Als Schädigungsfolge nach einem zwar unverschuldet, aber vorsätzlich und rechtswidrig begangenen tätlichen Angriff kommen nur diejenigen Gesundheitsstörungen in Betracht, die sich aus dem Angriffsgeschehen selbst ergeben. Die Folgen hingegen, die sich aus der Abwehr des Angriffs ergeben, welche noch über den Eintritt der Bewusstlosigkeit der Angreiferin hinaus fortgesetzt wurde und letztlich zum Tode der Angreiferin, zu einem Strafverfahren gegen den Kläger mit Untersuchungshaft und Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung führten, sind keine Schädigungsfolgen des ursprünglichen Angriffs der Getöteten, da die Abwehrhandlungen des Klägers ab Eintritt der Bewusstlosigkeit (= Ende des ursprünglichen Angriffs) ein neues Geschehen darstellen, das nach der Theorie der wesentlichen Bedingungen nicht durch den Angriff verursacht wurde.
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 26.05.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.10.2023 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
T a t b e s t a n d :
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Schädigung (GdS) nach einer anerkannten Gewalttat streitig.
Der Kläger ist am 1964 geboren. Er ist Diplom-Ingenieur (FH). Vor der Gewalttat vom 19.5.2020 war er als Testanalyst bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt. Am 18.05.2020 war er von der Stadt M-Stadt in eine Festanstellung übernommen worden.
Am Morgen des 19.5.2020, als der Kläger noch schlief, betrat seine Lebensgefährtin I. (im Folgenden: I.) mit ihrem Schlüssel die Wohnung des Klägers. Sie litt, seit 2019 verstärkt, an wahnhaftem Erleben und fühlte sich auch vom Kläger verfolgt. Sie schlug dem schlafenden Kläger in psychotischer Realitätsverkennung und mit Tötungsabsicht eine volle 1 l - Glasflasche mehrmals auf den Kopf. Der Kläger erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma, eine Nasenfraktur, eine Orbitabodenfraktur links und multiple Schnittwunden, hauptsächlich im Gesicht und am Kopf, aber auch an den Unterarmen. Nachdem der Kläger erwacht war, kam es zu einem Abwehrkampf. Als es dem Kläger schließlich gelungen war, die I. bäuchlings am Boden liegend zu fixieren, nahm er sie, während er auf ihr lag, von hinten in den "Schwitzkasten", indem er seinen linken Unterarm im Bereich ihres Kinns positionierte und sodann kräftig zu sich heranzog, wobei vier Unterkieferfrontzähne von I. herausbrachen. Nach 8-14 Sekunden des Drückens wurde I. bewusstlos. In der irrigen Annahme, I. würde ihn sofort wieder attackieren, sobald er sie losließe, erhielt der Kläger den "Schwitzkasten" mindestens 3 Minuten lang ununterbrochen aufrecht. Nach einer Phase des Röchelns trat bei I. der Atemstillstand ein. Reanimationsversuche der herbeigerufenen Sanitäter sowie im Krankenhaus blieben erfolglos, I. verstarb.
Drei Wochen nach der Gewalttat kam der Kläger unter dem Tatvorwurf des vorsätzlichen Totschlags in Untersuchungshaft.
Am 21.9.2020 beantragte der Kläger beim Beklagten Opferentschädigung.
Der Beklagte wartete zunächst den Ausgang des Strafverfahrens gegen den Kläger ab.
Das LG A-Stadt I verurteilte den Kläger am 30.6.2021 wegen fahrlässiger Tötung (Aktenzeichen Ks XYZ), nicht aber wegen vorsätzlichen Totschlags. Das LG ging davon aus, dass der Angeklagte bei Anwendung des Würgegriffs einem Erlaubnistatbestandsirrtum unterlag, da er irrig befürchtete, I. werde ihn nach Lockerung des Griffs sofort wieder lebensbedrohlich angreifen. Allerdings sei der Irrtum des Klägers fahrlässig gewesen, weshalb eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, erfolgte.
Der Kläger verlor infolge des Strafverfahrens seine Arbeitsstelle bei der Stadt M-Stadt.
Mit Schreiben vom 07.02.2022 teilte der Kläger dem Beklagten mit, seine körperlichen Schäden seien inzwischen weitgehend ausgestanden, er habe noch gewisse Gefühlsirritationen im Gesicht, auch seien drei Zähne noch leicht taub und Narben zum Teil noch deutlich sichtbar. Bei Gelegenheit einer Nasen-OP am 20.2.2022 sei noch eine Schädigung an der Nase festgestellt und korrigiert worden. Psychisch sei er weiter stark belastet durch das Geschehen, wegen des Überfalls an sich, und weil er seine Lebensgefährtin vermisse und sich Gedanken um ihren kleinen Sohn mache, im Übrigen auch wegen der Untersuchungshaft und der damit verbundenen Probleme bei der Jobsuche.
Der Beklagte holte einen Befundbericht des Psychiaters und Psychotherapeuten B. ein. Dieser berichtet am 17.2.2022, er habe den Kläger im Jahre 2021 dreimal behandelt, er sei durch die Lebensumstände und die Haftstrafe traumatisiert gewesen. Unter dem 30.8.2021 berichtet B., der Kläger sei insbesondere durch das Verhalten der Justiz und durch die Untersuchungshaft traumatisiert.
Der Psychotherapeut L. berichtete am 23.2.2022, der Kläger befinde sich seit September 2021 bei ihm in Verhaltenstherapie. Es bestünde eine mentale Belastung durch den Angriff, durch die Tötung seiner Lebensgefährtin und den Gefängnisaufenthalt, ferner Angstreaktionen durch Erinnerungsspuren an die Begleitumstände des Todes von I.
Der Beklagte ließ zu den Schädigungsfolgen und zum Grad der Schädigung ein psychiatrisches Gutachten von W. erstellen. Als nachgewiesenes schädigendes Ereignis sollte dabei laut Gutachtensauftrag die Körperverletzung vom 19.5.2020 berücksichtigt werden.
W. erstellte sein Gutachten am 23.6.2022, basierend auf den vorliegenden medizinischen Unterlagen und einer Untersuchung des Klägers vom 22.6.2022.
Im Rahmen der Untersuchung gab der Kläger an, am Anfang habe ihn vor allem bewegt, dass I. tot war. Nach der Verhaftung sei die von ihm als ungerecht empfundene Behandlung im Vordergrund gestanden. Er habe wegen des von der Staatsanwaltschaft angenommenen Verdachts eines vorsätzlichen Totschlags seinen Job verloren, sei aus dem Sportverein, in dem er Trainer für Taekwondo gewesen war, rausgeschmissen worden, habe jetzt eine schlechter bezahlte Arbeit und sei sozial isoliert. Er müsse die erheblichen Gerichtskosten des Strafverfahrens übernehmen und sehe sich auch zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen ausgesetzt. Er empfinde enttäuschte Liebe, Hass und Ratlosigkeit wegen des Vorgehens der Justiz. Auch die Urteilsbegründung des LG sei vollkommen ungerecht. Das Gerichtsverfahren überlagere die Sache selbst. Er habe nicht merken können, dass I. bewusstlos war.
W. stellt bei der Untersuchung fest, dass bei Schilderung des Angriffs der I. keine Vermeidungstendenzen zu erkennen waren.
Als Schädigungsfolge geht W. von einer prolongierten Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion aus, der GdS betrage 30. Diese Schädigungsfolge wäre aus Sicht von W. ohne die Gewalttat nicht eingetreten, die Gewalttat sei mit Wahrscheinlichkeit alleinige Ursache. Dabei wird nicht zwischen den Folgen des Angriffs der I. und den Folgen der Abwehrhandlungen des Klägers differenziert.
Eine PTBS kann laut W. nicht diagnostiziert werden, da es an den diagnostischen Kriterien der Vermeidung und der Hypervigilanz fehle, ebenso an Intrusionen. Bei dem anhaltenden episodischen Erinnern, das beim Kläger festzustellen sei, handele es sich nicht um Intrusionen in diesem Sinne.
Im Vordergrund stehe beim Kläger das Bedauern des dramatischen Endes der Beziehung zu I., die mangelnde Zukunftsperspektive, der als ungerecht empfundene Strafprozess mit seinen wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen. Zentrales Thema seien für den Kläger die Minuten/Sekunden um den Tod der I. Ein Vorschaden in psychischer Hinsicht sei nicht bekannt, ein Nachschaden nicht ersichtlich. Eine besondere berufliche Betroffenheit sei nicht zu berücksichtigen.
In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme auf chirurgischem Fachgebiet von K. vom 05.07.2022 wurden die körperlichen Schädigungsfolgen des Angriffs der I. bezeichnet und mit einem GdS von 10 bewertet.
In einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme auf psychiatrischem Fachgebiet von B1.vom 06.03.2023 wird ausgeführt, es sei schlüssig, dass das Erleben des Angriffs und der Übergang zur Selbstverteidigung einschließlich der fatalen Folgen nicht als getrennte psychische und kognitive Abläufe zu sehen seien. Die Bewertung des psychischen Zustands mit einem GdS/GdB von 30 sei schlüssig, allerdings durchaus von der Veränderung der Lebensumstände als Nachschaden abzugrenzen. Auf psychiatrischem Fachgebiet sei als Schädigungsfolge eine Anpassungsstörung mit verlängerter depressiver Reaktion mit einem Einzel-GdS von 20 festzustellen, der Gesamt-GdS betrage ebenfalls 20, der Gesamt-GdB hingegen 30.
Mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid vom 26.5.2023 stellte der Beklagte folgende Schädigungsfolgen fest:
- reizlose, zum Teil mit leichtgradiger Keloid-Bildung verheilte multiple Narben im Bereich des Schädeldachs, des Gesichtsschädels, insbesondere des linken Ohres (Vorderseite), oberhalb des linken Ohres und der linken Wange mit geringen sensiblen Störungen und geringgradiger kosmetischer Beeinträchtigung, sensible Störungen im Bereich der Frontzähne des linken Oberkiefers. Reizlose multiple Narbenbildungen nach Parierverletzungen im Bereich beider Ober- und Unterarme, rechts übergreifend auf das Handgelenk, im Bereich der Streckseite des linken Mittelfingers und im Bereich der Handinnenfläche links ohne Kontrakturen und ohne wesentliche Keloidbildung, reizlose kaum mehr erkennbare Narbenbildung im Bereich der rechten Gesäßhälfte. Mäßiggradige Behinderung der Nasenatmung durch Nasenbeinfraktur
- Anpassungsstörung mit verlängerter depressiver Reaktion
Der GdS betrage 20. Versorgungsrente stehe nicht zu.
Eine Höherbewertung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit komme schon deshalb nicht in Betracht, weil kein GdS von wenigstens 30 vorliege.
Der Kläger erhob Widerspruch. Aus seiner Sicht ist der GdS aus medizinischen Gründen mit mehr als 20 festzustellen, auch liege durchaus eine besondere berufliche Betroffenheit vor. Ferner seien weitere Schädigungsfolgen festzustellen in Form einer PTBS und einer depressiven Störung.
Der Kläger weist darauf hin, dass W. einen Nachschaden explizit verneint habe. Die Differenzierung der Kausalität für die psychische Störung sei schwer möglich. Der Kläger sei überraschend drei Wochen nach der Tat auf der Straße verhaftet worden und dann ein Jahr in Untersuchungshaft gewesen unter dem Vorwurf des Totschlags. Verurteilt worden sei er letztlich nur wegen fahrlässiger Tötung. Die Folgen der Inhaftierung könnten aus dem GdS nicht herausgerechnet werden. Im Übrigen sei es fragwürdig, dass der Kläger die Strangulation früher hätte beenden und dies auch erkennen müssen, wie im Strafurteil ausgeführt.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 10.10.2023 zurückgewiesen. Nach der Theorie der wesentlichen Bedingungen seien keine weiteren Gesundheitsstörungen mit Wahrscheinlichkeit durch die Gewalttat verursacht worden. Ursache für die Inhaftierung, den belastenden Verlust, die Belastung im Strafverfahren und dessen persönliche und finanzielle Folgen sei nur die rechtskräftig abgeurteilte fahrlässige Tötung. Die eigentliche Gewalttat im Sinne von § 1 OEG sei nur im Sinne der Äquivalenztheorie kausal und somit nicht wesentliche Bedingung. Im Übrigen sei eine PTBS nach W. nicht festzustellen.
Der Kläger erhob Klage, eingegangen beim Sozialgericht München am 18.10.2023. Zur Begründung wird ergänzend ausgeführt, die Gewalttat könne nicht hinweggedacht werden, ohne dass die Schädigungsfolgen entfallen würden. Der Fahrlässigkeitsvorwurf im Strafverfahren sei nicht gerechtfertigt und berücksichtige nicht ausreichend die Lage, in der der Kläger sich befand. Schließlich habe auch W. einen Nachschaden verneint.
Während des laufenden Klageverfahrens wurde mit Bescheid vom 30.10.2023 ein GdB von 30 festgestellt, basierend allein auf einem Einzel-GdB von 30 für eine seelische Störung.
Der Rechtsstreit wurde am 2.2.2024 mündlich verhandelt. Im Rahmen der Verhandlung erklärte der Kläger, im Vordergrund stünden bei ihm aktuell Gedankenspiralen, insbesondere bezüglich der Strafverhandlung und der Untersuchungshaft, auch über die Frage, was er damals mitbekommen habe von der Bewusstlosigkeit. Er habe nicht mitbekommen, wie lange er auf I. gelegen habe. Er habe einen Festlegegriff am Kinn angewendet und gehe daher nicht von einer Strangulation aus. Als er zu sich gekommen sei, sei seine Hand am Kinn der I. gewesen, nicht am Hals.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 26.5.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.10.2023 zu verurteilen, die Schädigungsfolgen aus dem Bescheid vom 26.5.2023 sowie als weitere Schädigungsfolgen eine PTBS und ängstlich depressive Störung mit einem GdS von mindestens 30 festzustellen, diesen GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit um zehn zu erhöhen und dem Kläger eine Grundrente nach einem GdS von mindestens 40 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akte des Sozialgerichts München und der beigezogenen Versorgungsakten Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die Klage ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht zum zuständigen Sozialgericht München erhoben.
Die Klage hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
Der Kläger hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Feststellung weiterer Schädigungsfolgen im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG. Ebensowenig besteht Anspruch auf Feststellung eines höheren GdS oder auf Erhöhung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit.
Der Beklagte hat mit dem Bescheid vom 26.5.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.10.2023 zu Recht die oben genannten Schädigungsfolgen mit einem GdS von 20 festgestellt. Der Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Zwischen den Beteiligten unstreitig und auch aus Sicht des Gerichts nicht anzuzweifeln ist, dass der Kläger am 19.5.2020 Opfer eines schwerwiegenden tätlichen Angriffs seiner Lebensgefährtin I. wurde. Auch wenn I. in wahnhafter Realitätsverkennung handelte, war ihr Angriff mit der Glasflasche gleichwohl rechtswidrig und vorsätzlich. Die wahnhafte Störung schließt nur die Schuldfähigkeit aus, nicht jedoch die Vorsätzlichkeit und die Rechtswidrigkeit des Angriffs.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Versorgungsanspruchs des Klägers aus § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sind somit gegeben.
Allerdings dauerte der tätliche Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht über den Eintritt der Bewusstlosigkeit der I. hinaus an.
Dass der Angriff ab diesem Zeitpunkt objektiv beendet war, liegt auf der Hand, da sie im Zustand der Bewusstlosigkeit zu irgendwelchen Handlungen nicht mehr in der Lage war.
Die Tatsache, dass der Kläger, wie auch das Strafgericht für erwiesen hielt, nicht gemerkt hat, dass I. bewusstlos geworden war und ihre tätlichen Angriffshandlungen damit beendet waren, und nach einigen Sekunden der Bewusstlosigkeit auch nicht mehr damit zu rechnen war, dass sie den tätlichen Angriff fortsetzen würde, ändert nichts daran, dass es zu diesem Zeitpunkt objektiv keinen tätlichen Angriff mehr gab.
Ob der Irrtum des Klägers über das Fortdauern der Notwehrlage fahrlässig war, wie das LG angenommen hat, oder unverschuldet, wie der Kläger meint, spielt für die Beurteilung des Versorgungsanspruchs aus § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG keine Rolle.
Maßgeblich für Versorgungsansprüche aus § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist aber die Frage, ob objektiv ein Angriff vorlag, und wie lange dieser Angriff objektiv andauerte.
Was sich nach Eintritt der Bewusstlosigkeit zugetragen hat, bildet ein neues Tatgeschehen, und ist keine untrennbare Einheit mit dem ursprünglichen tätlichen Angriff der I..
Auch am Gesetzeswortlaut von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist zu erkennen, dass das Geschehen eines tätlichen Angriffs mit anschließenden Abwehrhandlungen, die objektiv nicht durch eine Notwehrlage gerechtfertigt sind, nicht als einheitliche Ursache für etwaige Schädigungsfolgen anzusehen ist. Denn im Gesetzeswortlaut heißt es:
"Wer infolge eines (...) tätlichen Angriffs (...) oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat (...)".
Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass ein Angriff und dessen Abwehr zwingend als einheitliche Causa von Schädigungsfolgen zu betrachten seien, hätte er "und" statt "oder" formuliert.
Dem Kläger ist natürlich darin zuzustimmen, dass es zur Tötung der I. niemals gekommen wäre, wenn I. ihn zuvor nicht massiv angegriffen hätte. Insofern sind seine Abwehrhandlungen im Sinne der Äquivalenztheorie durchaus als Causa für die Gesamtheit seiner seelischen Störung anzusehen. Eine Ursächlichkeit im Sinne der Äquivalenztheorie jedoch reicht für die Anerkennung von Schädigungsfolgen nicht aus. Vielmehr gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung. Eine wesentliche Bedingung für die Gesamtheit der seelischen Gesundheitsprobleme des Klägers liegt aber in dem Geschehen, das dem tätlichen Angriff nach dessen Beendigung folgte. Hierzu wird auf die zutreffende Begründung des Widerspruchsbescheids Bezug genommen.
Als Schädigungsfolgen können daher nur diejenigen gesundheitlichen Schädigungen berücksichtigt werden, die auf dem eigentlichen tätlichen Angriff der I. beruhen. Nicht zu berücksichtigen hingegen ist alles, was sich nach dem Eintritt der Bewusstlosigkeit der I. zugetragen hat.
Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass der Kläger davon ausgegangen war, der Angriff dauere an. Zwar ist in § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG geregelt, dass die Anwendung von Satz 1 nicht dadurch ausgeschlossen ist, dass der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gehandelt hat. Diese Regelung gilt aber nicht für die Schädigungsfolgen, die bei demjenigen eintreten, der Notwehrhandlungen ausführt (also beim Kläger), sondern für die Schädigungsfolgen, die beim Adressaten dieser Notwehrhandlungen (also bei I.) eintreten. Denn "Angreifer" im Sinne von Satz 2 ist der Kläger, nicht I. Die Vorschrift dient nicht dazu, psychische Folgen, die sich für den Angreifer aus dem Geschehen in Putativnotwehrnotwehr ergeben, als Schädigungsfolgen zu entschädigen, sondern dazu, demjenigen, der durch in Putativnotwehr vollzogene Handlungen eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, die Möglichkeit der Versorgung zu eröffnen, obwohl kein rechtswidriger Angriff im Sinne von Satz 1 vorliegt.
Insofern ist bei Feststellung der Schädigungsfolgen und des GdS allein das Geschehen zu berücksichtigen, das sich bis zum Eintritt der Bewusstlosigkeit zugetragen hat.
Daher ist bei Würdigung des medizinischen Sachverständigengutachtens von W. zu beachten, dass dieser zu Unrecht davon ausgegangen war, auch die psychischen Folgen, die sich aus den Abwehrhandlungen des Klägers mit fatalem Ausgang ergeben, seien bei Zumessung des GdS zu berücksichtigen.
Da es sich bei der Frage, welches Geschehen der Gewalttat, deren Opfer der Kläger geworden ist, zuzuordnen ist, um eine Rechtsfrage handelt, ist die Einordnung durch den medizinischen Sachverständigen insoweit nicht maßgeblich.
Das Sachverständigengutachten von W. kann dennoch - unter Berücksichtigung des oben Gesagten - hinsichtlich der medizinischen Feststellungen als Grundlage für die Bewertung des GdS herangezogen werden.
Unstreitig zwischen den Beteiligten sind die zahlreichen körperlichen Schädigungsfolgen, die vom Beklagten mit einem Einzel-GdS von 10 festgestellt wurden.
Die psychischen Schädigungsfolgen sind zur Überzeugung des Gerichts korrekt festgestellt als prolongierte Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion.
Eine PTBS hingegen kann beim Kläger nicht diagnostiziert werden, da es an zwingenden diagnostischen Kriterien dafür fehlt. Der Kläger zeigt kein Vermeidungsverhalten bezüglich der Gewalttat, er leidet nicht an Intrusionen oder Hypervigilanz. Auch eine ängstlich-depressive Störung wurde von W. mit nachvollziehbarer Begründung nicht diagnostiziert.
Der GdS für die psychischen Schädigungsfolgen ist mit 20 ausreichend festgestellt.
Gemäß Teil B 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem GdS von 0 - 20 festzustellen, stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis-und Gestaltungsfähigkeit (zum Beispiel ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem GdS von 30 - 40.
Gemäß Bescheid des Beklagten vom 30.10.2023 beträgt der GdB des Klägers 30. Díeser Feststellung liegt ein Einzel-GdB von 30 für eine seelische Störung zu Grunde. Sie entspricht auch den gutachtlichen Ergebnissen von W., der unter Berücksichtigung sämtlicher psychischer Gesundheitsstörungen einen GdS von 30 annimmt. Die seelische Störung insgesamt ist also mit einem GdB von 30 zutreffend bewertet.
Den Befundberichten von B. und Herrn L. über die Behandlung des Klägers in den Jahren 2021 und 2022 ist zu entnehmen, dass schon in den Jahren 2021 und 2022 die Konsequenzen der Abwehrhandlungen des Klägers im Vordergrund standen, nicht hingegen die Konsequenzen des eigentlichen Angriffs der I. So hat der Kläger erhebliche soziale Folgen durch das Strafverfahren, insbesondere durch die lange Untersuchungshaft hinnehmen müssen, einschließlich des Verlusts des Arbeitsplatzes und der sozialen Einbindung. Aus dem, was der Kläger im Rahmen der Untersuchung bei W. geäußert hat, ebenso wie aus seiner Einlassung in der mündlichen Verhandlung vom 02.02.2024, ergibt sich, dass sich daran auch im Jahr 2023 und auch aktuell nichts geändert hat.
Somit steht fest, dass nicht die Gesamtheit der beim Kläger vorliegenden seelischen Störung als Schädigungsfolge zu berücksichtigen ist, der Einzel-GdS also auf alle Fälle niedriger ist als 30.
Da der Beklagte für die körperlichen Schädigungsfolgen einen Einzel-GdS von 10, insgesamt aber einen GdS von 20 festgestellt hat, ist klar, dass er für die Schädigungsfolge "prolongierte Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion" einen Einzel-GdS von 20 zu Grunde legt.
Es erübrigt sich damit ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten im Rahmen des Klageverfahrens, da zum einen feststeht, dass der Einzel-GdS für die seelische Störung weniger als 30 beträgt, und zum anderen ein niedrigerer GdS als 20 aufgrund des Verbots der reformatio in peius im Urteil ohnehin nicht hätte festgestellt werden dürfen.
Ein höherer GdS als 20 kann nicht in Betracht kommen angesichts der Tatsache, dass damit bereits Mehr als die Hälfte der insgesamt festzustellenden seelischen Störung der Gewalttat zugeschrieben wird, andererseits aber klar ist, dass der Kläger stärker durch das Geschehen nach der Gewalttat mehr belastet ist, als durch die Gewalttat selbst.
Auch die Tatsache, dass derzeit keine Notwendigkeit mehr besteht für eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung, stützt dieses Ergebnis.
Soweit klägerseits geltend gemacht wird, die Untersuchungshaft, die wegen des Tatverdachts eines vorsätzlichen Totschlags angeordnet worden war, sei rechtswidrig gewesen, weshalb die Folgen dieser Untersuchungshaft als Schädigungsfolgen berücksichtigt werden müssten, überzeugt dies nicht. Denn die Untersuchungshaft beruhte nicht auf dem tätlichen Angriff der I., sondern auf den Abwehrhandlungen des Klägers. Die Frage, ob die Untersuchungshaft rechtmäßig war oder nicht, spielt für die streitgegenständlichen Ansprüche daher keine Rolle.
Eine Erhöhung des GdS gemäß § 30 Abs. 2 BVG wegen besonderer beruflicher Betroffenheit kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil dies nach der Rechtsprechung des BSG (BSG vom 18.10.1995, 9 RV 18/94) erst ab einem GdS von 30 in Betracht kommt. Denn § 30 Abs. 2 BVG stellt eine Härteregelung dar, die grundsätzlich erst zum Tragen kommen kann, wenn die Auswirkungen einer Gewalttat so schwerwiegend sind, dass sie einen GdS von mindestens 30 bedingen. Ferner ist dem Beklagten darin zuzustimmen, dass der Arbeitsplatzverlust nicht auf der erlittenen Gewalttat, sondern auf dem Strafverfahren beruhte. Im Übrigen hat der Kläger zwischenzeitlich wieder einen Arbeitsplatz im angestammten Berufsbereich gefunden.
Nach allem war die Klage vollumfänglich abzuweisen. Der GdS ist mit 20 ausreichend festgestellt. Anspruch auf Beschädigtengrundrente besteht nicht, § 31 Abs. 1 Satz 1 BVG.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.