Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29. November 2023 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1962 geborene, verheiratete Kläger hat nach eigenen Angaben keinen Beruf erlernt. Nach seinen Angaben war er zuletzt ab dem Jahr 1988 als Reinigungsarbeiter in einem Industriebetrieb versicherungspflichtig beschäftigt. Seit März 2016 ist er arbeitsunfähig und bezog zunächst Krankengeld. Im Anschluss bis 19.10.2018 erhielt er Arbeitslosengeld I. Weitere Zeiten sind im Versicherungsverlauf nicht gespeichert (Bl. 52 ff. LSG-Akte). Beim Kläger ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 seit 25.06.2013 (Bl. 59 VA) anerkannt. Dem Kläger wurde ab dem 04.05.2020 ein Pflegegrad von 3 aufgrund eines durch strukturiertes Telefoninterview erstellten Gutachtens nach Aktenlage zuerkannt. Seit dem 31.01.2018 stand ihm davor bereits der Pflegegrad 2 zu. Nach Auskunft der Beklagten hat der Kläger am 21.02.2024 einen Antrag auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 01.07.2024 gestellt (Bl. 57 LSG-Akte).
Der Kläger hatte bereits 2017 bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung gestellt, den die Beklagte mit Bescheid vom 31.05.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.08.2017 abgelehnt hatte. Die hiergegen erhobene Klage zum Sozialgericht (SG) Karlsruhe wurde mit Urteil vom 07.03.2019 (- S 10 R 2994/17 -) abgewiesen und die dagegen erhobene Berufung wurde am 19.06.2019 zurückgenommen (- L 7 R 1392/19 -).
Am 16.01.2020 beantragte der Kläger erneut bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Begründung trug er u.a. vor (Bl. 112 VA), dass er kraftlos und schwach sei. So könne er nicht mehr arbeiten.
Den Rentenantrag des Klägers lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 03.02.2020 (Bl. 43 VA) ab. Der Kläger sei unter Berücksichtigung der bestehenden Einschränkungen aufgrund von Erkrankungen oder Behinderung noch in der Lage, mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein, mithin es liege keine Erwerbsminderung vor.
Den hiergegen am 02.03.2020 erhobenen Widerspruch (Bl. 53 VA), der im Wesentlichen mit dem Vorliegen einer schweren Depression mit chronischem Erschöpfungszustand, sowie einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen psychischen Faktoren begründet wurde, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23.07.2020 (Bl. 84 VA) zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 11.08.2020 Klage zum SG Karlsruhe erhoben und sein Begehren weiterverfolgt. Er hat er zur Begründung im Wesentlichen angeführt, dass er aufgrund seiner Gesundheitsstörungen nicht mehr in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden erwerbstätig zu sein. Der Kläger leide vordergründig unter rezidivierenden depressiven Störungen mit immer wieder auftretenden mittelgradigen und schweren Episoden und Dysthymia. Seit 2012 befinde sich der Kläger in medikamentöser sowie ärztlicher Behandlung. Vorbekannt seien bei ihm Unruhe, Ängste, Antriebslosigkeit, Kraftlosigkeit, erhöhte Müdigkeit und Schwindel. Im Jahr 2013 habe sich der Kläger einmal, im Jahr 2016 zweimal und im Jahr 2017 erneut einmal in eine stationäre psychiatrische Behandlung begeben. Im Jahr 2017 habe er sich zusätzlich in einer Rehabilitationseinrichtung befunden. Die ärztlichen Berichte würden bei ihm eine deutliche Antriebslosigkeit mit Selbstversorgungsdefizit bestätigen. Weiterhin vorbekannt seien ein medikamentös eingestellter Diabetes mellitus sowie ein degeneratives Wirbelsäulensyndrom nach zweimaligen Autounfällen. Im Pflegegutachten vom 11.05.2020 sei bezüglich der Depressionen und der Antriebslosigkeit keine Besserung der Symptomatik festgestellt worden. Der Kläger benötige weiterhin umfassende Motivation und Aufforderung zu den grundpflegerischen Handlungen. Selbst einen Kleidungswechsel führe er nicht selbstständig durch, müsse hierzu aufgefordert werden. Zudem habe die Schwindelsymptomatik zugenommen. Ferner bestünden Gleichgewichtsstörungen. Er könne nicht lange stehen. Insgesamt habe die Pflegegutachterin einen umfassenden Motivations- und Anleitungsbedarf zu jeglichen Verrichtungen festgestellt. Der Kläger sei zudem chronisch erschöpft und leide unter chronischen Schmerzstörungen mit somatischen und psychischen Faktoren. Es ist das nach strukturiertem Telefoninterview per Aktenlage erstellte Pflegegutachten vom 11.05.2020 beigefügt worden (Bl. 47 SG-Akte).
Das SG hat zunächst Beweis erhoben durch die Befragung der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen.
Der H1 hat in seiner Aussage vom 11.11.2020 (Bl. 72 SG-Akte) angegeben, dass Stresstoleranz, Anpassungsfähigkeit, Merk- und Konzentrationsfähigkeit, Belastbarkeit und das Durchhaltevermögen des Klägers durch die schwere psychische und körperliche Erkrankung stark herabgesetzt und die Leistungsfähigkeit und Arbeitskraft des Klägers schwer eingeschränkt seien. Aus fachärztlicher Sicht sei er nicht in der Lage zu arbeiten und die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit sei nach bisherigem Verlauf auch nicht zu erwarten. Die Symptomatik sei seit Juli 2019 im Wesentlichen unverändert. Die schwere Leistungsbeeinträchtigung bestehe seiner Einschätzung nach seit 10/2019, zuvor sei sie mittel bis schwer gewesen.
Der A1 hat am 06.11.2020 (Bl. 74 SG-Akte) über eine Gehörverschlechterung, einen Schwindel und einen Tinnitus, derzeit dekompensiert berichtet. Der Kläger sei aus HNO-fachärztlicher Sicht im Rahmen von max. zwei bis vier Stunden täglich leistungsfähig.
Der E1 hat am 17.11.2020 mitgeteilt (Bl. 81 SG-Akte), der Kläger leide unter einer Konzentrationsschwäche und einer verminderten körperlichen und seelischen Belastbarkeit. Er könne nur unter drei Stunden leichte bis mittelschwere Tätigkeiten arbeitstäglich ausüben.
Der S1 (Bl. 93 SG-Akte) hat am 18.12.2020 ausgeführt, der Kläger leide unter einem zunächst kleinen Knorpelschaden im Bereich des linken Kniegelenkes (MRT vom 29.10.2019). Fraglich sei für ihn, ob beim Kläger eine medial betonte Arthrose am rechten Kniegelenk bestehe. Altbekannt sei eine beginnende Facettengelenksarthrose. Diese datiere bis in das Jahr 2008 hinein. Nach den von ihm erhobenen Befunden sei der Kläger in der Lage, da es hier nur um die Kniegelenke gehe, einer körperlich leichten, wenig belastenden Tätigkeit von sechs Stunden täglich nachzugehen.
Nachdem die Beklagte eine sozialmedizinische Stellungnahme vom 27.01.2021 vorgelegt hat (Bl. 135 SG-Akte), in der der M1 unter anderem ausgeführt hat, der A1 sei zwar von einem zwei bis vierstündigen Leistungsvermögen ausgegangen, habe aber keine richtungsweisenden Befunde übersendet, hat das SG G1 beauftragt, ein Gutachten von Amts wegen zu erstellen.
Dieser hat den Kläger sodann am 18.09.2021 ambulant untersucht und in seinem nervenärztlichen Gutachten vom 24.09.2021 (Bl. 166 VA) folgende Diagnosen gestellt: Beim Kläger liege eine Dysthymia mit ängstlich gefärbter leichter Depression, leicht verminderter Aktivität, Interessenverlust, Gefühl allgemeiner Unzulänglichkeit und einem somatoformen Syndrom mit körperlichen Symptomen, die hinsichtlich der Schwere, des Ausmaßes, der Vielfalt und der Dauer nicht hinreichend durch körperliche Krankheiten erklärt werden könnten, vor. Auffällig seien die Inkonsistenzen im Rahmen der Begutachtung gewesen. Zunächst berichte der Kläger über ausgeprägte psychische Beschwerden. Damit inkonsistent erfolge nach seinen Angaben dann eine niederfrequente psychiatrische Behandlung. Darüber hinaus sei eine überzufällige Häufung von vagen Antworten aufgefallen, was eine verringerte Bereitschaft andeute, sein Erleben oder Verhalten gegenüber dem Untersucher deutlich zu machen. Auch das Ausmaß angegebener Beschwerden sei inkonsistent mit früherem beruflichem Leistungsvermögen und aktueller Belastungsfähigkeit bei selbstbestimmten Tätigkeiten (zum Beispiel Türkeireisen). Auch soweit der Kläger berichte, sich im Alltag nicht konzentrieren zu können, und unter erhöhter Tagesmüdigkeit zu leiden, stehe dem gegenüber, dass der Kläger bei hiesiger fünfstündiger Untersuchung weder Ermüdungserscheinungen noch nachlassende Konzentrationsleistungen aufgewiesen habe. Nicht zuletzt erscheine nicht nachvollziehbar, wenn der Kläger den Eindruck erwecke, sich auch an bedeutsame biographische Daten nicht zu erinnern. Damit inkonsistent könne er andere Gedächtnisinhalte differenziert reproduzieren. Unter Berücksichtigung all dessen könne der Kläger noch im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche acht Stunden täglich tätig sein. Noch möglich seien ihm leichte körperliche Arbeiten mit Handhaben leichter Werkstücke und Handwerkszeuge, Bedienen leichtgängiger Steuerhebel und Kontroller oder ähnlich mechanisch wirkender Einrichtungen, Arbeiten im Sitzen, Stehen oder Umhergehen und mit Heben (maximal 60 Minuten pro Schicht) und Tragen (maximal 30 Minuten pro Schicht) von Lasten bis sechs Kilogramm. Zu meiden seien allerdings Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an die Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit, mit besonderer Verantwortung für Menschen und Maschinen, unter nervlicher Belastung, in Nacht- oder Wechselschicht, auf Leitern oder Gerüsten sowie an laufenden Maschinen mit Verletzungsgefahr. Der Kläger könne noch vier Mal täglich eine Wegstrecke von 500 m in weniger als 20 Minuten zurücklegen und es seien keine betriebsunüblichen Arbeitsbedingungen notwendig. Eine Begutachtung auf einem anderen Fachgebiert werde nicht für erforderlich gehalten.
Auf Antrag des Klägers hat das SG im Anschluss ein Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei B1, der den Kläger bereits im ersten Rentenverfahren 2018 untersucht und ein Gutachten nach § 109 SGG erstellt hatte, eingeholt. Dieser hat den Kläger am 17.05.2022 ambulant untersucht und in seinem Gutachten vom 22.05.2022 (Bl. 195 SG-Akte) folgende Diagnosen mitgeteilt:
1. Mittelgradige depressive Episode bei chronifiziertem Erschöpfungszustand
2. Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren
3. Diabetes mellitus Typ II b
4. Lungenemphysem (COPD) bei bekanntem chronischen Nikotinabusus
5. Schlafapnoe-Syndrom (laut E1)
6. Mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit beidseits
7. Tinnitus beidseits.
8. Chronische Dorsalgie bei bekannten degenerativen WS-Veränderungen
9. Aktivierte Gonarthrose beidseits (vor allem rechtsseitig)
10. Hypercholesterinämie.
Der Kläger könne nach seiner Einschätzung beruflich noch nicht einmal mehr im Rahmen von drei bis unter sechs Stunden täglich oder zumindest unter drei Stunden täglich tätig werden. Seit Juli 2019 habe sich sein Leistungsvermögen, wie anzunehmen sei, noch weitergehender verschlechtert. Der Kläger sei derzeit und bis auf weiteres nicht in der Lage dazu, täglich viermal einen Fußweg von mehr als 500 m in jeweils unter 20 Minuten zu bewältigen. Er sei kaum in der Lage dazu, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Ihm sei es zu untersagen, eigenständig ein Kraftfahrzeug zu lenken. Im Rahmen der Erhebung des psychischen Befundes hat B1 u.a. ausgeführt, dass der Kläger ganz offensichtlich seine Beschwerden betont habe, ohne dass man deswegen von einer stark ausgeprägten Aggravation oder gar Simulation seinerseits sprechen könne. Der Gutachter hat u.a. weiter ausgeführt, dass besonders zu erwähnen sei, dass beim Kläger mittlerweile ein Pflegegrad 3 anerkannt sei. Hier sei der Kläger sorgsam überprüft worden hinsichtlich seiner Mobilität, hinsichtlich seiner kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, hinsichtlich seiner Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen sowie auch hinsichtlich seiner Selbstversorgung, hinsichtlich seines Umgangs mit krankheits- und therapiebedingten Belastungen und schließlich auch hinsichtlich der Gestaltung des Alltags und seiner sozialen Kontakte, also seiner Kontaktfähigkeit. Es sei bekannt, dass sich solche Gutachter eher zurückhaltend äußerten, beim Kläger sei immerhin ein Pflegegrad 3 festgestellt worden.
Die Beklagte ist dieser Leistungseinschätzung in der Sozialmedizinischen Stellungnahme vom 06.07.2022 (Bl. 244 SG-Akte) entgegengetreten. Die H2 hat hier u.a. ausgeführt, bei der Lektüre der Expertise von B1 entstehe der Eindruck, dass die subjektiven Angaben des Klägers unkritisch und unhinterfragt übernommen worden seien, eine Plausibilitätsprüfung habe B1 nicht vorgenommen. Auffällig sei auch, dass auch B1 gewisse Verdeutlichungstendenzen festgestellt habe, dann aber gleich versuche das Ergebnis im Rahmen seiner Beurteilung damit zu relativieren, dass dieses Ergebnis zwar die Annahme ... „gewisser Aggravationstendenzen" unterstreichen würde ... „nicht jedoch die einer massiven Aggravation oder gar Simulation im Rahmen der Schilderungen seiner Beschwerden". Diese wohlwollende Interpretation sei für die Unterzeichnerin nicht nachvollziehbar - zumal sich auch bei der körperlich-neurologischen Untersuchung einige Hinweise auf Aggravation / Simulation ergeben hätten.
Das Gericht hat im Anschluss auf Antrag des Klägers ein weiteres Gutachten nach § 109 SGG eingeholt. Der S1, bei dem der Kläger nach dessen Angaben seit 2005 in Behandlung ist, hat in seinem Gutachten vom 02.10.2023 (Bl. 303 SG-Akte) folgende Diagnosen gestellt:
1. degenerative Erkrankung der Wirbelsäule
2. Z. n. mehrfachen Knieoperationen rechts mit jetzt noch prognostisch nicht abschätzbarer Belastbarkeit des rechten Kniegelenkes,
sowie fachfremde Diagnosen: mittelgradig depressive Episode bei chronifizierten Erschöpfungszustand, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Diabetes mellitus Typ 2b, Lungenemphysem COPD bei bekannten chronischen Nikotinabusus, Schlafapnoesyndrom gemäß E1, mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit bds. gemäß A1, Tinnitus bds. Der Schwerpunkt der Beschwerden des Klägers liege allerdings fachfremd in der psychischen Situation.
Unter den gegebenen Umständen bei o. g. Diagnosen bleibe zunächst der Heilungsverlauf am rechten Kniegelenk bei doch erheblichen Knorpelknochenschäden abzuwarten. Der Kläger sei nach einer Knieoperation zum Zeitpunkt der Begutachtung noch in der Aufbelastung und erscheine deshalb auch mit Unterarmgehstöcken. Es sollte nach Heilungsabschluss aber dem Kläger unter orthopädisch/unfallchirurgischen Betrachtungsweise möglich sein, mindestens drei bis unter sechs Stunden täglich unter o. g. Bedingungen arbeiten gehen zu können. Die Begründung liege hier in der sicherlich fachfremd zu beurteilenden Schmerzverarbeitungsstörung bei einer depressiven Grunderkrankung, so dass nach einer gewissen Zeit hier bei dem Kläger, egal ob in sitzender oder stehender Position, mit stärkeren Schmerzen zu rechnen sei, die sein vollschichtiges Arbeitsvermögen zumindest zum jetzigen Zeitpunkt als unwahrscheinlich erscheinen lassen würden. Diese Leistungseinschränkungen hat der Gutachter in Ergänzung zu seinen Ausführungen vom 18.12.2020 dann auf den April 2022 gelegt , da hier der Kläger erneut vorstellig gewesen sei und erhebliche Schmerzen im Bereich seiner Wirbelsäule angegeben habe. Dies habe ihn dann zur Durchführung einer Becken-Bein-Angiographie wie zu weiteren angiologischen Untersuchungen durch V1 vom 27.04.2022 veranlasst und der im Mai dann erneut durchgeführten Untersuchung der Lendenwirbelsäule mit dem bereits vorangegangenen Befunden. In der Becken-Bein-Gefäßuntersuchung hätten sich allerdings keinerlei Auffälligkeiten, die den vom Kläger angegebenen Beinschmerz hätten erklären könnten, ergeben. Der Kläger werde in der Lage sein, bei normaler Abheilung der Operation am rechten Kniegelenk die 500 Meter in jeweils unter 20 Minuten als Arbeitsweg zurückzulegen. Er sei dann auch in der Lage öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Seitens des orthopädischen/unfallchirurgischen Fachgebietes könne er einen PKW führen.
Mit Schreiben vom 19.10.2023 (Bl. 322 SG-Akte) hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zu dem von S1 angegebenen Zeitpunkt des Eintritts der Leistungsminderung im April 2022 (angiologische Untersuchung vom 27.04.2022) laut derzeitigem Stand des Versicherungskontos nicht mehr erfüllt seien. Eine sozialmedizinische Stellungnahme werde daher nicht erfolgen.
Das SG hat sodann aufgrund mündlicher Verhandlung, zu der der Kläger aufgrund einer Türkeireise nicht erschienen hat, die Klage mit Urteil vom 29.11.2023 abgewiesen. Die näher dargelegten Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente lägen nicht vor. Beim Kläger lägen weder die (besonderen) versicherungsrechtlichen noch die medizinischen Voraussetzungen für die geltend gemachte Rente vor. Hinsichtlich des psychiatrischen Fachgebietes folge die Kammer dem Gutachten G1, der in seinem Gutachten vom 24.09.2021 von einem noch achtstündigen Leistungsvermögen ausgegangen sei. Der Gutachter habe beim Kläger noch einen geregelten Tagesrhythmus feststellen können. Er verfüge über ausreichende soziale Kontakte. So führe er Gespräche mit der Familie und habe guten Kontakt zu seinen Kindern und Enkelkindern, mit denen er viel spiele. Seine Kinder besuchten ihn mit den Enkelkindern regelmäßig, er telefoniere auch mit seinen Brüdern regelmäßig, die sich nach ihm erkundigten. Bis vor der Corona-Pandemie habe er regelmäßigen Besuch von Nachbarn und Bekannten erhalten und der Kläger reise regelmäßig in seine Heimat. In seinem Geburtsort K1 besitze der Kläger eine Wohnung, zuletzt habe er sich dort mit seiner Ehefrau vom 01.06. bis zum 14.08.2021 aufgehalten. Auch dort bestehe Kontakt zu Verwandten und Nachbarn.
Der psychische Befund sei beim Kläger unauffällig gewesen. Er habe ein gepflegtes äußeres Erscheinungsbild gezeigt, sei auskunftsbereit und kooperativ gewesen. Es hätten keine Störung von Sprechverhalten, Sprache, Bewusstsein, Orientierung, Auffassung, Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis, Psychomotorik oder Affektivität und keine formalen oder inhaltlichen Denkstörungen, keine Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen bestanden. Auch der neurologische Befund sei völlig unauffällig gewesen. Der Gutachter G1 habe die Ausführungen des Klägers auch einer umfassenden Prüfung auf Inkonsistenzen unterzogen und hierbei auf massive Aggravation und Simulation des Klägers hingewiesen. So habe er nicht nur Inkonsistenzen in Bezug auf die Schilderung der Krankheitsgeschichte und die Vorbefunde aufgezeigt (in keinem Vorbefund sei ein Beschwerdebild mit demonstrierter Gangstörung vorhanden gewesen), sondern auch eine überdurchschnittliche Neigung zu vagen Antworten erkannt, was auf eine verringerte Bereitschaft hindeute, sein Erleben oder Verhalten gegenüber dem Gutachter G1 deutlich zu machen. Darüber hinaus sei das Ausmaß der vom Kläger angegebenen Beschwerden inkonsistent mit seinem früheren beruflichen Leistungsvermögen (acht Stunden täglich) und der aktuellen Belastungsfähigkeit bei selbstbestimmten Tätigkeiten z.B. Aufenthalte in seiner Wohnung in der Türkei, Spielen mit Kindern. Auffällig sei auch gewesen, dass der Kläger angebe, er könne sich im Alltag nicht konzentrieren und würde unter erhöhter Tagesmüdigkeit leiden, dann aber bei der fünfstündigen Begutachtung uneingeschränkt dem Gutachter habe folgen können, ohne das G1 bei dem Kläger Ermüdungserscheinungen oder eine nachlassende Konzentrationsleistung aufgefallen seien. Demgegenüber habe das Gutachten von B1 das Gericht nicht davon überzeugen können, dass der Kläger aufgrund der von B1 gestellten Diagnosen nur noch unter drei Stunden täglich seit dem Juli 2019 im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche tätig werden könne. B1 lasse eine ausführliche Plausibilitäts- und Beschwerdeprüfung vermissen. Soweit der Gutachter hier versuche die auch von ihm festgestellte massive Aggravation und Simulation allein mit der Herkunft des Klägers zu erklären, sei dies eine lediglich zu pauschale Behauptung. Vielmehr sei es gerade Aufgabe des Gutachters anhand von Tests zur Beschwerdevalidierung oder Konsistenzprüfung zu ermitteln und für das Gericht zu plausibilisieren, warum er dem Kläger trotz der Aggravation und Simulation - unabhängig von dessen Herkunft - glaube. Auffällig sei auch, dass B1 zu Beginn des Gutachtens ausführe, er nehme eine „empathische Grundhaltung“ ein. „Beschwerden würden von vornherein nicht negiert und eine frühe Einordnung in diagnostische Schubladen vermieden“. Das Gericht sei auch daher insgesamt davon überzeugt, dass der Gutachter die subjektiven Angaben des Klägers oder der Tochter unkritisch und unhinterfragt übernehme und sie dann seinem Gutachten ohne eine ausreichende Plausibilitäts- und Beschwerdevalidierung zugrunde lege. Dem Gutachten sei somit insgesamt nicht zu folgen - auch nicht hinsichtlich der Ausführungen zur Wegeunfähigkeit des Klägers. Das Gericht gehe somit von einem vollschichtigen Leistungsvermögen auf psychiatrischem Fachgebiet aus. Soweit der S1 von einer Leistungseinschränkung auf orthopädischem Fachgebiet ausgehe, könne das Gericht diesen Ausführungen ebenfalls nicht folgen. Denn er begründe die von ihm festgestellte Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens mit einer ausschließlich fachfremd zu beurteilenden Schmerzverarbeitungsstörung bei einer depressiven Grunderkrankung, so dass nach einer gewissen Zeit hier bei dem Kläger egal ob in sitzender oder stehender Position mit stärkeren Schmerzen zu rechnen sei, die sein vollschichtiges Arbeitsvermögen zumindest zum jetzigen Zeitpunkt als unwahrscheinlich erscheinen ließen. Dies überzeuge nicht. Letztlich könne dies aber sogar dahingestellt bleiben, denn selbst wenn man dem Gutachten von S1 folgen würde, stelle dieser auf einen Leistungsfall April 2022 ab. Dann seien aber die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.
Der Kläger hat gegen das seinem Bevollmächtigten am 10.01.2024 (vgl. elektronisches Empfangsbekenntnis Bl. 369 SG-Akte) zugestellte Urteil mit einem am 12.02.2024, einem Montag, beim SG Karlsruhe eingegangenen Schreiben Berufung zum LSG Baden-Württemberg erheben lassen und sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung verweist er auf die nach § 109 SGG eingeholten Gutachten. Die Leistungsminderung liege bereits seit 2019 in dem dort festgestellten Maße vor. Auch dies ergebe sich aus den Gutachten.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29.11.2023 sowie des Bescheids der Beklagten vom 03.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.07.2020 zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf das erstinstanzliche Urteil und weist mit Schreiben vom 17.04.2024 (Bl. 57 LSG-Akte) nochmals darauf hin, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (36 in 60 Monaten) letztmals am 30.11.2020 erfüllt seien.
Mit Schreiben vom 15.04.2024 und 16.05.2024 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden, dass beabsichtigt sei, die Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG zurückzuweisen. Die Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Berufungsausschließungsgründe liegen nicht vor (§ 144 SGG). Die Berufung ist jedoch unbegründet.
Gemäß § 153 Abs. 4 SGG kann das LSG - nach vorheriger Anhörung der Beteiligten - die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Im vorliegenden Fall sind die Berufsrichter des Senats einstimmig zu dem Ergebnis gekommen, dass die Berufung unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist. Die Beteiligten sind auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG hingewiesen und ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Eine Zustimmung der Beteiligten ist nicht erforderlich.
Das angefochtene Urteil des SG vom 29.11.2023 und der Bescheid vom 03.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.07.2020 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung.
Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die hier vom Kläger beanspruchte Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch <SGB VI>) dargelegt und zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nicht besteht, weil der Kläger nicht nachweisen konnte, dass er nicht mehr für noch mindestens sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leistungsfähig ist. Außerdem scheitert ein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung selbst dann, wenn man mit dem Gutachten von S1 einen im April 2022 eingetretenen Leistungsfall annähme, da die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmals im November 2020 erfüllt gewesen sind. Der Senat schließt sich dem nach eigener Prüfung uneingeschränkt an, sieht deshalb gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurück.
Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht der Vortrag im Berufungsverfahren.
Die notwendigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente im Sinne des § 43 SGB VI, d.h. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit, sind beim Kläger längstens bis 30.11.2020 gegeben gewesen (siehe Auskunft der Beklagten vom 17.04.2024 unter Vorlage eines Versicherungsverlaufs vom 16.04.2024, Bl. 52 ff. VA). Letztmalig sind Beitragszeiten bis zum 19.10.2018 vermerkt. Danach enthält der Versicherungsverlauf keine gemeldeten Zeiten mehr, insbesondere hat der Kläger im Anschluss auch kein Arbeitslosengeld II bezogen. Eine Verlängerung des Fünf-Jahres-Zeitraums kommt hier auch nicht aufgrund einer Arbeitslosmeldung ohne Leistungsbezug in Betracht. Eine solche enthält der Versicherungsverlauf nämlich nicht.
Der Senat kann daher zunächst offen lassen, ob beim Kläger aufgrund der bestehenden Gesundheitsstörungen inzwischen eine Reduzierung des rentenrelevanten Leistungsvermögens eingetreten ist. Da beim Kläger die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen - 36 Monate Pflichtbeiträge in den letzten fünf Jahren vor Eintritt des Versicherungsfalles (§ 43 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB VI) - letztmalig am 30.11.2020 erfüllt gewesen sind (s.o.), müsste die Erwerbsminderung bis zu diesem Zeitpunkt in der Vergangenheit eingetreten gewesen sein. Dass bereits damals eine auch rentenrelevante, insbesondere auch zeitliche Reduzierung des Leistungsvermögens eingetreten war, kann der Senat unter Berücksichtigung der medizinischen Unterlagen, insbesondere der in erster Instanz eingeholten Gutachten, nicht feststellen.
Hinsichtlich der Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet folgt der Senat - wie auch das SG - der Einschätzung von G1, der bei seiner Untersuchung ein noch mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen festgestellt hat. Nicht überzeugen vermag den Senat die Einschätzung von B1. Bereits der vom Kläger bei G1 geschilderte Tagesablauf (gute Kontakte zu den Kindern und Enkeln sowie weiteren Bekannten, ausführliches Beschäftigen mit den Enkelkindern und regelmäßige Reisen in die Türkei) sprechen ganz erheblich gegen das Vorliegen einer von B1 diagnostizierten mittelgradigen depressiven Episode. Darüber hinaus hat der Sachverständige hier offensichtlich die subjektiven Angaben des Klägers und dessen Tochter unkritisch übernommen und selbst bei auch von ihm gesehenen Aggravations- und Simulationstendenzen beim Kläger, diese Angaben nicht einer umfassenden Plausibilitätsprüfung und Beschwerdevalidierung unterzogen. Nicht zuletzt hat auch B1 den Kläger erst zu einem Zeitpunkt untersucht, zu dem die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt waren, zumal auch der von ihm angenommene deutlich frühere Leistungsfall nicht nachvollziehbar begründet worden ist.
Es spricht ferner vieles dafür, der Einschätzung von S1, der ebenfalls eine zeitliche Reduzierung des Leistungsvermögens des Klägers festgestellt hat, ebenso nicht zu folgen. Insbesondere fällt hier auf, dass der Gutachter diese Einschränkungen im Wesentlichen fachfremd mit einer Schmerzverarbeitungsstörung aufgrund depressiver Grundhaltung begründet hat und der Kläger wohl beim Sachverständigen bereits seit mehreren Jahren auch in Behandlung ist. Letztlich kann der Senat aber offen lassen, ob dieser Leistungseinschätzung zu folgen ist, denn zumindest sind zu dem von S1 angegeben Versicherungsfall im April 2022 die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bereits eindeutig (s.o.) nicht mehr erfüllt gewesen.
Nach alledem besteht kein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit besteht schon deshalb nicht, weil der Kläger 1962 und damit nach dem maßgeblichen Stichtag des § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI geboren ist.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 14 R 2341/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 465/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Rechtskraft
Aus
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