L 2 SO 3243/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SO 2234/23
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 3243/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. November 2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand


Streitig ist die Gewährung von Eingliederungshilfe in Form von Leistungen zur Sozialen Teilhabe und Assistenzleistungen im eigenen Wohn- und Sozialraum für die Zeit vor dem 01.10.2022.

Der 1995 geborene Kläger leidet an einer dauerhaften geistigen Behinderung bei Trisomie 21 (sog. Down-Syndrom). Er ist seit seiner Geburt schwerbehindert. Es wurden ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen „G“und „H“ festgestellt (vgl. Schwerbehindertenausweis, gültig ab 30.10.1995). Der Kläger ist in einer Werkstatt für behinderte Menschen der Lebenshilfe P1 tätig und bezieht vom Beklagten inzwischen (ergänzend) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Die Mutter des Klägers, W1, ist dessen rechtliche Betreuerin.

Mit Schreiben vom 20.10.2022, eingegangen beim Beklagten am 24.10.2022 (Bl. 67 VA), beantragte der Kläger, vertreten durch seine Betreuerin, Leistungen der Eingliederungshilfe in Form eines persönlichen Budgets „rückwirkend zum 01.01.2021 bzw. zum 01.12.2021“. Man habe von diesem Anspruch erst am 13.10.2022 erfahren und könne den Antrag daher erst jetzt stellen. Eigentlich habe der Beklagte hier eine Auskunfts- und Beratungspflicht gehabt.

Mit Schreiben vom 17.04.2023, eingegangen beim Sozialgericht (SG) Karlsruhe am 18.04.2023, lies der Kläger Untätigkeitsklage erheben und begehrte die Bescheidung seines Antrages auf Eingliederungsleistungen. Dieses zunächst beim SG unter dem Aktenzeichen S 5 SO 904/23 geführte Verfahren wurde ausgesetzt, dann unter dem Aktenzeichen S 5 SO 1919/23 fortgesetzt und die Untätigkeitsklage mit Gerichtsbescheid vom 20.10.2023 abgewiesen. Die hiergegen erhobene Berufung wird beim Senat unter dem Aktenzeichen L 2 SO 3242/23 geführt.

Mit Bescheid vom 14.08.2023 (Bl. 308 VA) bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen zur sozialen Teilhabe gemäß § 113 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 in Verbindung mit § 105 Abs. 4 und § 29 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in Form von Assistenzleistungen im eigenen Wohn- und Sozialraum als persönliches Budget ab 01.10.2022 bis auf weiteres. Der Zahlbetrag belaufe sich auf 520,00 Euro monatlich.

Die Betreuerin erhob am 01.09.2023 Widerspruch gegen diesen Bescheid.

Der Beklagte teilte dem Kläger daraufhin mit Schreiben vom 06.09.2023 (Bl. 527 VA) mit, dass der Kläger hinsichtlich einer rückwirkenden Auszahlung/ Nachzahlung des persönlichen Budgets ab dem 01.01.2021 bzw. 01.12.2021 noch einen separaten rechtsmittelfähigen Bescheid erhalte.

Mit Bescheid vom 07.09.2023 (Bl. 529 VA) lehnte der Beklagte dann den Antrag auf rückwirkende Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe ab dem 01.01.2021 bzw. 01.12.2021 ab. Leistungen der Eingliederungshilfe würden nur auf Antrag erbracht (vgl. § 108 Abs. 1 SGB IX). Dieser sei vom Kläger erstmals am 20.10.2022 gestellt worden, so dass eine frühere Gewährung nicht in Betracht komme.

Mit Schreiben vom 11.09.2023, eingegangen beim SG Karlsruhe am 12.09.2023, ist vorliegende Klage („Klage Nr. 37“) erhoben worden. Hierzu ist ausgeführt worden, dass der Beklagte den Widerspruch vom 01.09.2023 mit „Schreiben vom 07.09.2023 (…) abgelehnt“ habe. Daher sei Klage geboten. Der Kläger habe bereits am 16.09.2022 einen Antrag auf Eingliederungshilfe gestellt. Die Akten des Beklagten würden nicht ordnungsgemäß geführt werden.

Der Beklagte hat mit Schreiben vom 16.10.2023 mitgeteilt (Bl. 17 ff. SG-Akte), dass es sich bei dem Bescheid vom 07.09.2023 nicht um einen Widerspruchsbescheid, sondern um einen Ablehnungsbescheid bezüglich der rückwirkenden Gewährung der Eingliederungsleistungen, handle. Die vorliegende Klage sei daher unzulässig.

Das SG hat daraufhin nach vorheriger Anhörung der Beteiligten die Klage mit Gerichtsbescheid vom 10.11.2023 (Bl. 32 ff. SG-Akte) abgewiesen. Die Klage sei bereits mangels abgeschlossenem Vorverfahren unzulässig. Der Kläger gehe vorliegend fälschlicherweise davon aus, dass der Bescheid vom 14.08.2023 nicht nur die Bewilligung von Eingliederungshilfe ab dem 01.10.2022, sondern auch eine (konkludente) Ablehnung für die Zeit davor, regle. Aus diesem Grund habe er am 01.09.2023 gegen diesen Bescheid Widerspruch erhoben. Entgegen der Auffassung des Klägers handele es sich bei dem Bescheid vom 07.09.2023 allerdings nicht um den Widerspruchsbescheid, mit dem der Widerspruch vom 01.09.2023 zurückgewiesen worden sei. Der Widerspruch des Klägers vom 01.09.2023 werde darin an keiner Stelle erwähnt. Der Beklagte habe mit dem Bescheid offenkundig nicht den Widerspruch verbeschieden, sondern über den Antrag auf Eingliederungshilfe für die Zeit vom 01.01. bzw. 01.12.2021 bis 30.9.2022 (was aus Sicht des Beklagten mit dem Bewilligungsbescheid vom 14.08.2023 noch nicht geschehen sei) durch gesonderten rechtsmittelfähigen Bescheid entschieden. Das ergebe sich auch sehr deutlich aus dem vorangegangenen Schreiben des Beklagten vom 06.09.2023, mit dem er einen separaten Bescheid für diesen Zeitraum in Aussicht gestellt habe. Konsequenterweise habe der Beklagte in der Rechtsbehelfsbelehrung zum Bescheid vom 07.09.2023 ausgeführt, der Kläger könne hiergegen Widerspruch einlegen. Eine Entscheidung über den Widerspruch des Klägers vom 01.09.2023 liege damit noch nicht vor. Das Gericht habe vorliegend das Verfahren aber auch nicht zum Abschluss des Vorverfahrens auszusetzen. Denn der Kläger vertrete hier die Auffassung, es gebe bereits einen Widerspruchsbescheid, mit dem der Beklagte seinen Widerspruch zurückgewiesen habe. Zwar treffe diese Annahme im Ergebnis nicht zu. Der Kläger bringe aber unmissverständlich zum Ausdruck, seiner Ansicht nach sei das Vorverfahren schon abgeschlossen - also gerade nicht nachzuholen. In einer solchen Konstellation könne das Gericht ausnahmsweise davon absehen, das Gerichtsverfahren auszusetzen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.11.2023 hat der Beklagte den Widerspruch des Klägers vom 01.09.2023 gegen den Bescheid vom 14.08.2023 zurückgewiesen. Die hiergegen zum SG Karlsruhe erhobene Klage (- S 19 SO 135/24 -) ist mit Urteil vom 22.03.2024 abgewiesen worden, wogegen der Kläger am 16.04.2024 Berufung zum LSG Baden-Württemberg erhoben und vorgetragen hat, dass er bereits am 16.09.2021 den Antrag auf Eingliederungshilfeleistungen gestellt zu haben. Dieses Verfahren ist noch anhängig (- L 2 SO 1237/24 -).

Der Kläger hat gegen den seiner Betreuerin am 14.11.2023 zugestellten Gerichtsbescheid mit Schreiben vom 17.11.2023, eingegangen am 21.11.2023, Berufung zum LSG Baden-Württemberg erhoben und vorgetragen, es bleibe beim „Vortrag des Klägers samt Beweisangeboten“. Weiterer Vortrag ist nicht erfolgt.

Nach Hinweis des Senats hat der Beklagte nun mit Widerspruchsbescheid vom 24.04.2024 den Widerspruch gegen den Bescheid vom 07.09.2023 zurückgewiesen (vgl. Bl. 39 f. LSG-Akte).

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

den Bescheid vom 7. September 2023 und den Widerspruchsbescheid vom 24. April 2024 aufzuheben und dem Kläger auch für die Zeit ab dem 1. Januar 2021 bzw. 1. Dezember 2021 bis 30. September 2022 ein persönliches Budget in Höhe von 520,00 Euro für Assistenzleistungen als Leistungen zur sozialen Teilhabe zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung ist u.a. ausgeführt worden, dass seit 2020 die Gewährung von Eingliederungsleistungen einen Antrag voraussetze und für eine Antragstellung des Klägers bereits ab dem 16.09.2022 gebe es keinerlei Hinweise oder Nachweise beim Beklagten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.


Entscheidungsstunde

Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung am 15.05.2024 in Abwesenheit des Klägers bzw. seiner Vertreterin über den Rechtsstreit entscheiden, da diese ordnungsgemäß zum Termin geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden sind, dass auch im Falle des Ausbleibens von Beteiligten bzw. Bevollmächtigten Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden kann (vgl. § 153 Abs. 1 i.V.m. § 110 Abs. 1 Satz 2, § 126 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Der Kläger hat keinen Verlegungsantrag gestellt.

Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.

Die gem. §§ 143, 144 Abs. 1 SGG statthafte Berufung ist zulässig; sie ist unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden.

Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist der Bescheid vom 07.09.2023 in der Fassung des nun erlassenen Widerspruchsbescheides vom 24.04.2024. Mit diesem Bescheid ist die Gewährung der begehrten Eingliederungshilfe in Form von Leistungen zur Sozialen Teilhabe und Assistenzleistungen im eigenen Wohn- und Sozialraum bereits vor dem 01.10.2022 abgelehnt worden. Nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Bescheid vom 14.08.2023 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2023. Mit diesem Bescheid hat der Beklagte - entgegen der Annahme der Klägervertreterin - nur über die Bewilligung von Eingliederungshilfe ab dem 01.10.2022, nicht aber konkludent auch über die Ablehnung für die Zeit davor, entschieden. Über den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 01.09.2023 hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16.11.2023 entschieden. Dieser ist Gegenstand des Verfahrens L 2 SO 1237/24 (in erster Instanz - S 19 SO 135/24 -).

Entgegen der Auffassung des Klägers handelt es sich bei dem Bescheid vom 07.09.2023 auch nicht um einen Widerspruchsbescheid: Der Widerspruch des Klägers vom 01.09.2023 wird darin an keiner Stelle erwähnt. Dem Beklagten ging es mit dem Bescheid offenkundig nicht um Bescheidung des Widerspruchs vom 01.09.2023, sondern des Antrags auf Eingliederungshilfe für die Zeit vom 01.01. bzw. 01.12.2021 bis 30.09.2022 (was mit dem Bewilligungsbescheid vom 14.08.2023 vom Beklagten offensichtlich noch nicht erfolgt ist). Das ergibt sich auch sehr deutlich aus dem vorangegangenen Schreiben des Beklagten vom 06.09.2023, mit dem er einen separaten Bescheid für diesen Zeitraum in Aussicht gestellt hatte. Konsequenterweise hat der Beklagte in der Rechtsbehelfsbelehrung zum Bescheid vom 07.09.2023 ausgeführt, der Kläger könne Widerspruch einlegen und keine Rechtsbehelfsbelehrung dahingehend erteilt, dass Klage erhoben werden könne.

Ausdrücklich ist zwar von Seiten des Klägers kein Widerspruch gegen den Bescheid vom 07.09.2023 erhoben worden, allerdings ist in der Klage vom 11.09.2023, eingegangen beim SG Karlsruhe am 12.09.2023, ein Widerspruch gegen den Bescheid vom 07.09.2023 zu sehen. Über diesen Widerspruch hat der Beklagte nun auch mit Widerspruchsbescheid vom XX entschieden. Die Nachholung des Vorverfahrens war hier auch noch möglich, da die Klage nicht aus anderen Gründen unzulässig ist (so auch Giesbert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 78 SGG [Stand: 15.06.2022], Rn. 45 f.) und entgegen der Ansicht des SG Karlsruhe war der Erlass eines Widerspruchsbescheides vorliegend auch nicht ausnahmsweise entbehrlich.

Die so verstandene Berufung ist jedoch unbegründet.

Das SG hat im Ergebnis zu Recht die Klage abgewiesen. Die Klage ist jedoch nicht unzulässig (gewesen), sondern unbegründet. Der Bescheid vom 07.09.2023 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.04.2024 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in dessen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungsleistungen in Form eines persönlichen Budgets bereits für die Zeit ab dem 01.01. bzw. 01.12.2021. Ein Anspruch auf Gewährung des Persönlichen Budgets bestand - wie von dem Beklagten gewährt - (frühestens) ab dem 01.10.2022.

Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen, die eine wesentliche Behinderung haben oder von einer solchen bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Generell ist es nach § 90 Abs. 1 SGB IX Aufgabe der Eingliederungshilfe, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können. Zu den Aufgaben der hier speziell in Betracht zu ziehenden Sozialen Teilhabe (§ 102 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX) gehört, die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern (§ 90 Abs. 5 SGB IX). Die Leistungen zur Sozialen Teilhabe werden gemäß § 113 Abs. 1 SGB IX erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Hierzu gehört, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen.

Dass diese Voraussetzungen hier grundsätzlich vorliegen, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig und zeigt sich bereits darin, dass der Beklagte dem Kläger auf seinen Antrag vom 20.10.2022 hin gerade solche Leistungen ab dem 01.10.2022 bewilligte (vgl. Bescheid vom 14.08.2023).

Der Senat braucht aber letztlich nicht zu entscheiden, ob die Voraussetzung für die Gewährung dieser Eingliederungshilfeleistungen bereits vor dem 01.10.2022 bestanden haben. Denn ein solcher Anspruch scheitert hier bereits an der fehlenden rechtzeitigen Antragstellung.

Die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem 2. Teil des SGB IX werden auf Grundlage des Art. 26 Abs. 4 Nr. 1 des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 (BGBl. I, S. 3234) seit dem 01.01.2020 nach dem neu eingeführten § 108 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nämlich (nur noch) auf Antrag erbracht. Die Leistungen werden frühestens ab dem Ersten des Monats der Antragstellung erbracht, wenn zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen bereits vorlagen (§ 108 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 18/9522, S. 282) zu § 108 SGB IX ergibt sich, dass für Leistungen der Eingliederungshilfe nun in Abweichung zu den bisherigen Regelungen im Recht der Sozialhilfe ein grundsätzliches Antragserfordernis gilt. In der Begründung wird weiter ausgeführt, dass im Sozialhilferecht grds. die Regelung gelte, dass kein förmlicher Antrag vorliegen müsse, da die Leistungen zur Behebung einer gegenwärtigen Notlage unverzüglich erbracht werden könnten. Bei der Eingliederungshilfe trete aber keine „gegenwärtige Notlage“ ein, die mit Notsituationen im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des SGB XII vergleichbar sei und ein Festhalten an der Offizialmaxime rechtfertigen könnte. Zwischen der Hilfe zum Lebensunterhalt und den Leistungen der Eingliederungshilfe bestehe vielmehr bereits insoweit ein Unterschied, als ein bestehender Bedarf an Leistungen der Eingliederungshilfe erst im Rahmen eines umfassenden Gesamtplanverfahrens ermittelt werden könne. Es reiche nicht aus, dass die Leistungsberechtigung noch ungewiss sei, sondern die Notlage bzw. der Bedarf an Eingliederungshilfe müsse dem Leistungsträger so bekannt sein, dass tatsächlich Hilfe erwartet werden könne. Antragsabhängige Sozialleistungen würden regelmäßig rückwirkend ab Antragstellung gewährt, während die Sozialhilfe frühestens mit Kenntnis des Trägers der Sozialhilfe einsetze. Im Bereich der Eingliederungshilfe fielen beide Zeitpunkte regelmäßig zusammen. Die Einführung des Antragsprinzips korrespondiere darüber hinaus mit dem Anliegen, die Eingliederungshilfe aus dem System der Sozialhilfe herauszulösen. In Konsequenz habe dies auch eine Abkehr (von) der Regelung des § 18 SGB XII zur Folge, der allein in der Besonderheit des Fürsorgerechts begründet sei. Eine Leistungsgewährung für Zeiträume vor der Antragstellung kommt daher grundsätzlich nicht mehr in Betracht. Es ist für den Senat auch nicht ersichtlich, dass das nun geltende Antragserfordernis eine nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung oder nach dem Grundgesetz (GG) unzulässige Hürde schaffen würde (so auch Bayerisches LSG Beschluss vom 25.01.2023 - L 8 SO 343/22 B ER - juris, Rn. 25). So ist es jedenfalls in § 108 SGB IX gerade als Ausdruck einer Kehrtwende weg von einem sich aufdrängenden Fürsorgeprinzip anzusehen (vgl. Scheider in Schellhorn/Hohm/Scheider/Busse, SGB XII, 21. Aufl., § 108 SGB IX Rn. 1).

Ein Antrag auf Eingliederungshilfeleistungen liegt hier nach Überzeugung des Senats erstmals mit dem an den Beklagten gerichteten Schreiben vom 20.10.2022 vor. Davon ausgehend hat der Beklagte dem Kläger auch zum Ersten des Kalendermonats Oktober 2022 (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 2 SGB IX) entsprechende Leistungen bewilligt.
Davon, dass der Kläger das persönliche Budget für die entsprechenden Leistungen bereits zu einem früheren Zeitpunkt hat beantragen lassen, ist der Senat hingegen nicht überzeugt. Soweit der Kläger nun durch seine Betreuerin vortragen lässt, er habe diese Leistungen bereits am 16.09.2021 (vgl. das am 16.04.2024 im Verfahren L 2 SO 1237/24 eingegangene Berufungsschreiben) beantragt, sprechen gegen eine Antragstellung zu diesem Zeitpunkt schon die eigenen Angaben der Betreuerin selbst. So erklärte sie in dem Antragsschreiben vom 20.10.2022, dass sie erstmals am 13.10.2022 im Rahmen eines Termins beim LSG Baden-Württemberg (wohl im Verfahren L 7 SO 2856/22 ER-B) von einem Anspruch auf entsprechende Leistung Kenntnis erlangt habe. Dies widerspricht eindeutig der jetzigen Angabe der Klägervertreterin von einer angeblichen Antragstellung bereits im September 2021. Denn nach den Angaben im Schreiben vom 20.10.2022 hatte die Klägerseite zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Kenntnis von einem entsprechenden Anspruch. Dagegen, dass entsprechende Leistungen bereits am 16.09.2021 beantragt wurden, spricht auch, dass sich der Kläger in seinem Formantrag vom 02.11.2022 (Bl. 78 ff. VA) ausdrücklich auf den Antrag vom 20.10.2022 bezog. Hätte er bereits am 16.09.2021 einen entsprechenden Antrag formlos gestellt, wäre zu erwarten gewesen, dass er sich im Formantrag auch auf eben diesen formlosen Antrag bezogen hätte. Ebenso finden sich im Schreiben vom 20.10.2022 keine sonstigen Hinweise, die darauf hindeuten könnten, dass der Kläger bereits am 16.09.2021 ein Antragsschreiben bei dem Beklagten eingereicht hätte. Aus dem Inhalt des Schreibens vom 20.10.2022 schließt der Senat vielmehr, dass der Kläger den Beklagten an diesem Tag erstmals mit seinem Begehren konfrontierte.

Anhaltspunkte, dass dem Beklagten der konkrete Bedarf des Klägers auf Assistenzleistungen schon zu einem früheren Zeitraum hätte bekannt sein müssen, sind nicht ersichtlich. Dieser ist erst im Rahmen des Gesamtplanverfahrens nach § 117 SGB IX im Sommer 2023 ermittelt worden. Aber auch das kann letztlich dahinstehen, denn einem Antrag im Recht der Eingliederungshilfe kann grundsätzlich keine Rückwirkung zukommen, und dies auch unabhängig von der Kenntnis des Leistungsträgers von dem Leistungsbedarf (vgl. Wehrhahn in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 4. Aufl., § 108 SGB IX [Stand: 01.10.2023], Rn. 10).

Eine frühere Bewilligung der Eingliederungshilfeleistungen in Form des persönlichen Budgets auch unter dem Gesichtspunkt des Sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs kommt vorliegend nicht in Betracht. Der allgemein anerkannte sozialrechtliche Herstellungsanspruch stellt aufgrund seiner richterrechtlichen Herleitung wesentlich auf die Verletzung gesetzlicher Nebenpflichten im Sozialrechtsverhältnis ab. Er kommt zur Anwendung, wenn eine Rechtsgrundlage zur Beseitigung von Fehlerfolgen einer etwaigen Beratungspflichtverletzung fehlt und hat zur Voraussetzung, dass eine Pflicht des Sozialleistungsträgers bzw. Versicherers, insbesondere zur Beratung und Auskunft des Versicherten, verletzt worden ist, wodurch beim Betroffenen kausal ein Nachteil eingetreten ist und der Zustand, der ohne die Pflichtverletzung bestehen würde, durch eine zulässige Handlung des Verpflichteten herstellbar ist (vgl. z.B. BSG Urteil vom 30.08.2023 - B 3 P 4/22 R - juris, Rn. 19). Vorliegend liegt zur Überzeugung des Senats jedoch bereits keine Pflichtverletzung des Beklagten als Träger der Eingliederungshilfe vor. Denn - wie bereits dargelegt - hat der Beklagte erst mit der Antragstellung und dem anschließenden Gesamtplanverfahren von den konkreten Bedürfnissen des Klägers bei der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, einschließlich der möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum und Sozialraum Kenntnis erlangt. Ohne eine entsprechende Kenntnis im Vorfeld kam eine Beratung oder Information des Klägers nicht in Betracht. Nicht zuletzt lässt sich dem Vortrag des Klägers nicht entnehmen, dass für die Zeit vor dem 01.10.2022 bereits Eingliederungshilfeleistungen in Anspruch genommen wurden und hierfür entsprechende Kosten angefallen sind.

Nach alledem besteht hier kein Anspruch auf eine frühere Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen und die Berufung war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.  


 

Rechtskraft
Aus
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