S 31 VG 20/21

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 31 VG 20/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Anspruch auf Beschädigtenrente gemäß § 1 OEG für eine komplexe Traumafolgestörung mit chronischer Schmerzstörung und und rezidivierender Depression infolge der nachweislich erlittenen körperlichen (nicht: der psychischen) Gewalt in der Kindheit im Zeitraum ab 1.12.200 (Einführung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung, § 1631 Abs. 2 BGB). Keine Entschädigung für eine Erblindung nach Gehirntumor im Alter von sieben Jahren - dass die Erziehungsberechtigten den Kläger trotz besorgniserregenden Symptomen erst verspätet einem Arzt vorstellten, stellt keinen vorsätzlichen tätlichen Angriff im Sinne von § 1 OEG dar.


I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 07.04.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.04.2021 verurteilt, die Gesundheitsstörung einer Traumafolgestörung mit chronischer Schmerzstörung und rezidivierenden depressiven Episoden, gegenwärtig remittiert, als Schädigungsfolge gem. § 1 OEG im Sinne der Entstehung mit einem GdS von 30 festzustellen und dem Kläger entsprechende Beschädigtenrente und Heilbehandlung ab 01.08.2017 zu gewähren.

II. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.


Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten sind Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) streitig.

Der Kläger ist am 1996 geboren. Er lebte zunächst mit beiden Eltern in R-Stadt, bis der Vater die Familie verließ, als der Kläger ca. ein Jahr alt war. Die Beziehung zum Vater ist heute distanziert und belastet. Zur Mutter und deren neuem Ehemann hingegen besteht guter Kontakt.

Von 1997 an (Alter: ca. 1,5 Jahre) bis 2003 oder 2004 (Alter: 7 Jahre) lebte der Kläger mit seiner Mutter, seiner Schwester A. und seinem Zwillingsbruder A1. bei der Familie B... Diese Familie gehörte der sogenannten "Christusgemeinschaft" an, einer losen fundamental-christlichen Gruppierung im Raum O-Stadt mit ca. 100 aktiven Mitgliedern. Ebenfalls im Haushalt lebten zu dieser Zeit, jedenfalls zeitweise, zwei Familienhelferinnen, R.und M.

 B1.. und B2.. sowie auch die beiden genannten Familienhelferinnen übernahmen zu weiten Teilen die Erziehung und Betreuung des Klägers und seiner Geschwister, da seine Mutter, N., dazu nicht ausreichend in der Lage war, anfangs wegen einer Verletzung an der Hand, später wegen einer Ausbildung.

Die Erziehung im Hause B. war geprägt von psychischer und körperlicher Gewalt.

Der Kläger erhielt häufig, im Durchschnitt etwa drei mal pro Woche, Schläge auf die Finger von B1 und B2. Er wurde dafür am Handgelenk festgehalten und erhielt sodann jeweils drei feste Schläge mit der Hand auf die Finger.

Ebenso erhielt der Kläger regelmäßig, im Schnitt etwa einmal pro Woche, von B1. in deren Arbeitszimmer je drei Schläge mit der Hand auf den nackten Po.

Außerdem kam es mehrmals vor, dass der Kläger zur Ahndung von Fehlverhalten bei Tisch am Arm gefasst und weggeschleift wurde.

Mindestens ein Mal kam es außerdem zu einem körperlichen Übergriff, der "Popoklatsch mit Anlauf" genannt wurde. Der Kläger musste dafür seine Hose und Unterhose runterziehen, sich mit dem Rücken auf den Boden legen und die Beine anheben. Sodann schlug M. oder R. mit einer Birkenstock-Sandale drei mal fest auf den nackten Po.

Ferner wurde der Kläger als Erziehungsmaßnahme von B. wiederholt kalt abgeduscht.

Neben dieser körperlichen Gewalt herrschte im Hause B. ein Klima der Angst und psychischen Gewalt, Liebesentzug, Essensentzug.

B.m Laufe des Jahres 2003 litt der Kläger immer wieder unter Kopfschmerzen, Sehstörungen und Übelkeit. Er wurde jedoch erst im April 2004 einem Arzt vorgestellt. Dieser diagnostizierte einen Gehirntumor.

Der Kläger wurde daraufhin am 26.5.2004 operiert. Er erblindete infolge des Gehirntumors nahezu vollständig (Visus < 2 %). Eine weitere Folge des Tumors ist ein fehlendes Sättigungsgefühl mit der Folge von Übergewicht, sowie wiederholte Cortisolmangelzustände bis hin zu Addisonkrisen.

Mit Bescheid vom 19.10.2004 wurde durch das Versorgungsamt Oldenburg ein GdB von 100 mit den Merkzeichen G, Bl, B, RF und H zuerkannt.

Ferner wurde mit Bescheid vom 12.3.2007 durch den Beklagten Blindengeld bewilligt.

Wegen der weiteren Einzelheiten hinsichtlich der Gewalttaten wird auf die aktenkundigen Ermittlungsergebnisse Bezug genommen, insbesondere auf die Akte des Sozialgerichts München (vor allem Aussage des Klägers vom 15.9.2022 und Aussage der Zeugin M. vom 12.5.2023), die Akte des Beklagten und die Akten der Staatsanwaltschaft, die aufgrund einer Anzeige des Klägers vom 9.3.2018 (Aktenzeichen BY) ein Ermittlungsverfahren führte, dort vor allem auf die polizeilichen Aussagen der Mutter vom 3.4.2018, des Klägers selbst vom 4.6.2018, der Schwester A. vom 6.11.2018, sowie auf die schriftliche - die Taten leugnende - Stellungnahme des Ehepaars B. vom 23.7.2018. Ferner auf die Videovernehmungen des Klägers und seines Bruders A1. vor der Ermittlungsrichterin vom 14.11.2019.

Das Strafverfahren wurde mehrmals eingestellt und wiederaufgenommen. Aktuell ist es nach Angaben der Klägervertreterin eingestellt, da sich aus Sicht der Staatsanwaltschaft der Tatzeitraum nicht genau genug festlegen lässt, um eine Verjährung der Taten auszuschließen.

Der Kläger hat von 2016 - 2018 eine Ausbildung zum Kaufmann für Büromanagement gemacht, und ist in diesem Beruf derzeit 30 Stunden pro Woche tätig.

Mit Antrag vom 28.8.2017 machte der Kläger beim seinerzeit zuständigen niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie Opferentschädigung wegen der körperlichen und psychischen Gewalt im Hause B. geltend. Er gab an, wegen der Gewalttaten an Depressionen, Sexualitätsstörungen und Albträumen zu leiden.

Wegen der geltend gemachten Gesundheitsstörungen befand sich der Kläger ab dem Alter von 16 Jahren in ärztlicher/psychotherapeutischer Behandlung:

Stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung vom 3.7. bis 13.9.2012 in der Klinik der LMU A-Stadt wegen einer mittelgradigen depressiven Episode. Laut Entlassungsbericht wurden dort in der Einzeltherapie häufiger auch die streitgegenständlichen Gewalttaten thematisiert.

Stationäre Behandlung in der Klinik H-Stadt vom 16.11.2016 bis 11.1.2017 wegen einer rezidivierenden depressiven Störung und PTBS. Hier standen die psychische und die physische Gewalt in der Familie B. noch deutlicher im Vordergrund.

Auch im Rahmen einer stationären Rehabilitation in der Klinik B-Stadt vom 21.11.2018 bis 30.1.2019 waren die streitgegenständlichen Gewalttaten Thema.

Von August 2019 bis März 2023 durchlief der Kläger eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Frau G.

Das niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie kam nach Beiziehung von Befund- und Entlassungsberichten der behandelnden Ärzte und der Akten der Staatsanwaltschaft zu dem Ergebnis, der Nachweis der streitgegenständlichen Gewalttaten sei nicht erbracht. Es lehnte den Antrag des Klägers daher mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid vom 7.4.2020 ab. Die sehr allgemein gehaltenen Beschreibungen der Taten würden zum Nachweis nicht ausreichen, eine hinreichende zeitliche Einordnung sei nicht möglich. Die bloße Möglichkeit, dass die Gewalttaten tatsächlich stattgefunden hätten, reiche nicht aus.

Der Kläger erhob Widerspruch und wies darauf hin, dass die mangelnde zeitliche Einordnung zwar die Strafverfolgung hindern könne wegen der unklaren Verjährung, dies jedoch im Rahmen der Opferentschädigung keine Rolle spiele. Die Mutter und die Geschwister des Klägers würden die Vorfälle bestätigen, außerdem könnten K1.und deren Mutter, W., die ebenfalls bei Familie B. gelebt hätten, befragt werden.

Aufgrund einer Gesetzesänderung zum 1.7.2020 wurde der Beklagte gemäß § 4 Abs. 2 OEG für das Verfahren zuständig.

Nach weiteren Ermittlungen beim Kindergarten und der Grundschule des Klägers und bei der Uniklinik M2-Stadt, wo die OP des Gehirntumors stattgefunden hatte, kam auch der Beklagte zu dem Ergebnis, die Gewalttaten seien nicht nachgewiesen.

Der Widerspruch wurde daher mit Widerspruchsbescheid vom 30.4.2021 zurückgewiesen. Zum einen sei nicht nachgewiesen, dass die verspätete ärztliche Behandlung des Gehirntumors auf einer vorsätzlichen Handlung beruhe. Zum anderen seien die Aussagen, insbesondere die des Klägers und seines Bruders beim Ermittlungsrichter, nicht hinreichend konkret, um den hier nötigen Vollbeweis zu erbringen. Im Übrigen sei die geltend gemachte psychische Gewalt keine Gewalttat im Sinne von § 1 OEG.

Der Kläger erhob Klage, eingegangen beim Sozialgericht München am 28.5.2021.

Der Rechtsstreit wurde am 15.9.2022 mit den Beteiligten erörtert. In diesem Termin sagte der Kläger ausführlich zu den streitgegenständlichen Gewalttaten aus.

Sodann wurden die Akten der Staatsanwaltschaft O-Stadt beigezogen, die eine Aufzeichnung der Video-Vernehmung des Bruders A1. vom 14.11.2019 enthielten.

Zum ersten Termin zur mündlichen Verhandlung am 12.5.2023 wurden B1 und B2 sowie M. als Zeugen geladen. Da sich das Ehepaar B. schriftlich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht berief, wurde deren Ladung aufgehoben.

Die Zeugin M. wurde in der mündlichen Verhandlung vernommen.

Sie leugnete zunächst jedwede Gewalt gegen Kinder im Hause B. Im weiteren Verlauf räumte sie auf konkrete Nachfrage jedoch ein, dass sie nicht abstreiten könne, mal einen der Jungen genommen und irgendwohin gesetzt zu haben, oder auf den Windelpo geschlagen zu haben. Sie gab an, sich zwar an das Stichwort "Popoklatsch mit Anlauf" als "geflügeltes Wort" in der Familie B. zu erinnern, sich aber nicht mehr erinnern zu können, in welchem Zusammenhang. Jedenfalls hätte dies nichts damit zu tun gehabt, dass die Kinder verprügelt worden seien. Auf Vorhalt, dass alle in den Haushalt der Familie B. aufgenommenen Kinder ein Klima der Angst geschildert hätten und sich deshalb in Therapie befänden, insbesondere auf Vorhalt der polizeilichen Aussage von K1.vom 28.1.2021, gab die Zeugin an, sie könne sich das nicht erklären.

In der mündlichen Verhandlung vom 12.5.2023 wurden sodann Auszüge den Videovernehmungen des Bruders A1. und des Klägers selbst vom 14.11.2019 vor der Ermittlungsrichterin in Augenschein genommen.

Nach dieser Beweisaufnahme erachtete die 31. Kammer des Sozialgerichts München - ebenso wie die Sitzungsvertreterin des Beklagten - die oben genannten Gewalttaten für vollumfänglich nachgewiesen und holte zu den Schädigungsfolgen und dem Grad der Schädigung aufgrund der Gewalttaten ab 1.12.2000 (Einführung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung) ein medizinisches Sachverständigengutachten auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet von U. ein.

U. kommt in ihrem Gutachten vom 24.1.2024 auf Grundlage der aktenkundigen medizinischen Unterlagen und einer persönlichen Untersuchung des Klägers zu folgendem Ergebnis:

Der Kläger leidet an folgenden Gesundheitsstörungen:

1. Komplexe Traumafolgestörung mit chronischer Schmerzstörung; rezidivierende depressive Episoden, zur Zeit remittiert
2. ausgeprägte Sehminderung nach Optikusatrophie bei
3. Zustand nach Kraniumpharyngeom-OP 2004 mit substituierter Hypophysen-B.nsuffizienz
4. Adipositas, Diabetes mellitus.

Ein zumindest gleichwertiger Anteil der komplexen Traumafolgestörung sei als Schädigungsfolge der ab 1.12.2000 erlittenen Gewalttaten aufzufassen.

Die Schädigungsfolge sei für die Zeit ab Antragstellung im August 2017 zu bezeichnen als komplexe Traumafolgestörung mit chronischer Schmerzstörung und rezidivierender Depression, gegenwärtig remittiert. Es sei zwar nicht abschließend möglich, die Folgen der ab Dezember 2000 erlittenen körperlichen Gewalt von den Folgen der im gleichen Zeitraum erlittenen psychischen Gewalt zu trennen. Ebenso sei es nicht gänzlich möglich, die Folgen dieser Gewalterfahrungen insgesamt von den Folgen der Hypophysen-Tumoroperation 2004 zu trennen. Man könne jedoch davon ausgehen, dass die genannte Schädigungsfolge zumindest gleichwertig durch die körperliche Gewalt im Zeitraum ab 1.12.2000 verursacht wurde.

Den Grad der Schädigung (GdS) nimmt U. mit 30 an. Zwar werde das Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nicht erreicht. Allerdings könne nach Meermann (aufgeführt in: Maercker, Posttraumatische Belastungsstörung, 4. Aufl., Springer-Verlag) knapp ein GdS von 30 angenommen werden mit Blick auf die traumabezogenen Albträume, die übermäßige vegetative Anspannung und die psychosomatischen Symptome, sowie eine für die Umgebung nicht einfühlbare Gereiztheit.

Ein GdS von 30 erscheine angemessen mit Blick darauf, dass zunächst im Zeitraum ab Antragstellung bis 2019 noch ein deutliches depressives Syndrom bestanden habe, und zuletzt, nachdem die depressive Störung in den Hintergrund getreten sei, eine belastende Schmerzsymptomatik deutlich im Vordergrund stehe.

Eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im Sinne der versorgungsmedizinischen Grundsätze liege vor.

Der Beklagte übersandte zum Gutachten von U. eine versorgungsärztliche Stellungnahme vom 28.3.2024 von K2.. Dieser führt aus, aus versorgungsärztliche Sicht könne dem Gutachten im Wesentlichen gefolgt werden. Es sei nachvollziehbar, dass die Gewalttaten als zumindest gleichwertig für die psychische Symptomatik betrachtet werden könnten und dadurch auch von einer Beeinträchtigung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit auszugehen sei.

Der Beklagte beantragte gleichwohl Klageabweisung, wobei der schriftsätzliche Vortrag vom 9.4.2024, wonach die Gewalttaten nach wie vor nicht nachgewiesen seien, letztlich nicht aufrechterhalten wurde. Vielmehr begründet der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag zuletzt damit, dass ein Urteil des Sozialgerichts eine bessere Grundlage für etwaige Regressansprüche gegen die Täter/innen biete.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 07.04.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.04.2021 zu verurteilen, die Gesundheitsstörung einer Traumafolgestörung mit chronischer Schmerzstörung und rezidivierenden depressiven Episoden, gegenwärtig remittiert, als Schädigungsfolge gemäß § 1 OEG im Sinne der Entstehung mit einem GdS von 30 festzustellen, und dem Kläger entsprechende Beschädigtenrente und Heilbehandlung ab 01.08.2017 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akte des Sozialgerichts München, der beigezogenen Versorgungsakte und Schwerbehindertenakte des Beklagten sowie auf die Auszüge aus den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat ab 1.8.2017 Anspruch gegen den Beklagten auf Beschädigtenrente gemäß   § 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. § 31 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einem GdS von 30.

Der Bescheid vom 7.4.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.4.2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Gemäß § 1 OEG erhält derjenige, der im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtenrente nach §§ 9 Abs. 1 Nr. 3, 31 Abs. 1 BVG.

Zur Überzeugung des Gerichts steht im Sinne des vorliegend nötigen Vollbeweises fest, dass der Kläger die im Tatbestand näher geschilderten Gewalttaten von Seiten des Ehepaars B. und der Zeugin M. und / oder R. erlitten hat.

Dabei handelte es sich um vorsätzliche und, seit dem 1.12.2000, auch rechtswidrige tätliche Angriffe im Sinne von § 1 OEG.

Zum 1.12.2000 konstituierte der Gesetzgeber in § 1631 Abs. 2 BGB ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Seither ist körperliche Gewalt gegenüber Kindern, auch wenn sie von einem Erziehungswillen getragen ist, nicht mehr gerechtfertigt.

Die Überzeugung des Gerichts hinsichtlich der Gewalttaten zu Lasten des Klägers in Form von regelmäßigen Schlägen auf die Finger, auf den nackten Po, zumindest einmal auch mit einem festen Hausschuh (drei Schläge), kaltem Abduschen, gewaltsamem Wegschleifen vom Tisch beruht in erster Linie auf den glaubhaften Aussagen des Klägers und seines Bruders A1.

Beide machten ihre Angaben sachlich und ohne Belastungseifer. Die Schilderung der Gewalttaten, denen der Kläger und sein Bruder gleichermaßen zum Opfer gefallen waren, entspricht sich im Wesentlichen. Geringfügige Abweichungen in den Angaben geben keinen Anlass, an der Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Ganz im Gegenteil sprechen sie dafür, dass die Brüder ihre Aussagen nicht vorher abgestimmt haben. Ferner spricht für die Glaubwürdigkeit des Bruders A1., dass er kein erkennbares Eigeninteresse am Ausgang des Verfahrens des Klägers hat.

Gestützt werden die Aussagen des Klägers und seines Bruders außerdem durch die Aussagen ihrer Mutter und der Schwester A. Diese konnten zwar nach eigenen Angaben keine konkreten eigenen Erinnerungen hinsichtlich der Beobachtung von Schlägen angeben. Die Mutter bestätigte aber, dass ihre Kinder ihr seinerzeit von Schlägen erzählt hätten, auch mit einem Schuh auf den Po, ebenso von kaltem Abduschen. Sie bestätigte auch Psychoterror, Einsperren in die Sauna und Essensentzug.

Die Schwester A. schilderte, dass sie selbst körperliche Gewalt von Seiten der B. erlitten habe, und dass sie auch wisse, dass die Brüder mit einem Schuh auf den Po geschlagen wurden, ohne es allerdings selbst gesehen zu haben.

Gestützt wird die Aussage des Klägers ferner durch die Angaben von K1., die zwar auch keine konkreten Gewalttaten bezeugen kann, aber von einem Klima der Angst im Hause B., in dem sie auch selbst gelebt hatte, berichtete.

Die Zeugen konnten also - außer dem Bruder A1. - zwar keine eigenen Wahrnehmungen von Misshandungen schildern, bestätigten jedoch, dass der Kläger und sein Bruder seinerzeit davon erzählt hatten, und bestätigten ebenso die beklagenswerten Umstände der Erziehung bei B. Diese Angaben würden für sich genommen für einen Vollbeweis zwar nicht reichen, sprechen aber für die Glaubwürdigkeit der Angaben des Klägers und auch seines Bruders, wodurch deren Angaben stärkeres Gewicht verliehen wird.

Ferner spricht auch die Tatsache, dass der Kläger die Gewalt im Hause B. bereits im Rahmen der ersten psychiatrischen Behandlung im Jahre 2012 thematisierte, für die Erlebnisbasiertheit seiner Angaben.

Auch sind die Angaben des Klägers, die er im Laufe des Verfahrens machte, insbesondere bei der polizeilichen Vernehmung am 4.6.2018, der ermittlungsrichterlichen Vernehmung vom 14.11.2019 und der Aussage vor dem Sozialgericht München am 15.9.2022 konsistent und im Laufe der Jahre konstant geblieben, was ebenso ein Indiz für seine Glaubwürdigkeit darstellt.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist die entgegenstehende Aussage der Zeugin M. unglaubwürdig.

Sie stritt zunächst jedwede Gewalt im Hause B. ab, und berichtete von einer liebevollen Erziehung. Entgegenstehende Ausführungen, wie zum Beispiel von K1., konnte sie sich nicht erklären. Unglaubhaft ist ihre Angabe, sie wisse nicht mehr, was das "geflügelte Wort" vom "Popoklatsch mit Anlauf", das ihr durchaus geläufig war, bedeutet habe, keinesfalls hätte es etwas mit Schlägen zu tun gehabt. Wenn sich die Zeugin an diesen Ausdruck erinnern kann, liegt einerseits nahe, dass sie auch noch weiß, was hinter diesem Ausdruck steckte. Andererseits ergibt es keinen Sinn, dass sie das angeblich nicht mehr weiß, aber ausschließen können will, dass es etwas mit Schlägen zu tun hatte.
Schließlich war die Aussage der Zeugin auch insoweit widersprüchlich, als sie zunächst ausführte, es habe keinerlei Gewalt gegeben, dann aber einräumte, sie könne Schläge auf den "Windelpo" nicht ausschließen.

Die Glaubwürdigkeit der Zeugin ist im Übrigen dadurch infrage gestellt, dass sie sich als faktisch miterziehende Person durch Bestätigung von Gewalttaten selbst hätte belasten müssen.

Aus denselben Gründen wird die Überzeugung des Gerichts vom Nachweis der Gewalttaten auch durch die schriftlichen Ausführungen des Ehepaars B.., die zunächst angaben, sie seien völlig überrascht von den Vorwürfen, und im weiteren Verlauf die Aussage verweigerten mit Hinweis auf eine mögliche Selbstbelastung, nicht erschüttert.

Die Gewalttaten in Form von regelmäßigen Schlägen auf die Finger, regelmäßigen Schlägen auf den nackten Po, mindestens einmal auch mit einem festen Hausschuh, Wegschleifen vom Tisch, sind daher zur Überzeugung des Gerichts im nötigen Beweismaßstab (Vollbeweis) nachgewiesen.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass auch der Beklagte zuletzt diesen Nachweis als erbracht ansah.

Unerheblich ist im Rahmen der Rechts der Opferentschädigung, im Unterschied zum strafrechtlichen Verfahren, dass die zeitliche Einordnung nicht exakt vorzunehmen ist. Fest steht jedenfalls, dass die genannten Gewalttaten zum Gutteil nach dem 1.12.2000 begangen worden sein müssen, denn die Erinnerungen des Klägers und seines Zwillingsbruders müssen sich auf Grund der frühkindlichen Amnesie, die sich in der Regel erst mit Vollendung des 3. Lebensjahres legt, auf den Zeitraum ca. ab ihrem 3. Geburtstag (8.4.1999) beziehen. In ihrer Erinnerung dauerte die körperliche Gewalt an, bis die Familie ca. 2004 von den B. wegzog.

Unerheblich ist auch, dass sich nicht sicher feststellen lässt, ob die festen Schläge mit einer Birkenstock-Sandale auf den nackten Po des Klägers von M. ausgeführt wurden, oder von R.

Infolge der körperlichen Gewalt liegt beim Kläger als Schädigungsfolge eine Traumafolgestörung mit chronischer Schmerzstörung und rezidivierenden depressiven Episoden, gegenwärtig remittiert, vor.

Diese Schädigungsfolge ergibt sich aus dem Gutachten von U., welches nach ausführlicher persönlicher Untersuchung des Klägers und unter Berücksichtigung sämtlicher aktenkundigen medizinischen Unterlagen erstellt wurde, und aus Sicht des Gerichts schlüssig und überzeugend begründet wurde.

Frau U. hat dabei entsprechend den Vorgaben der Beweisanordnung die zu berücksichtigenden Gewalttaten ausreichend abgegrenzt von den anderweitigen Belastungsfaktoren, die die psychische Gesundheit des Klägers ebenfalls belasten. Dabei sind zum einen zu nennen die psychische Gewalt, die nach dem zum Tatzeitpunkt geltenden Recht nicht als Gewalttat im Sinne von § 1 OEG berücksichtigt werden kann, sowie die Folgen des Gehirntumors. Ebenso die körperliche Gewalt, die der Kläger vermutlich auch vor dem 1.12.2000 erlitten hat, und welche im Rahmen des damals noch gültigen elterlichen Züchtigungsrechts jedenfalls nicht als Gewalttat anzusehen wäre, wie auch die belastete Beziehung zum Vater.

U. hat zwar darauf hingewiesen, dass eine exakte Abgrenzung der Ursachen für die heute bestehende seelische Störung schwer ist. Sie hat allerdings nachvollziehbar begründet, dass die körperliche Gewalt insoweit eine zumindest gleichwertige Ursache darstellt. Dies vor allem mit Blick darauf, dass die Aufarbeitung der körperlichen Gewalt bereits im Rahmen der stationären psychiatrischen Behandlungen in den Jahren 2012, 2016/17 und 2018 viel Raum einnahm.

Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen. Der Beurteilung des GdS ist die aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassene Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zu Grunde zu legen, insbesondere die als Anlage zu deren § 2 ergangenen "Versorgungsmedizinischen Grundsätze".

Die Feststellung eines GdS von 30 im Gutachten von U. entspricht den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG).

Gemäß Teil B.3.7 der VG sind stärker behindernde psychische Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit einem GdS von 30 - 40 zu bewerten.

Vorliegend wird ein GdS von 30 knapp erreicht. Zwar liegt keine PTBS im Vollbild vor, so dass ein GdS von 20 auf den ersten Blick ausreichend erscheinen könnte. Jedoch ist zu beachten, dass die Traumafolgestörung vorliegend bis zum Jahr 2019 von erheblichen depressiven Episoden begleitet war, und im weiteren Verlauf von einer chronischen Schmerzstörung. Insofern erscheint ein GdS von 30 durchaus angemessen. Dies wird im Übrigen auch vom Versorgungsarzt K2. so bestätigt.

Die Gesundheitsstörungen, die sich aus dem Gehirntumor ergeben, wurden im Klageverfahren nicht mehr als Schädigungsfolge geltend gemacht, ebensowenig die Folgen der psychischen Gewalt in der Kindheit. Nur der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass aus Sicht des Gerichts in beiden Fällen kein vorsätzlicher tätlicher Angriff i.S.v. § 1 OEG anzunehmen gewesen wäre.

 

Nach allem hat der Kläger also Anspruch auf Beschädigtenrente nach einem GdS von 30 ab dem Monat der Antragstellung, also ab 1.8.2017. Ebenso besteht Anspruch auf Heilbehandlung aus §§ 9 Abs. 1 Nr. 1, 10ff BVG, soweit diese auf Grund der Schädigungsfolge erfolgt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.

 

Rechtskraft
Aus
Saved