L 2 SO 3581/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SO 2377/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 3581/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 15. November 2022 insoweit aufgehoben, als der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 25. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2021 verurteilt worden ist, dem Kläger Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in gesetzlicher Höhe ab 29. Mai 2020 zu bewilligen.

Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) schon für einen früheren Zeitraum (nämlich Mai 2020 bis Dezember 2020) als bewilligt worden ist.

Bei dem 2002 geborenen Kläger, der durch seinen Vater (im Folgenden K.) mit Betreuungsbeschluss des Amtsgerichts R1 vom 26. Mai 2020 (Bl. 143 Verwaltungsakte - VA -) bis zum Beschluss des Amtsgerichts R1 vom 6. Februar 2023, mit dem anstelle des Vaters des Klägers dann K1 zur Betreuerin bestellt worden ist, betreut wurde, besteht ein Krampfleiden (Epilepsie), Mikrozephalie, Verhaltensauffälligkeiten sowie eine deutliche allgemeine Entwicklungsverzögerung. Beim Kläger ist ein Grad der Behinderung (GdB) von derzeit 70 festgestellt (Bescheid vom 20. Juli 2020). Seit 2005 erhielt der Kläger vom Beklagten Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII. In dem Zusammenhang wurden mehrere Streitigkeiten vor dem Sozialgericht Reutlingen (SG) und dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit dem Beklagten geführt (S 2 SO 3151/11, S 2 SO 1036/14 und L 2 SO 2998/17 und S 2 SO 3246/14 und L 2 SO  3005/17 sowie S 2 SO 305/16 und L 2 SO 335/19).

Am 14. Mai 2020 teilte K. dem Beklagten telefonisch mit, dass er für seinen Sohn (den Kläger) Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung beantragen wolle (Bl. 40 VA). Mit Schreiben vom 14. Mai 2020 überließ der Beklagte K. einen formularmäßigen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie ein Formular „Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht“ (Bl. 43 VA). Im Anschreiben war darauf hingewiesen worden, dass Grundsicherungsleistungen nur gewährt werden könnten, wenn vom Rentenversicherungsträger dauerhafte Erwerbsminderung festgestellt sei. Ein Rentengutachten werde nach Vorlage der Entbindungserklärung und Einholung ärztlicher Unterlagen in Auftrag gegeben (Bl. 60 bis 41 VA).

Der Antrag gelangte am 2. Juni 2020 ohne Entbindungserklärung und ohne Unterlagen zurück zum Beklagten (Bl. 69 VA). Mit Schreiben vom 25. Juni 2020 wurde K. aufgefordert, für den Kläger eine Entbindungserklärung von der Schweigepflicht zur Klärung der Frage der Erwerbsfähigkeit sowie Angaben zur Wohnung, eine Kopie des Sparbuchs, einen Nachweis der Krankenkasse und Angaben zu einem Mehrbedarf vorzulegen. Als Frist hierfür war der 23. Juli 2020 gesetzt und auf die Mitwirkungspflichten hingewiesen worden (Bl. 78 VA). Mit Schreiben vom 9. Juli 2020 wurde K. auf die fristgerechte Vorlage der Unterlagen hingewiesen, damit der Antrag baldmöglichst weiter bearbeitet werden könnte (Bl.107 VA). Nachdem die Erinnerung vom 29. Juli 2020 (Bl. 109 VA) mit Fristsetzung zum 25. August 2020 ergebnislos verstrichen war, versagte der Beklagte gem. § 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) dem Kläger mit Bescheid vom 2. September 2020 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII mit der Begründung, der Kläger habe gegen seine Mitwirkungspflichten verstoßen (Bl. 113 VA).

Hiergegen erhob der Kläger durch K. am 19. September 2020 Widerspruch (Bl. 119 bis 116 VA), zu dessen Begründung er ausführte, er habe die angeforderten Unterlagen nicht in der Frist beibringen können, nachdem aufgrund der Coronakrise alles langsamer funktioniert habe und er zunächst die Betreuungsvollmacht habe regeln müssen. Auch lägen sämtliche Unterlagen bei der Betreuungsstelle und Arztberichte beim Versorgungsamt vor. Er gebe dem Beklagten die Vollmacht, sämtliche für den Fall erforderliche Unterlagen bei den aufgeführten Institutionen einzuholen.

Am 2.  Oktober 2020 legte K. die Schweigepflichtentbindungserklärung vor (Bl. 125 VA). Danach zog der Beklagte Unterlagen bei anderen Abteilungen bei und beauftragte den Rentenversicherungsträger mit der Entscheidung über das Vorliegen von dauerhafter Erwerbsminderung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Oktober 2020 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 2. September 2020 im Übrigen zurück (Bl. 157 bis 154 VA).

Die dagegen vom Kläger am 23. November 2020 beim SG erhobene Klage (S 5 SO 2546/20) wurde vom SG mit Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2021 zurückgewiesen, die hiergegen erhobene Berufung wurde mit Urteil des LSG vom 8. Dezember 2021 ebenfalls zurückgewiesen (L 2 SO 2134/21).

Mit Schreiben vom 10. Dezember 2020 bestätigte sodann der Rentenversicherungsträger, DRV Baden-Württemberg, dass beim Kläger unabhängig von der Arbeitsmarktlage eine dauerhafte volle Erwerbsminderung zumindest seit dem 25. Mai 2002 bestehe (Bl. 226 VA).

Nachdem in der Folge im Januar 2021 sodann auch vom Kläger noch Nachweise über Unterkunftskosten und Nebenkostenabrechnungen vorgelegt worden waren, bewilligte der Beklagte mit dem hier streitigen Bescheid vom 25. Januar 2021 Grundsicherungsleistungen ab dem 1. Januar 2021 in Höhe von monatlich 618,82 €. Dem lag der Regelbedarf in Höhe von 446,00 € zuzüglich eines Mehrbedarfs in Höhe von 75,82 € aufgrund der bestehenden Schwerbehinderung des Klägers zugrunde. Nachdem der Kläger zusammen mit seinem Vater eine diesem gehörende Wohnung bewohne, richte sich der Bedarf für Unterkunft und Heizung nach § 42a Abs. 3 Satz 2 bis 5 SGB XII. Hiernach seien als Bedarf für die leistungsberechtigte Person diejenigen Aufwendungen anzuerkennen, die sich aus der Differenz der angemessenen Aufwendungen für den Mehrpersonenhaushalt entsprechend der Anzahl der dort wohnenden Personen ergebe und für einen Haushalt mit einer um eins verringerten Personenzahl. Aufgrund der Mietobergrenze für einen Zwei-Personen-Haushalt in W1 von 516,00 € und der Mietobergrenze für einen Ein-Personen-Haushalt in Höhe von 463,00 € würden sich angemessene Unterkunftskosten in Höhe von 97,00 € ergeben.

Hiergegen erhob der Kläger per E-Mail am 22. Februar 2021 Widerspruch (Bl. 316 VA), den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. September 2021 als unzulässig zurückwies.

Aufgrund entsprechenden Hinweises des Beklagten erhob der Kläger am 24. Februar 2021 erneut (nunmehr) schriftlich Widerspruch und führte zur Begründung aus, er habe einen Rechtsanspruch auf Grundsicherungsleistungen ab Antragstellung (Bl. 326 VA). Außerdem sei es nicht möglich, für 97,00 € ausreichend Wohnraum zu bekommen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. September 2021 wies der Beklagte den weiteren Widerspruch vom 24. Februar 2021 als unbegründet zurück (Bl. 392 bis 391 VA). Zur Begründung führte der Beklagte u.a. aus, dass gemäß § 67 SGB I der Leistungsträger Sozialleistungen, die er nach § 66 SGB I versagt oder entzogen habe, nachträglich ganz oder teilweise erbringen könne, wenn die Mitwirkung nachgeholt werde und die Leistungsvoraussetzungen vorliegen würden. Der Kläger habe im Dezember 2020 Nachweise vorgelegt, dass er dauerhaft erwerbsgemindert sei. Nachweise über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie Nachweise über Unterkunftskosten und die Nebenkostenabrechnungen seien im Januar 2021 übersandt worden, sodass erst ab diesem Zeitpunkt habe festgestellt werden können, ob ein Bedarf im Sinne des Vierten Kapitels des SGB XII bestehe.
Es sei berücksichtigt worden, dass der Kläger zusammen mit seinem Vater in einer Bedarfsgemeinschaft lebe. Der Vater des Klägers sei Eigentümer der von beiden bewohnten Wohnung, sodass der Kläger selbst nicht unmittelbar zur Tragung von Unterkunftskosten verpflichtet sei und somit auch keine Mietrückstände des Klägers selbst hätten entstehen können. Der Kläger habe seinen Bedarf für die Vergangenheit gedeckt. Da auch im Bereich der Grundsicherung nach dem SGB XII der Grundsatz gelte, dass nur ein gegenwärtiger Bedarf zu decken sei, müssten Sozial­hilfeleistungen für einen zurückliegenden Zeitraum auch nur dann erbracht werden, wenn die Notlage im Zeitpunkt der beanspruchten Hilfeleistung noch (fort-)bestehe, die Leistungen also den Bedarf des Betroffenen noch decken könnten. Der Bedarf von Leistungen für den Lebensunterhalt und für das Wohnen sei gedeckt worden und könne daher nicht rückwirkend bewilligt werden. Es seien auch keine Gesichtspunkte zu erkennen, die es rechtfertigten, trotz der Ablehnung der Leistungen wegen fehlender Mitwirkung und der Bedarfsdeckung, diese Leistungen zu erbringen.
Auch soweit sich der Kläger gegen die Berechnung der Unterkunftskosten wende, sei dies unter Berücksichtigung der gesetzlichen Regelung in § 42a Abs. 3 SGB XII im Hinblick auf die hier gegebenen Verhältnisse nicht zu beanstanden. So habe auch das Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 23. März 2021 (B 8 SO 14/19 R) entschieden, dass diese sogenannte Differenzmethode unabhängig von den tatsächlichen Aufwendungen des Leistungsberechtigten hier zur Anwendung komme. So ergebe sich für einen Zwei-Personen-Haushalt in W1 eine Mietobergrenze in Höhe von 467,00 € Kaltmiete zuzüglich Nebenkosten in Höhe von pauschal 93,00 €, insgesamt also in Höhe von 560,00 €. Die Mietobergrenze für einen Ein-Personen-Haushalt betrage 393,00 € zuzüglich der Nebenkosten in Höhe von 70,00 €, insgesamt also 463,00 €. Damit seien zu Recht als angemessene Unterkunftskosten 97,00 € für den Kläger berücksichtigt worden. Insgesamt ergebe sich daher aus dem Regelbedarf, dem Mehrbedarf und dem Bedarf für Unterkunft und Heizung ein monatlicher Gesamtbedarf in Höhe von 816,82 €.

Mit Schreiben vom 20. Oktober 2021 hat der Kläger durch K. sowohl gegen den Widerspruchsbescheid vom 23. September 2021 als auch gegen den Widerspruchsbescheid vom 27. September 2021 Klage beim SG Reutlingen erhoben (Aktenzeichen S 5 SO 2377/21 und S 5 SO 2378/21), die das SG mit Verbindungsbeschluss vom 7. Dezember 2021 zur gemeinsamen Entscheidung und Verhandlung verbunden hat.
Zur Begründung der Klagen hat der Kläger auf die Begründung im Widerspruchsverfahren Bezug genommen und ergänzend noch geltend gemacht, er habe alle Unterlagen vollständig eingereicht. Auch das angeforderte Kundeninformationsblatt eines Sparbuchs sei eingereicht worden. Es solle ein Beweisverfahren durchgeführt werden, wann welche Unterlagen eingereicht worden seien. Wenn keine Unterlagen von ihm eingereicht worden wären, hätte kein Gutachten erstellt werden können. Der Kläger sei auf die Grundsicherungsleistungen angewiesen.

Der Beklagte ist dem entgegengetreten und hat darauf verwiesen, dass zum Einen, soweit sich der Kläger gegen den Widerspruchsbescheid vom 23. September 2021 richte, dieser schon zu Recht als unzulässig abzuweisen gewesen sei, da dieser nur per E-Mail erhoben worden sei.
Hinsichtlich des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2021 hat der Beklagte nochmals darauf verwiesen, dass die notwendigen Nachweise erst im Dezember 2020 mit der Feststellung der DRV über die volle Erwerbsminderung des Klägers und im Übrigen erst im Januar 2021 hinsichtlich weiterer Unterlagen zum Einkommen und Vermögen vorgelegt worden seien. Die für die korrekte Berechnung der tatsächlichen Heizkosten erforderliche Jahresrechnung 2020 sei im Übrigen bis dato (November 2021) nicht vollständig vorgelegt worden. Die Vorlage der kompletten Jahresrechnung sei mehrfach unter Fristsetzung und mit dem Hinweis, dass nach Vorlage eine Nachberechnung der dem Kläger zustehenden Leistungen erfolgen könne, erbeten worden.
Solange die zuvor genannten Nachweise nicht erbracht worden seien, sei es dem Beklagten nicht möglich gewesen, den tatsächlichen Leistungsanspruch des Klägers festzustellen. Soweit der Kläger auf die bereits vorhandenen Akteninhalte in anderen Verfahren verwiesen habe, so könnten diese, wenn überhaupt nur einen teilweisen Einblick in die Bedarfssituation geben und vor allem keine aktuelle Abbildung der Bedarfs-, Einkommens- und Vermögenssituation des Klägers darstellen. Im Übrigen hat der Beklagte im Hinblick auf die Ermessensausübung und auch die Berechnung der Kosten der Unterkunft wie bereits im Widerspruchsbescheid vorgetragen.

Mit Urteil vom 15. November 2022 hat das SG den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 25. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2021 verurteilt, dem Kläger Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in gesetzlicher Höhe ab dem 29. Mai 2020 zu bewilligen. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat hierbei die Auffassung vertreten, dass die Klage gegen den Bescheid vom 25. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2021 begründet sei, nachdem dem Kläger im Rahmen von § 67 SGB I Leistungen rückwirkend ab Antragstellung zu gewähren gewesen seien. Soweit der Kläger darüber hinaus gegen den Widerspruchsbescheid vom 23. September 2021 Klage erhoben habe, sei die Klage hingegen abzuweisen, nachdem der Widerspruch nicht formgerecht erhoben worden sei und es mithin an der Durchführung eines ordnungsgemäßen Vorverfahrens gefehlt habe.
Im Weiteren hat das SG die Auffassung vertreten, dass hier der Leistungszweck rückwirkend noch erreicht werden könne, weshalb das Ermessen des Beklagten insoweit reduziert sei, dass lediglich eine rückwirkende Leistungsgewährung in Betracht komme. Hierfür spreche nach Auffassung des SG grundsätzlich, dass mittlerweile in Abkehr vom Gegenwärtigkeitsprinzip § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) auch im Sozialhilferecht Anwendung finde und darauf abgestellt werde, dass die Notlage im Zeitpunkt der Entscheidung noch fortbestehe und der Bedarf durch die nachträglichen Zahlungen befriedigt werden könne. Für die Lösung spreche u.a., dass die Regelsätze auch einen Betrag für Ansparungen enthielten, mit dem zukünftig entstehende Bedarfe abgedeckt werden könnten. Insgesamt spreche auch der pauschalierte Leistungscharakter dagegen, von einem Überleben des leistungsfreien Zeitraums auf eine vollständige Bedarfsdeckung zu schließen. Auch hinsichtlich der Kosten der Unterkunft im Rahmen des § 42a SGB XII komme es gerade nicht auf den Nachweis einer Kostentragung, sondern vielmehr auf eine pauschalierte Leistung an. Auch habe der Vater des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung geschildert, dass es bei ihm zu Pfändungen hinsichtlich der Krankenversicherungsbeiträge des Klägers gekommen sei und er aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit selbst in eine wirtschaftliche Notlage geraten sei. Daher habe nicht von einer Bedarfsdeckung in der Vergangenheit ausgegangen werden können, weshalb der Beklagte zu verpflichten gewesen sei, Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung rückwirkend ab Antragstellung zu gewähren.
Die vom Beklagten im Rahmen der Leistungsbewilligung zugrunde gelegten Kosten der Unterkunft, entsprechend der pauschalierten Leistungshöhe des § 42a Abs. 3 SGB XII, seien nicht zu beanstanden. Dass dem Kläger gegebenenfalls höhere Heizungskosten entstanden seien, sei nicht dargelegt worden. Daher sei der Klage hinsichtlich des zeitlichen Umfangs mit der rückwirkenden Gewährung von Leistungen stattzugeben und hinsichtlich des unzulässig erhobenen Widerspruches abzuweisen gewesen.

Der Beklagte hat gegen das ihm mit elektronischem Empfangsbekenntnis am 30. November 2022 zugestellte Urteil am 21. Dezember 2022 Berufung zum LSG erhoben. Zur Begründung macht der Beklagte geltend, das SG gehe in seinem Urteil vom 15. November 2022 davon aus, dass nachdem die Mitwirkungspflichten nachgeholt worden seien, das Ermessen des Beklagten aus § 67 SGB I über die nachträgliche Gewährung von Leistungen mit Blick auf den Zweck der Ermächtigung auf Null reduziert sei. Eine Ablehnung der Leistungen käme nur in Betracht, wenn der Leistungszweck rückwirkend nicht mehr erreicht werden könne. Dies sei jedoch nach wie vor möglich.
Der Beklagte gehe jedoch nicht von einer Ermessensreduzierung auf Null aus und sei weiterhin der Ansicht, dass das Ermessen in der Entscheidung vom 25. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 21 richtig ausgeübt worden sei. Aufgrund der rechtmäßigen Entscheidung vom 20. September 2020 nach § 66 SGB I, sei dem Beklagten, nachdem die Mitwirkungspflichten nachträglich erfüllt worden seien, die Anwendung des § 67 SGB I eröffnet gewesen. Dieser überlasse es dem pflichtgemäßen Ermessen des Leistungsträgers, ob und wie er Leistungen nachträglich erbringen wolle. Dabei komme der Norm keine Sanktionierungsfunktion zu. Die Ermessensentscheidung sei vielmehr im Hinblick auf § 2 Abs. 2 SGB I und § 2 Abs. 1 SGB XII unter besonderer Berücksichtigung der Frage zu treffen, ob mit der nachträglichen Leistungsgewährung der Zweck der Sozialhilfe noch erreicht werden könne.
Zweck der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sei es, den laufenden notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des § 42 SGB XII zu sichern. In der Zeit zwischen der Antragstellung im Mai 2020 und der Erfüllung der Mitwirkungspflichten, die letztlich zur Leistungsgewährung geführt hätten, sei der Lebensunterhalt des Klägers durch seinen Vater gedeckt worden. Diese Leistung habe der Vater des Klägers ohne eine Rückzahlung von seinem Sohn zu fordern erbracht. Auch sei erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem SG vorgebracht worden, es sei eine Pfändung wegen ausstehender Krankenversicherungsleistungen für den Kläger erfolgt. Dies könne nicht nachvollzogen werden, da der Kläger über seinen Vater familienversichert sei. Stichhaltige Belege für die Angaben in der mündlichen Verhandlung seien nicht erbracht worden und auch nicht aktenkundig. Während des Antragsverfahrens sei nie geltend gemacht worden, dass eine finanzielle Notlage bestehe, die die Lebensunterhaltssicherung des Klägers gefährde. In dessen Person würden auch keine besonderen Umstände vorliegen, die die späte Vorlage der Unterlagen erklären könnten. Vielmehr habe der Vater des Klägers und gleichzeitiger rechtlicher Betreuer durch die späte Erfüllung der Mitwirkungspflichten das Verfahren bis zur Leistungsgewährung selbst in die Länge gezogen. Dies wäre im Falle einer finanziellen Notlage sicherlich nicht geschehen.
Gemäß § 2 Abs. 1 SGB XII erhalte Sozialhilfe nicht, wer die erforderlichen Leistungen von anderen, insbesondere von Angehörigen erhalte. Werde dem Leistungsberechtigten, also wie hier, tatsächlich Hilfe ohne Rückzahlungsverpflichtung durch andere zuteil, bestehe kein Anspruch auf Leistungen. Auf den Grund der Hilfeleistungen komme es nicht an. Sie könnten auf sittlichen, gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtungen beruhen oder freiwillig gewährt werden. Dass ein konkreter Bedarf des Klägers in der Vergangenheit nicht durch die Leistungen seines Vaters habe gedeckt werden können, sei nicht bekannt.

Der Beklagte beantragt (sachdienlich gefasst),

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 15. November 2022 insoweit aufzuheben, als das Sozialgericht den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 25. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2021 verurteilt hat, dem Kläger Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in gesetzlicher Höhe ab 29. Mai 2020 zu bewilligen und die Klage auch im Übrigen abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der damalige Vertreter des Klägers, K., hält die Entscheidung des SG für zutreffend. Ergänzend führt er u.a. aus, dass nicht nachvollziehbar sei, welche so wichtigen Unterlagen zur Feststellung auf Seiten des Beklagten gefehlt hätten. Im fristgerechten Antrag sei alles offengelegt worden und es gebe keinerlei Abweichungen oder Unklarheiten, da dem Beklagten bereits bekannt gewesen sei, dass der Kläger seit seiner Geburt schwerbehindert sei und auch teilweise Leistungen erbracht worden seien. Der Beklagte habe sich monatelang damit aufgehalten, Kontoauszüge der letzten Monate einzufordern, obwohl der Kläger nie ein Girokonto besessen habe. Im Folgenden habe man stattdessen Kontoauszüge des Sparbuchs haben wollen, welche es einfach nicht gebe.
Die derzeit bewilligte Grundsicherung enthalte einen sogenannten behindertenbedingten Mehrbetrag, welcher wohl die Not des Klägers und seine Krankheit beweise. Aufgrund der starken Behinderungen der über Jahre hinweg versagten Leistungen durch den Beklagten zur Bildung und Teilhabe bleibe sicherlich keinerlei Spielraum für Ansparungen oder sonstiges Vergnügen.
Der Beklagte behaupte, es sei zu Pfändungen des Klägers gekommen. Richtig sei, dass der Kläger über seinen Vater, K., familienversichert sei und der Vater aufgrund seiner beruflichen finanziellen Notlage die Pflichtversicherungsbeiträge nicht mehr habe bestreiten können. So sei es zu Pfändungen gekommen, zeitweise seien alle Krankenversicherungskarten, auch die des Klägers gesperrt gewesen. Zuletzt seien im Jahr 2021 beim Kläger 420,00 € gepfändet worden wegen Zuzahlungen von Krankenhausleistungen.
Entgegen der Behauptung des Beklagten habe der Lebensunterhalt des Klägers eben nicht durch seinen Vater, K., erbracht werden können. In diesem Zeitraum habe vielmehr zur schädlichen Verwendung ein Bausparvertrag aufgelöst werden müssen, ein Dispokredit sowie Privatschulden gemacht werden müssen.
Eine Rückzahlungspflicht des Klägers bestehe weiterhin und sei im Betreuerbericht des K. so auch an das Betreuungsgericht weitergegeben worden. Auch könne hier kein Sachbearbeiter einfach behaupten, K. würde hier nicht auf eine Rückzahlungspflicht bestehen. Vielmehr erkläre er hiermit ausdrücklich, dass er keinesfalls auf seinen Rückzahlungsanspruch verzichten werde.
Die Äußerungen des Beklagten, dass es zu den sittlichen Pflichten des Vaters gehöre, seinen Sohn in dieser Notlage zu unterstützen, seien hier wohl nicht angebracht.

Im Rahmen des Erörterungstermins am 13. September 2023 war K. u.a. aufgefordert worden, entsprechende Bescheinigungen der A1 hinsichtlich der behaupteten Pfändungen wie auch im Hinblick auf den vorzeitig gekündigten Bausparvertrag entsprechende Unterlagen vorzulegen hinsichtlich einer dadurch möglichen z.B. vorzeitigen Tilgung von Schulden und entsprechenden Zinsvergünstigungen.

K. hat in der Folge noch Kontoauszüge hinsichtlich des Bausparvertrages (vom 5. Oktober 2023) vorgelegt, ausweislich derer am 31. Juli 2021 (bzw. 30. September 2021) das Guthaben in Höhe von 43.168,82 € ausbezahlt worden sei. Ferner hat er ein Schreiben der A1 Baden-Württemberg vom 10. Oktober 2023 vorgelegt, wonach es sich bei den seinerzeit offenen Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung um Beiträge aus der Zeit vom 1. Dezember 2017 bis 28. Februar 2019 (in Höhe von 2.896,86 €) handelte, die durch eine Gerichtsvollzieherin am 31. Mai 2019 vollstreckt und an die A1 Baden-Württemberg überwiesen worden waren. K. hat ferner im Schreiben vom 16. Oktober 2023 noch mitgeteilt, dass ihm K2 300,00 €, K3 150,00 € und  R2 6.500,00 € seinerzeit geliehen hätten. Im Weiteren hat er ein Schreiben des R2 vorgelegt, der darin mitteilte, im Zeitraum April bis Ende 2020 drei Privatdarlehen in Höhe von insgesamt 6.500,00 € an K. gewährt zu haben. K. sei seinerzeit arbeitsunfähig krank gewesen und ohne Einkommen. Er habe sich in dieser Not an ihn gewandt. K. habe ihm die Schulden nach der Auflösung seines Bausparvertrages und nachdem er wieder Arbeit hatte, vollständig zurückgezahlt. Dieses Schreiben enthält keine weiteren Kontaktdaten und auch kein Datum.

Der Beklagte ist dem entgegengetreten und hat darauf verwiesen, dass nach wie vor nicht erkennbar ist, dass die von K. aufgenommenen Schulden bzw. die Auflösung der Bausparverträge konkret im Zusammenhang mit der Sicherung des Lebensunterhalts für den Kläger im Zeitraum Mai 2020 bis Dezember 2020 stünden. So habe K. u.a. in seiner Stellungnahme vom 6. Dezember 2023 ausgeführt, dass 2020 zwei Bausparverträge schädlich hätten aufgelöst werden müssen, um den Lebensunterhalt für den Kläger und seinen Vater (K.) zu sichern. Aus den Bescheinigungen der B1 S1 vom 5. Oktober 2023 lasse sich jedoch entnehmen, dass die Bausparverträge erst am 31. Juli 2021 bzw. am 30. September 2021 aufgelöst worden und zur Auszahlung gekommen seien. Zu diesem Zeitpunkt habe der Beklagte bereits Grundsicherung wegen voller Erwerbsminderung an den Kläger geleistet. Weshalb die Bausparverträge erst Mitte/Ende 2021 aufgelöst worden seien, wenn die finanzielle Notsituation bereits 2020 bestanden habe, sei bisher nicht aufgeklärt. Ebenfalls sei bis heute nicht stichhaltig durch den Kläger bzw. seinen Vertreter nachgewiesen worden, wohin die Gelder aus den Bausparverträgen geflossen seien. Da eine Auszahlung von Bausparguthaben regelmäßig auf ein Konto erfolge, wäre es ein Leichtes gewesen, durch Vorlage von Kontoauszügen die Verwendung der Mittel (z.B.  zur Rückzahlung von Privatkrediten) nachvollziehbar darzulegen.
Soweit von Klägerseite ausgeführt worden sei, dem Beklagten sei bekannt, dass im streitigen Zeitraum monatliche Zinsaufwendungen in Höhe von 739,00 € für die Wohnung in W1 zu begleichen gewesen seien, widerspricht der Beklagte dem, dies sei bisher nicht bekannt gewesen, auch würden hierzu jegliche Nachweise fehlen.
Auch der vorgelegten Bescheinigung des R2 könne keine Beweiskraft für die finanzielle Situation der Familie K4 im Jahr 2020 entnommen werden. Das Schreiben enthalte weder eine Adresse des R2, noch weitere Kontaktdaten bzw. ein Datum, sodass sich die Echtheit des Schreibens in keiner Weise nachvollziehen lasse. Rein inhaltlich würden darin Angaben gemacht, die sich mit den bisherigen Angaben des Klägers nicht decken würden. So habe K. in seiner Stellungnahme vom 16. Oktober 2023 noch ausgeführt, er sei ab dem 1. Juli 2018 für 16 Monate erwerbsunfähig krank gewesen, ohne ein Einkommen zu erzielen. Dies bedeute im Umkehrschluss, dass er Ende 2019 nicht mehr erwerbsunfähig gewesen sei. Im Schreiben des R2 heiße es nun, der Vater des Klägers sei 2020 erwerbsunfähig krank ohne Einkommen gewesen. Auch werde wieder Bezug auf die Schulden bei der Krankenkasse genommen, die sich jedoch wie bereits dargelegt, auf den Zeitraum Dezember 2017 bis Februar 2019 bezogen und deren Zahlung bereits am 31. Mai 2019 vollstreckt worden war.
Inwieweit die Schuldenaufnahmen und die Auflösung des Bausparvertrags zur Deckung der eigenen Aufwendungen des K. dienten bzw. für welche Aufwendungen sie konkret in Anspruch genommen worden seien, gehe aus den vorgelegten Unterlagen nach wie vor nicht hervor. Es seien bislang keine aussagekräftigen Unterlagen, wie beispielsweise Kontoauszüge zum Vermögen und zur finanziellen Situation des Klägers und seines Vaters, vorgelegt worden.
Aus Sicht des Beklagten seien für eine nachträgliche Leistung der Grundsicherung an den Kläger konkrete Verwendungsnachweise für die geltend gemachten Beträge erforderlich. Solange keine beleghaften Nachweise eingereicht würden, die die tatsächliche finanzielle Situation der Familie des Klägers im Jahr 2020 darstellten, könne der Beklagte von seiner bisherigen Rechtsauffassung nicht abweichen.

Der Beklagte hat mit Schreiben vom 16. Januar 2024 einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt, die bereits mit Beschluss des Amtsgerichts R1 vom 6. Februar 2023 anstelle des K. zu diesem Zeitpunkt noch zur Betreuerin bestellte K1 hat mit Schreiben vom 25. Januar 2024 ebenfalls einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.



Entscheidungsgründe

I.

Der Senat konnte aufgrund der Zustimmung der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die nach den §§ 143, 144 Abs. 1, Abs. 3 SGG statthafte, unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig.

II.

Die Berufung des Beklagten ist auch begründet. Entgegen der Auffassung des SG ist der Bescheid des Beklagten vom 25. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2021 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Bescheid vom 25. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2021 nur insoweit noch, als darin die Gewährung von Leistungen für die Zeit von Mai 2020 bis Dezember 2020 abgelehnt wurde. Hinsichtlich der Höhe der vom Beklagten berücksichtigten Kosten der Unterkunft aufgrund der Berechnung nach § 42a SGB XII ist - nachdem nur der Beklagte Berufung eingelegt hat - das insoweit klageabweisende Urteil des SG rechtskräftig geworden.

Maßgebliche Rechtsgrundlage ist § 67 SGB I. Danach kann der Leistungsträger sofern die Mitwirkung nachgeholt wird und die Leistungsvoraussetzungen vorliegen, Sozialleistungen, die er nach § 66 SGB I versagt oder entzogen hat, nachträglich ganz oder teilweise erbringen.

Der Beklagte hatte dem Kläger gegenüber mit Bescheid vom 2. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2020 Leistungen nach dem SGB XII gemäß § 66 SGB I mit der Begründung versagt, der Kläger habe gegen seine Mitwirkungspflichten verstoßen nachdem unter anderem keine Entbindungserklärung von der Schweigepflicht und auch weitere angeforderte Unterlagen nicht vorgelegt worden waren. Die dagegen erhobene Klage war vom SG mit Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2021 (S 5 SO 2546/20) abgewiesen und die Berufung des Klägers hiergegen mit Urteil des erkennenden Senats vom 8. Dezember 2021 (L 2 SO 2134/21) rechtskräftig zurückgewiesen worden.

Die nachträgliche Leistungsgewährung steht auf der Rechtsfolgenseite im Ermessen des Leistungsträgers („... kann der Leistungsträger ...“), das sich sowohl auf die Leistungsgewährung dem Grunde als auch dem Umfang nach (dies sowohl zeitlich als auch hinsichtlich der Höhe der Leistung; „... ganz oder teilweise erbringen ...“) bezieht. Der Zeitraum für eine nachträgliche Leistungsgewährung wird im Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) durch eine Neuantragstellung begrenzt, weil es sich hierbei um eine Zäsur handelt (siehe Voelzke in Schläge/Voelzke jurisPK-SGB I, 3. Aufl. 2018 § 67 SGB I [Stand 2. Dezember 2022] Rn. 24). Dies gilt auch für das SGB XII.
Wie bei jeder Ermessenentscheidung muss sich der Leistungsträger dabei in einem bestimmten Rahmen halten, der durch § 39 SGB I vorgegeben ist: Er hat sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und muss die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhalten. Außerdem muss die Begründung des Bescheides die Ermessenserwägungen erkennen lassen (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X; siehe Voelzke, aaO, Rn. 25).
Der Zweck der Ermächtigung wird es dabei im Falle der Obliegenheiten nach den §§ 60 bis 62 SGB I in aller Regel gebieten, die Leistung dem Grunde nach nachträglich zu erbringen. Denn der Zweck der Mitwirkungsobliegenheit ist in diesen Fällen durch die Nachholung der Mitwirkungshandlung erfüllt, indem nunmehr das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen überhaupt oder zumindest ohne erheblichen Mehraufwand festgestellt werden kann. Liegen sie vor und handelt es sich bei der Gewährung der begehrten Leistung um eine sog. gebundene Entscheidung (so auch hier bei der Gewährung von Grundsicherung bei Erwerbsminderung), so dürfte, sofern sich der Leistungszweck rückwirkend noch erreichen lässt, die vollständige Ablehnung der nachträglichen Leistungsgewährung kaum begründbar sein (siehe Voelzke, aaO, Rn. 26).
Der verhaltenssteuernde Effekt der Ablehnung wegen fehlender Mitwirkung ist mit der Nachholung der Mitwirkungshandlung regelmäßig erreicht, so dass eine Ermessensreduzierung eintreten kann (vgl. VG Aachen Urteil vom 13. Dezember 2018 - 5 K 336/16 - zur Führung des Verwaltungsverfahrens durch eine Berufsbetreuerin, juris Rn. 23 bis 26; siehe Voelzke, aaO, Rn. 26.1).
Sind die Anspruchsvoraussetzungen aufgrund einer Nachholung der Mitwirkung nachgewiesen und handelt es sich bei der Gewährung der Leistung um eine sog. gebundene Entscheidung, so dürfte sich der Entscheidungsspielraum des Leistungsträgers nach Auffassung des LSG Nordrhein-Westfalen in die Richtung einer Ermessensreduzierung auf Null einschränken (LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 15. Dezember 2021 - L 21 AS 1571/21 B ER - juris Rn. 28; siehe Voelzke, aaO, Rn. 26.2).
Eine Ausnahme wird insoweit gelten können, wenn der Mitwirkungspflichtige die Mitwirkungshandlung erst sehr viel später, evtl. erst nach Jahren, nachholt. Sofern sich trotz des Zeitablaufs das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen für den gesamten Zeitraum der Versagung oder Entziehung feststellen lassen sollte, können Gesichtspunkte wie u.a. die Existenzsicherungsfunktion einer Sozialleistung, für derartige Fälle nicht vorgesehene Rückstellungen des Leistungsträgers und insbesondere auch die Frage, ob und inwieweit der Zweck einer Leistung nachträglich noch erreicht werden kann (z.B. bei Sachleistungen, aber auch bei für spezielle Notlagen vorgesehenen Sozialleistungen), gleichwohl insgesamt gegen eine nachträgliche Gewährung sprechen. Zumindest dürften derartige Gründe, eine entsprechende Abwägung im Bescheid vorausgesetzt, im Falle gerichtlicher Nachprüfung nicht zu beanstanden sein (siehe Voelzke, aaO, Rn. 27).

D. h. hier, dass eine Verpflichtung des Beklagten zur rückwirkenden Gewährung der Leistungen der Grundsicherung für den hier streitigen Zeitraum Mai 2020 bis Dezember 2020 nur dann gegeben ist, wenn auf Seiten des Beklagten unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Dies ist jedoch zur Überzeugung des Senates entgegen der Auffassung des SG hier nicht der Fall.
Der Beklagte hat vielmehr zu Recht die Ablehnung einer rückwirkenden Gewährung von Grundsicherungsleistungen (bei denen es sich im Ausgangspunkt um eine gebundene Entscheidung handelt) für den hier streitigen Zeitraum Mai 2020 bis Dezember 2020 in seinem Bescheid vom 25. Januar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2021 ausdrücklich im Rahmen des hier gemäß § 67 SGB I eingeräumten Ermessens damit begründet, dass zum einen erst im Dezember die Nachweise vorgelegen hätten, dass der Kläger dauerhaft erwerbsgemindert sei und Nachweise über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers sowie Nachweise über Unterkunftskosten und die Nebenkostenabrechnungen erst im Januar 2021 übersandt worden waren, sodass erst ab diesem Zeitpunkt habe festgestellt werden können, ob ein Bedarf im Sinne des Vierten Kapitel des SGB XII bestehe. Es sei hierbei auch berücksichtigt worden, dass der Kläger zusammen mit seinem Vater in einer Bedarfsgemeinschaft lebe und der Vater Eigentümer der von beiden bewohnten Wohnung sei, sodass der Kläger selbst nicht unmittelbar zur Tragung von Unterkunftskosten verpflichtet sei und somit auch keine Mietrückstände des Klägers selbst hätten entstehen können. Der Bedarf des Klägers sei für die Vergangenheit gedeckt gewesen. Da auch im Bereich der Grundsicherung nach dem SGB XII der Grundsatz gelte, dass nur ein gegenwärtiger Bedarf zu decken sei, müssten Sozialhilfeleistungen für einen zurückliegenden Zeitraum auch nur dann erbracht werden, wenn die Notlage im Zeitpunkt der beanspruchten Hilfeleistung noch (fort)bestehe, ihre Leistungen also dem Bedarf des Betroffenen noch decken könnten. Der Bedarf an Leistungen für den Lebensunterhalt und für das Wohnen sei beim Kläger jedoch gedeckt gewesen und könne daher nicht mehr rückwirkend bewilligt werden. Auch seien keine Gesichtspunkte zu erkennen, die es rechtfertigten, trotz der Ablehnung der Leistungen wegen fehlender Mitwirkung und der Bedarfsdeckung, diese Leistungen zu erbringen.

Die hier vom Beklagten vorgenommenen Ermessenserwägungen im Rahmen der Ermessensausübung sind aus Sicht des Senates letztlich nicht zu beanstanden. Entgegen der Auffassung des SG liegt insbesondere zur Überzeugung des Senates keine Ermessensreduzierung auf Null vor.

Denn so ist zunächst zu berücksichtigen, dass, obwohl der Kläger bzw. sein damaliger Betreuer, sein Vater (K.), schon im Vorfeld der Antragstellung (mit Schreiben vom 14. Mai 2020) und nach Antragstellung mit weiterem Schreiben vom 25. Juni 2020 ausdrücklich darauf hingewiesen wurden, dass zwingende Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung und im Alter beim Kläger die Feststellung der dauerhaften Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger ist, erst Anfang Oktober 2020 die notwendige Entbindungserklärung von der ärztlichen Schweigepflicht vorgelegt wurde und damit erst im Dezember das Gutachten zur Frage der dauerhaften Erwerbsminderung von Seiten des Rentenversicherungsträgers vorgelegt werden konnte. Ferner ist zu berücksichtigen, dass vom Kläger bzw. seinem Vater (K.) erst nach mehrfachen Aufforderungen im Januar 2021 alle die bereits mit Schreiben vom 25. Juni 2020 angeforderten Unterlagen zu den Vermögens- und Einkommensverhältnissen des Klägers sowie den Kosten der Unterkunft samt Nebenkosten vorgelegt wurden und der Beklagte erst zu diesem Zeitpunkt die Frage der Bedürftigkeit klären bzw. den Bedarf des Klägers feststellen konnte. Denn bis dahin bezog der Kläger (seit 2005) Leistungen der Eingliederungshilfe, in Rahmen derer eine Bedarfsprüfung nicht zu erfolgen hatte, sodass dem Beklagten gerade die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers bis dahin auch nicht bekannt waren.

Hinzu kommt weiter, dass der Kläger bzw. sein Vater letztlich auch nicht glaubhaft machen konnten, dass während der hier streitigen Zeit der Bedarf des Klägers nicht gedeckt war. Hierbei ist vor allem zu berücksichtigen, dass die Argumente des Vaters des Klägers letztlich nicht Bestand behalten konnten. So erfolgte die angeführte Pfändung hinsichtlich offener Beiträge zur Krankenversicherung - worauf das SG unter anderem seine Entscheidung gestützt hat - ausweislich der Auskunft der AOK bereits im Mai 2019 bezüglich offener Beiträge aus den Jahren 2017 und 2018, also keineswegs während des hier streitigen Zeitraums Mai 2020 bis Dezember 2020. Des Weiteren hat K. selbst (in Schreiben vom 16. Oktober 2023 und 6. Dezember 2023) angegeben, ab Mitte 2018 ca. 16 Monate arbeitsunfähig krank gewesen zu sein, also bis September 2019 und danach wieder eine Arbeit aufgenommen zu haben (laut eigenen Angaben des K. in einem Telefonat mit dem Beklagten war er seit September 2019 in einem Arbeitsverhältnis, siehe Bl. 38 VA), mit der Folge, dass K. während der hier streitigen Zeit wieder über Arbeitseinkommen verfügte.
Auch der Hinweis auf die vorzeitig aufgelösten Bausparverträge führt zu keiner anderen Bewertung. Denn auch hier ist zu berücksichtigen, dass diese Verträge ausweislich der vorgelegten Kontoauszüge erst zum 31. Juli 2021 bzw. 30. September 2021 aufgelöst wurden, also zu einem Zeitpunkt, zu dem zum einen K. in einem Arbeitsverhältnis stand und zum anderen der Kläger selbst bereits seit Januar 2021 Grundsicherungsleistungen erhielt. Insofern lässt sich ein Zusammenhang mit einer behaupteten wirtschaftlichen Notlage während der hier streitigen Zeit nicht herstellen.

Da folglich hier zwischen der Antragstellung im Mai 2020 und dem Zeitpunkt, zu dem alle angeforderten Unterlagen im Januar 2021 schließlich vorlagen, ein durchaus längerer Zeitraum von rund acht Monaten vergangen war, obwohl auf der einen Seite von Klägerseite geltend gemacht wird, während dieser Zeit sei keine Bedarfsdeckung sichergestellt gewesen, dies aber auf der anderen Seite gerade nicht schlüssig dargetan werden konnte, ist damit hier von einer insoweit anderen - als vom SG unterstellten - Situation auszugehen, die gerade keine Ermessensreduzierung auf Null begründet. Vielmehr lehnte der Beklagte insoweit im Rahmen des von ihm erkannten und ihm zustehenden Ermessens mit vertretbaren Argumenten eine rückwirkende Bewilligung der Grundsicherungsleistungen für die hier streitige Zeit Mai 2020 bis Dezember 2020 ab.

Aus diesen Gründen ist auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG, soweit der Beklagte zur rückwirkenden Gewährung von Leistungen für den Zeitraum Mai 2020 bis Dezember 2020 verurteilt wurde, aufzuheben.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG) liegen nicht vor.  



 

Rechtskraft
Aus
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