 R 164/18 B, in juris, Rn. 6). Ist ein solcher Nachweis nicht möglich, geht dies zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet (vgl. z.B. BSG a.a.O.; 27.06.1991, 2 RU 31/90, in juris, Rn. 17), vorliegend also zu Lasten der Klägerin (vgl. BSG 29.07.2004, B 4 RA 5/04, in juris, Rn. 24; Senatsurteil vom 23.03.2023, L 10 R 997/22, in juris, Rn. 26 m.w.N.; Freudenberg in jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 43 Rn. 323, Stand 03.04.2024).

Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht über die Regelung des § 43 Abs. 2 SGB VI hinaus nach der Rechtsprechung des BSG bei regelmäßig bejahter Verschlossenheit des (Teilzeit-)Arbeitsmarkts auch dann, wenn eine zeitliche Leistungseinschränkung von drei bis unter sechs Stunden vorliegt (Großer Senat 10.12.1976, GS 2/75 u.a., in juris). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Davon ausgehend lässt sich eine zeitlich überdauernde (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 SGB VI: „auf nicht absehbare Zeit“, d.h. für länger als sechs Monate, s. dazu nur Senatsbeschluss vom 21.11.2016, L 10 R 940/15, in juris, Rn. 37 und Senatsurteil vom 16.06.2016, L 10 R 2324/14, in juris, Rn. 42 m.w.N.; Freudenberg a.a.O. Rn. 103; vgl. auch bereits BSG 23.03.1977, 4 RJ 49/76, in juris, Rn. 15) gesundheitliche Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin für leichte, qualitativ angepasste, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen im Umfang von wenigstens sechs Stunden arbeitstäglich (zu diesem Maßstab s. nur BSG 11.12.2019, B 13 R 7/18 R, in juris, Rn. 13 ff. m.w.N., st. Rspr.) weder im Dezember 2016 noch bis Ende Dezember 2018 (s.o.) begründen, geschweige denn über den 31.12.2018 hinaus durchgehend bis zur Rentenantragstellung im Oktober 2021 und darüber hinaus; Nämliches gilt hinsichtlich einer - ohnehin nicht ansatzweise ersichtlichen - schweren spezifischen Leistungsbehinderung bzw. Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen, der nicht bereits durch die Beschränkung auf leichte Tätigkeiten Rechnung getragen ist (s. dazu im Einzelnen nur BSG a.a.O. Rn. 29 ff. m.w.N., st. Rspr.).

Dagegen spricht bereits indiziell der Umstand, dass die Klägerin, die sich seit Aufgabe ihrer letzten beruflichen Tätigkeit am 20.12.2016 hauptsächlich wegen seelischer Leiden, aber auch orthopädisch-chirurgischer Beschwerden, für ununterbrochen erwerbsgemindert hält, dies erstmals knapp fünf Jahre später durch Anbringung ihres Rentenantrags nach außen manifestiert hat - was nicht plausibel ist - sowie durchgreifend, dass sie seit ihrer Entlassung aus der
F2-Klinik am 08.01.2014 keinerlei fachärztlich-psychiatrische und zwischen Dezember 2016 und September 2021 (s. Angabe der Klägerin S. 190 VerwA) keinerlei fachärztlich-chirurgische/ -orthopädische Behandlung in Anspruch genommen hat (s. auch ihre Angaben in der Schweigepflichtentbindungserklärung S. 24 SG-Akte); im gesamten Jahr 2018 war sie ausweislich der Patientenkartei des D1 nicht einmal in hausärztlicher Behandlung. Allein dies spricht bezogen auf den hier maßgeblichen Zeitraum bis Ende Dezember 2018 klar gegen höhergradige funktionelle Einschränkungen und gegen einen entsprechenden Leidensdruck, worauf L2 (dessen beratungsärztliche Stellungnahmen urkundsbeweislich verwertet werden) sowie S1 und N1 (deren sozialmedizinischen Stellungnahmen als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen verwertet werden) zutreffend und überzeugend hingewiesen haben.

Soweit die Klägerseite in diesem Zusammenhang lediglich (pauschal) bekundet hat, die Hausarztpraxis sei an den H2 „angebunden“, hat die Klägerin nicht einmal auch nur behauptet, bei diesem Arzt tatsächlich überhaupt jemals in Behandlung gewesen zu sein. Weder aus der genannten Schweigepflichtentbindungserklärung, noch aus den Unterlagen des D1 und den Äußerungen der H1 ergibt sich irgendein Anhaltspunkt dafür. Soweit die Klägerin ebenfalls nur pauschal behauptet hat, gesundheitlich lediglich in der Lage gewesen zu sein, H1 aufzusuchen, nicht jedoch Ärzte, ist dies schon nicht plausibel - die Klägerin hat ohnehin nicht einmal mitgeteilt, auf welchen Zeitraum sich dies überhaupt genau beziehen soll -, mit einem höhergradigen, eine ärztliche Behandlung erforderlich machenden Leidensdruck nicht zu vereinbaren und ändert auch nichts daran, dass aus nicht erhobenen ärztlichen Befunden denklogisch eine Erwerbsminderung gerade nicht befundgestützt abgeleitet werden kann.

Ohnehin vermag der Senat auf der Grundlage der Patientenkartei des D1 nur festzustellen, dass dieser, bei dem schon eine besondere Kompetenz auf fachpsychiatrischem Gebiet nicht erkennbar ist, die Klägerin im Zeitraum von November 2016 bis Ende Dezember 2018 von psychiatrischer Seite lediglich einmalig (03.07.2017) unter Angabe der Diagnose einer nicht näher bezeichneten Depression behandelte. Diese Behandlung hat er freilich in seiner Auskunft gegenüber dem SG nicht einmal auch nur erwähnt, geschweige denn einen entsprechenden klinischen Befund mitgeteilt. Daraus kann mithin eine Minderung des zeitlichen Leistungsvermögens der Klägerin nicht ansatzweise abgeleitet werden. Denn im Rahmen der Prüfung von Erwerbsminderung kommt es nicht entscheidend auf bloße Diagnosen (weder nach Art, noch nach Anzahl) respektive eine bestimmte Diagnosestellung oder die Bezeichnung von Befunden an, sondern allein auf die Beeinflussung des individuellen quantitativen sowie qualitativen Leistungsvermögens durch überdauernde Gesundheitsstörungen (BSG 28.02.2017, B 13 R 37/16 BH, in juris, Rn. 15), also auf die durch die Gesundheitsstörungen verursachten funktionellen Beeinträchtigungen, ohne dass die Ursachen der Gesundheitsstörung maßgeblich sind (BSG a.a.O.). Irgendwelche Funktionsstörungen von seelischer Seite hat D1 hingegen nicht einmal genannt, geschweige denn auf Grundlage objektiv-klinischer Befunde begründet.

Nämliches gilt hinsichtlich der Äußerungen der H1, die schon keine Ärztin und erst recht keine Fachärztin für Psychiatrie ist und demgemäß - über die Beschwerdeangaben der Klägerin nebst Schilderung deren lebensgeschichtlicher Belastungen hinaus - auch ärztlich-klinische Befunde nicht mitzuteilen vermocht hat, worauf namentlich N1 zu Recht hingewiesen hat.

Ungeachtet dessen kann die vom SG ausgeurteilte Rente schon deshalb nicht mit den Ausführungen der H1 begründet werden, weil bei der Klägerin im Zeitraum nach November 2017 (s. erneut die Patientenkartei des D1) bis Anfang Mai 2020 (so ebenfalls die Patientenkartei und damit in Übereinstimmung die Äußerung der H1) - auch darauf haben S1 und N1 zutreffend hingewiesen - eine psychische Stabilisierung dergestalt eingetreten war, dass nicht einmal mehr eine psychopharmakologische Behandlung (Gabe von Venlafaxin) erforderlich war; H1 hat ausdrücklich angegeben, dass die Medikation hat „auf null“ reduziert werden können. Wenn aber die Klägerin wegen seelischer Beschwerden nicht einmal mehr bei D1 in Behandlung war, keine psychopharmakologische Medikation mehr benötigte und sich ihr psychischer Gesundheitszustand erst wieder Anfang Mai 2020 - fast anderthalb Jahre nach Ablauf der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen - verschlechtert hat, so ausdrücklich H1, erschließt sich dem Senat nicht ansatzweise, woraus sich im Zeitraum bis 31.12.2018 höhergradige seelisch bedingte Funktionsstörungen mit Auswirkung auf das zeitliche Leistungsvermögen für leichte berufliche Tätigkeiten ableiten lassen sollen. Dass sich bei der Klägerin zu keinem Zeitpunkt seit Anfang 2014, so wiederum H1, eine „Beschwerdefreiheit“ eingestellt hat, ist für den erhobenen Anspruch vollkommen unmaßgeblich.

Von orthopädisch-chirurgischer Seite vermag der Senat nur festzustellen, dass sich die Klägerin am 08.11.2016 eine Schulterluxation rechts zuzog (Bericht der Ärzte der Chirurgischen Klinik des O1 Klinikums vom selben Tag), die zu einer akuten Behandlungsbedürftigkeit mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung im Schulter-Nacken-Arm-Bereich und Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich 08.01.2017 führte (Auskunft des D1 gegenüber dem SG), wobei sich Ende November 2016 bildgebend die oben im Tatbestand dargestellten strukturellen (degenerativen: Tendinose) Binnenveränderungen in der rechten Schulter zeigten. Nach Januar 2017 sind in der Patientenkartei des D1 bis 14.01.2020 nur noch zwei Behandlungen wegen Schulterbeschwerden dokumentiert (12.04.2017 und 08.11.2017); eine fachärztlich orthopädisch-chirurgische Behandlung der Klägerin im Zeitraum von Dezember 2016 bis Ende Dezember 2018 ist - wie schon oben aufgezeigt - nicht ersichtlich, sondern erst wieder ab September 2021.

Dass aus alledem wegen der Schulterleiden rechts eine zeitlich überdauernde quantitative Leistungsminderung für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts zu einem Zeitpunkt bis 31.12.2018 nicht abgeleitet werden kann, sondern allenfalls qualitative Einschränkungen (z.B. kein Heben/Tragen von schweren Lasten, keine häufigen Überkopfarbeiten oder Tätigkeiten in Armvorhalte, s. dazu z.B. Senatsbeschluss vom 22.07.2022, L 10 R 2902/21, in juris, Rn. 40), hat schon L2 überzeugend dargelegt; dem hat der Senat nichts hinzuzufügen. Die gegenteilige Leistungseinschätzung des D1 (Auskunft gegenüber dem SG) entbehrt ohnehin mangels entsprechendem Befund für den vorliegend allein relevanten Zeitraum und mangels Begründung jeglicher Grundlage und geht am eigentlichen Thema vorbei.

Ob die Klägerin wegen der erstmals im November 2016 bildgebend sichtbaren Veränderungen in der rechten Schulter in Zukunft operiert werden muss, ist vorliegend ohne Bedeutung. Der Umstand, dass eine Operation bisher nicht stattgefunden hat und dass die Klägerin im Zeitraum von Dezember 2016 bis September 2021 nicht einmal in fachärztlich orthopädisch-chirurgischer Behandlung stand, spricht jedenfalls ebenfalls (s. schon oben) nicht für einen höhergradigen Leidensdruck.

Soweit sich die Klägerin wegen otologischer Beschwerden respektive einem Tinnitusleiden mit Schwindel und unter Angabe eines (nicht näher beschriebenen) erlittenen Schädeltraumas erstmals im Juli 2021 in die Behandlung des W1 begeben hat, gibt dies schon keinerlei Aufschluss über den Eintritt einer Erwerbsminderung bis spätestens 31.12.2018; Derartiges kann auch dem Arztbrief des W1 nicht entnommen werden, zumal namentlich eine Commotio nirgends ärztlich dokumentiert ist.

Unter Zugrundelegung all dessen vermag sich der Senat nicht davon zu überzeugen, dass die Klägerin bis spätestens 31.12.2018 - und seither durchgehend (s.o.) - nicht mehr in der Lage gewesen ist, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts unter Beachtung qualitativer Einschränkungen wenigstens sechs Stunden täglich zu verrichten, sodass der Eintritt einer Erwerbsminderung bis zu diesem Zeitpunkt nicht festzustellen ist.

Aus welchen Gründen die Klägerin ihre letzte berufliche Tätigkeit bis 20.12.2016 nur in Teilzeit ausübte, ist vorliegend vollkommen unmaßgeblich. Der Senat merkt in diesem Zusammenhang lediglich an, dass die Behauptung der Klägerin zuletzt, sie habe diese Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben, zu ihren vorherigen Angaben (Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers, so auch noch im SG-Verfahren, s. S. 3 SG-Akte) in einem eklatanten Widerspruch steht. Letztlich ist aber auch dies völlig unbedeutend, weil es für den erhobenen Anspruch aus Rechtsgründen keine Rolle spielt, ob die Klägerin nach Dezember 2016 noch in der Lage gewesen ist, als Servicekraft in der Gastronomie zu arbeiten. Ebenso ist unerheblich, ob ihr im Anschluss an diese Beschäftigung ein leidensgerechter Arbeitsplatz hat vermittelt werden können, weil die „jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen“ ist (§ 43 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB VI) und die Vermittelbarkeit auf einen entsprechenden freien Arbeitsplatz der Arbeitsverwaltung obliegt, nicht jedoch der gesetzlichen Rentenversicherung, die ihre Versicherten allein vor den Nachteilen einer durch Krankheit oder Behinderung geminderten Leistungsfähigkeit zu schützen hat (vgl. nur BSG 14.05.1996, 4 RA 60/94, in juris, Rn. 30, 80).

Abschließend merkt der Senat noch an, dass die Beklagte entgegen dem SG keineswegs einen „Leistungsfall bereits mit stationärer Einweisung im Jahr 2013 gesehen“ hat. S1 hat der Sache nach lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass als fachärztlich-psychiatrischer Befundbericht überhaupt nur der Entlassungsbericht der Ärzte der F2-Klinik existiert; eine seither durchgehend bestehende Erwerbsminderung der Kläger auf Grundlage (allein) dieses Berichts hat er - ebenso wie zuvor L2 und im Berufungsverfahren N1 - klar verneint und dagegen ist auch nichts zu erinnern; in Ermangelung jeglicher fachärztlich-psychiatrischer Behandlung der Klägerin seit deren Entlassung aus der F2-Klinik Anfang des Jahres 2014 und zwischenzeitlich - jedenfalls bis zum einem Zeitpunkt, zu dem die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen schon lange nicht mehr vorgelegen haben - nicht einmal mehr erforderlicher psychopharmakologischer Behandlung (s.o.) ist es nachgerade abwegig, eine seit der stationären Behandlung der Klägerin durchgehend bestehende Erwerbsminderung anzunehmen. Ohnehin sagt der Entlassungsbericht vom 05.02.2014 rein nichts über das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin bis spätestens 31.12.2018 aus und auch das SG hat im Ausgangspunkt noch zutreffend erkannt, dass eine Erwerbsminderung der Klägerin zumindest bis „Ende 2016“ nicht zu begründen ist - und entsprechend der obigen Ausführungen richtigerweise auch darüber hinaus nicht begründet werden kann - und zwar, dies merkt der Senat lediglich noch ergänzend an, gänzlich unabhängig davon, ob die Selbsteinschätzung der Klägerin „glaubhaft“ ist oder nicht, denn darauf kommt es von vornherein nicht an (s.o.).

Der entscheidungserhebliche medizinische Sachverhalt ist hinreichend geklärt. Die Stellungnahmen des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten unter Auswertung der vorhandenen ärztlichen bzw. therapeutischen Unterlagen haben dem Senat die erforderlichen Grundlagen für seine Überzeugungsbildung vermittelt. Dass und warum namentlich den Äußerungen der H1 nicht gefolgt werden kann, ist oben dargelegt worden. Auf den Gesundheitszustand der Klägerin seit dem 31.12.2018 kommt es nicht entscheidend an, eben weil ein Versicherungsfall der Erwerbsminderung spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht nachgewiesen ist und die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seither nicht mehr vorliegen. Der pauschale Vortrag der Klägerseite im Berufungsverfahren, die Hausarztpraxis sei „bei H2 angebunden“ gewesen, hat aus den oben aufgezeigten Gründen ebenfalls keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen gegeben. Die Gerichte müssen ohne konkrete Anhaltspunkte nicht ins Blaue hinein ermitteln (dazu statt vieler nur BSG 24.02.2021, B 13 R 79/20 B, in juris, Rn. 14 m.w.N., auch zur Rspr. des Bundesverfassungsgerichts).


Nach alledem kann der angefochtene Gerichtsbescheid des SG keinen Bestand haben, weshalb er im Rahmen des Berufungsantrags der Beklagten aufzuheben und die Klage abzuweisen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.



 

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