S 25 KR 699/21

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 25 KR 699/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zur Beurteilung, ob eine Primärindikation für eine bariatrische Operation bei einem BMI von mehr als 50kg/m² vorliegt, kommt es auf das Gewicht des Klägers bei Stellung der Indikation zur Operation an und nicht auf das Gewicht bei Aufnahme in das Krankenhaus zur Durchführung der Operation.

1.    Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 7.250,28 € nebst Zinsen i. H. v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 6. August 2019 zu zahlen.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
 
Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Vergütung der Krankenhausbehandlung einer bei der Beklagten versicherten Person in dem Klinikum, dessen Trägerin die Klägerin ist.

Die bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherten Patientin C. (im Folgenden: die Patientin) stellte sich am 13. Dezember 2018 in der Adipositassprechstunde des A. Klinikums A-Stadt wegen morbider Adipositas mit Komorbidität vor.

Mit Verordnung von Krankenhausbehandlung vom 22. Februar 2019 wurde der Patientin eine Schlauchmagen-OP verordnet.

Am 28. Februar 2019 beantragte die Patienten bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine bariatrische Operation. Die Beklagte holte eine gutachterliche Stellungnahme des MDK Bayern ein, in welcher dieser ausführt, dass eine Ultima Ratio Situation nicht bestätigt werden könne. Die medizinischen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung seien nicht erfüllt. Mit Bescheid vom 29. März 2019 lehnte die Beklagte den Antrag der Patientin ab.

Die Patientin wurde im A. Klinikum A-Stadt, dessen Trägerin die Klägerin ist, im Zeitraum vom 16. Mai 2019 bis zum 22. Mai 2019 vollstationär behandelt. Die Patientin litt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Klinik an morbider Adipositas mit einem Körpergewicht von 128 kg bei einer Größe von 163 cm, BMI von 48,3 kg/m2. Sie litt außerdem an Diabetes mellitus Typ 2, Gestationsdiabetes in Remission, Silent Inflammation, PCO-Syndrom, Restless legs Syndrom, Faktor XII-mangel und Lupus erytheamatosus und Lip-/Lymphödem. Am 17. Mai 2019 wurde bei der Patientin eine laparoskopische Sleeve-Gastrektomie (Schlauchmagenbildung) durchgeführt.

Die Klägerin stellte der Beklagten mit Rechnung vom 31. Mai 2019 einen Betrag von 7.250,28 € in Rechnung, wobei sie die DRG K04Z zugrunde legte. Am 5. August 2019 rechnete die Beklagte die zunächst vollständig gezahlten Behandlungskosten mit unstreitigen Vergütungsansprüchen der Klägerin aus anderweitigen Behandlungsfällen auf.

Die Klägerin hat am 25. November 2021 Klage zum Sozialgericht Darmstadt erhoben.

Die Klägerin hält die Klage dem Grunde und der Höhe nach für vollumfänglich begründet. Die von der Beklagten vorgenommene Aufrechnung sei unwirksam, da ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch der Beklagten nicht gegeben sei. Für einen derartigen Erstattungsanspruch sei erforderlich, dass die Beklagte den streitgegenständlichen Betrag ohne Rechtsgrund geleistet hat, was vorliegend nicht der Fall gewesen sei. Der Vergütungsanspruch aus der Behandlung der Patientin sei vollumfänglich begründet. Die Klägerin habe gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung der Vergütung aus § 109 Abs. 4 S. 3 Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung – vom 20. Dezember 1988 (SGB V) i.V.m. § 17b Abs. 1 S. 1 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) sowie der Fallpauschalenvereinbarung in der hier gültigen Fassung nebst Landesvertrag nach § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB V i.V.m. der zwischen den Beteiligten geltenden Budget- und Entgeltvereinbarung. Die vollstationäre Krankenhausbehandlung der Patientin sei medizinisch notwendig gewesen. Sie habe ausgehend von den in der Leitlinie der Deutschen Adipositasgesellschaft formulierten Kriterien die Voraussetzungen für die Verschaffung des Eingriffs durch die beklagte Krankenkasse erfüllt. Die Patientin habe an einer morbiden Adipositas per magna Grad III nach WHO angesichts eines BMI von 51,2 kg/m2 (HBA1C Wert 5,9), einer arteriellen Hypertonie, einem PPCO-Syndrom, Arthralgien, Lumbalgien und Sodbrennen als adipositasassoziierten Erkrankungen gelitten. Bei der Ausprägung der Adipositas bei der Patientin sowie der besonderen Schwere von Begleit- und Folgeerkrankungen seien konservative Therapieversuche regelhaft nur kurzfristig wirksam. Die wissenschaftliche Evidenz für das Vorgehen liege seit Jahren vor. Die Behandlung entspreche den Vorgaben der S-3-Richtlinie „Chirurgie der Adipositas und metabolische Erkrankungen“. Kontraindikationen hätten nicht vorgelegen. Entscheidend sei das Gewicht der Klägerin bei Feststellung der Indikation in das Krankenhaus zu Durchführung der Operation. Im Vorfeld eines adipositaschirurgischen Eingriffs würden Patienten zur Absenkung des Operationsrisikos mit eiweißreicher Flüssignahrung ernährt. Eine Gewichtsabnahme in der Zeit unmittelbar vor der Operation sei daher üblich und lasse nicht auf eine erfolgreiche Gewichtsreduktion in Eigenregie schließen.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 7.250,28 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 6. August 2019 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass ein Vergütungsanspruch der Klägerin aus dem Behandlungsfall der Patientin aufgrund wirksamer Aufrechnung nicht mehr besteht. Die Beklagte habe einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch i.H.v. 7.250,28 €, da sie diese Summe ohne Rechtsgrund an die Klägerin geleistet habe. Sie verweise auf die Ausführungen des MDK in den Gutachten vom 2. Juli 2019 und vom 24. März 2019 (Bl. 10-11, 15-20 der Akte der Beklagten). Die Notwendigkeit einer vollstationären Krankenhausbehandlung habe vorliegend nicht bestanden.  Ein Anspruch auf stationäre Behandlung und damit ein Vergütungsanspruch des Krankenhauses bestehe nicht, wenn es der Gesundheitszustand des Patienten ermögliche, das Behandlungsziel durch andere Maßnahmen, insbesondere durch ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege, zu erreichen.

Mit Beweisanordnung vom 25. Mai 2022 hat die Kammer ein ärztliches Gutachten der Dr. D. eingeholt, welches diese am 13. Juni 2022 erstattet hat. In ihrem Gutachten stellt die Sachverständige zunächst die S 3-Leitlinie zur Chirurgie der Adipositas und metabolische Erkrankungen in der Version 2.3 von Februar 2018 vor. Danach sei bei Patienten mit einem BMI ab 40 kg/m2 ohne Begleiterkrankungen und ohne Kontraindikationen nach Erschöpfung der konservativen Therapie nach umfassender Aufklärung eine adipositaschirurgische Operation indiziert. Bei Patienten mit einem BMI ab 35 kg/m2 und adipositas-assoziierten Begleiterkrankungen sei eine solche Indikation nach Erschöpfung der konservativen Therapie gegeben. Unter bestimmten Umständen könne eine Primärindikation zu einem adipositaschirurgischen Eingriff gestellt werden, ohne dass vorher ein konservativer Therapieversuch erfolge. Dies sei unter anderem dann der Fall, wenn bei Patienten ein BMI ab 50 kg/m2 vorliege. Die Erschöpfung der konservativen Therapie sei gegeben, wenn nach mindestens sechs Monaten umfassender Lebensstilintervention in den letzten zwei Jahren eine Reduktion des Ausgangsgewichts von mehr als 15 % bei einem BMI von 35-39,9 kg/m2 und von über 20 % bei einem BMI über 40 kg/m2 nicht erreicht worden sei. Grundsätzlich könne die Therapie der chronischen Adipositas konservativ und operativ erfolgen. Die konservativen Therapieansätze umfassten Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und Verhaltenstherapie. Bei einem BMI <50 kg/m2 solle primär eine konservative Therapie durchgeführt werden im Sinne eines multimodalen Therapieansatzes für 6-12 Monate. Wenn die konservative Therapie scheitere, also wenn es unter dem multimodalen Therapieansatz nicht zu einer anhaltenden Gewichtsreduktion komme, sei die operative Therapie indiziert. Bei der Patientin habe bei Aufnahme in die Klinik ein Gewicht von 128 kg einer Größe von 163 cm vorgelegen, das entspreche einem BMI von 48,2 kg/m2. Eine Primärindikation unter ausschließlicher Berücksichtigung des BMI habe somit nicht mehr vorgelegen. Bei Aufnahme habe kein BMI von über 50 kg/m2 mehr bestanden. Zudem könne mangels Vorliegens aktueller Schilddrüsenwerte nicht bestätigt werden, dass andere Adipositas verursachende Erkrankungen tatsächlich ausgeschlossen wurden. Aus den Unterlagen gehe auch nicht hervor, dass präoperativ eine nervenärztliche/psychologische Mitbeurteilung erfolgt sei. Welche Erkrankungen verhaltenstherapeutisch behandelt worden seien, gehe aus den Unterlagen nicht hervor, das Kriterium des Ausschlusses schwerer Psychosen könne daher nicht als erfüllt angesehen werden. Es sei auch nicht dokumentiert, dass eine behandlungsbedürftige Essstörung ausgeschlossen worden sei. Auch eine erfolglos ausgeschöpfte konservative Therapie könne aus den vorgelegten Unterlagen nicht bestätigt werden und zwar weder im Hinblick auf die durchgeführten Maßnahmen noch den Behandlungszeitraum. Insbesondere lägen keine Informationen zur differenzierten Beurteilung der Ernährungsgewohnheiten der Patientin vor. Die Bewegungstherapie liege acht Jahre zurück und sei unspezifisch. Verwertbare Angaben zu einer Verhaltenstherapie fehlten ebenso. Sie stimme mit dem MDK überein, dass eine multimodale konservative leitliniengerechte Therapie vorrangig gewesen wäre unter Hinweis auf die S-3-Leitlinie: „Prävention und Therapie der Adipositas“. Ein definitives Scheitern der multimodalen Maßnahmen werde nicht eindeutig belegt. Es sei nicht belegt, dass eine multimodale Therapie überhaupt durchgeführt worden sei. Bei Aufnahme in das Krankenhaus habe der BMI bei 48,3 kg/m2 und somit unter 50 kg7/m2 gelegen, was beweise, dass die Patientin innerhalb weniger Monate (13. Dezember 2018 bis Aufnahme am 16. Mai 2019) sehr wohl zu einer Gewichtsreduktion in der Lage gewesen sei und zwar offensichtlich ohne professionelle Unterstützung. Eine Primärindikation zu einem adipositaschirurgischen Eingriff, ohne dass vorher ein konservativer Therapieversuch erfolgt sei, könne nicht bestätigt werden. Keine der Bedingungen dafür sei erfüllt gewesen. Die Indikation zur Sleeve-Resektion zum Operationszeitpunkt könne nicht bestätigt werden. Damit sei der stationäre Aufenthalt insgesamt nicht erforderlich gewesen. Die durchgeführte Behandlung habe nicht den Leitlinien entsprochen. Sie stimme mit dem MDK überein, dass eine multimodale konservative leitliniengerechte Therapie vorrangig gewesen wäre unter Hinweis auf die S-3-Leitlinie: „Prävention und Therapie der Adipositas“.

Mit Schriftsatz vom 18. Juli 2022 hat die Klägerseite zum Gutachten der Dr. D. vom 13. Juni 2022 Stellung genommen. Dabei hat sie sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Urteil vom 22. Juni 2022, Az. B1 KR 19 / 21 R bezogen, worin das Bundessozialgericht (BSG) klargestellt habe, dass Ultima Ratio nicht bedeute, dass vor Durchführung eines bariatrischen Eingriffs alle quantitativen Behandlungsmethoden erschöpft sein müssen. Damit habe das BSG aus sozialrechtlicher Sicht die grundsätzliche Zulässigkeit einer Primärindikation zur bariatrischen Operation bestätigt. Diese Indikation bestehe demnach unter anderem, wenn die Durchführung der Operation zu Ergebnissen führe, die denen konservativer Behandlungsmethoden überlegen seien. Nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sei bei Adipositaspatienten in jedem Fall die frühzeitige Durchführung eines operativen Eingriffs angezeigt. Dies wirke sich nachweislich positiv auf die Mortalität aus. Mit dem Schriftsatz hat die Klägerseite die Zusammenfassung einer Studie zu Lebenserwartung nach bariatrischer Chirurgie übersandt.

Mit Schriftsatz vom 20. Juli 2022 hat die Beklagte vorgetragen, dass das Sachverständigengutachten ihre Auffassung bestätige. Die Ausführungen der Sachverständigen sowie des MDK seien fachlich fundiert und nachvollziehbar. Die Klage sei abzuweisen. Mit weiterem Schriftsatz vom 17. August 2022 hat die Beklagte vorgetragen, dass ein multimodales Therapiekonzept über eine zusammenhängende Dauer von mindestens sechs Monaten anhand der Behandlungsunterlagen nicht bestätigt werden könne. Ausweislich des Terminsberichts des BSG zum Verfahren mit dem Az. B1 KR 19 / 21 R sei die bariatrischen Operation in Form einer Ultima Ratio nur dann als eine erforderliche Behandlungsoption anzusehen, sofern diese den voraussichtlichen Ergebnissen anderer Behandlungsoptionen eindeutig überlegen sei. Das sei vorliegend nicht der Fall. Die wenigen durchgeführten konservativen Therapiemaßnahmen lägen mindestens 8 Jahre zurück. Der BMI der Patientin habe zum Zeitpunkt der Aufnahme bei 48,3 kg/m2 gelegen. Im Vorfeld der Aufnahme habe die Patientin folglich innerhalb weniger Monate eigenständig eine Gewichtsreduktion herbeigeführt. Weiterhin haben bei der Patientin ein ASA-Stadium II vorgelegen, eine schwere Leistungsminderung habe daher ausgeschlossen werden können. Der Hb-Alc-Wert der Patientin habe im Normbereich gelegen, wodurch eine glykämische Stoffwechsellage ebenfalls habe ausgeschlossen werden können. Aus den Behandlungsunterlagen gehe ferner nicht hervor, dass andere Adipositas verursachende Erkrankungen ausgeschlossen worden seien.

Mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2022 hat die Klägerseite vorgetragen, dass das BSG in seiner Entscheidung vom 22. Juni 2022 zum Az. B1 KR 19 / 21 R ausgeführt habe, dass der Begriff der Ultima Ratio als rechtlicher Aspekt der Erforderlichkeit im Sinne von § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V nicht in dem Sinn zu verstehen sei, dass zunächst alle anderen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sein müssen und als einzige Therapieoption dann noch eine ein gesundes Organ betreffende Operation verbleibt. Sofern Nutzen und Zweckmäßigkeit einer Methode im Grunde anerkannt seien, geböten das Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot den Weg des gesicherten Nutzens zu wählen und Gesundheitsgefahren für die Versicherten soweit wie möglich auszuschließen. Die Durchführung eines multimodalen Therapiekonzepts vor der chirurgischen Versorgung sei nicht zwingend erforderlich. Maßgeblich sei die Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit des Eingriffs unter Berücksichtigung des Qualitätsgebots. Danach könnten vorliegend keine Zweifel an der Indikation des Eingriffs bestehen. Im Übrigen hat die Klägerseite auf ein medizinisches Gutachten des Prof. Dr. E. zum Thema der Adipositaschirurgie aus dem Jahr 2022 verwiesen, welches ebenfalls ihren Vortrag stütze.

Mit Schriftsatz vom 15. Februar 2023 hat die Beklagte vorgetragen, dass bei einer bariatrischen Operation die Funktionsfähigkeit des Magens irreversibel beeinträchtigt werde. Dies führe zwar infolge der verminderten Nahrungsaufnahme zur gewünschten Gewichtsreduktion, berge aber auch Risiken. Die voraussichtlichen Ergebnisse der Operation müssten daher den voraussichtlichen Ergebnissen konservativer Behandlungsoptionen eindeutig überlegen sein. Dies sei vorliegend nicht der Fall gewesen. Nach Einsichtnahme in die Patientenakte der Klinik hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 20. März 2023 vorgetragen, dass eine Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken der Operation nicht festgestellt werden könne. Es sei nicht ersichtlich, dass die Operationsprognose den voraussichtlichen Ergebnissen anderer Behandlungsoptionen eindeutig überlegen wäre, sodass konservative Maßnahmen vorrangig gewesen wären. Die durchgeführte stationäre Behandlung sei folglich mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot gemäß § 12 SGB V nicht vereinbar.

Mit Schriftsatz vom einer 20 April 2023 hat die Klägerseite vorgetragen, dass die Ausführungen der Beklagten unzutreffend seien. Diese verkenne weiterhin die eindeutige medizinische Sachlage. Ausweislich der maßgeblichen S 3-Leitlinie sei vorliegend das Ermessen der Ärzte auf Null reduziert gewesen. Es hätten keine konservativen Therapiealternativen bestanden. Die Abwägung habe allein zu Gunsten des bariatrischen Eingriffs erfolgen können. Die Patientin sei hierüber hinreichend aufgeklärt worden, so dass sie anschließend folgerichtig in den Eingriff eingewilligt habe.

Mit Schriftsatz vom 8. August 2023 hat die Beklagte ihre Auffassung bekräftigt, dass die operative Behandlung vorliegend nicht zielführend gewesen sei. Selbst durch die bariatrischen Operation sei nicht sichergestellt, dass sich die Patienten nicht weiter hochkalorisch ernähre. Aus den Behandlungsunterlagen gehe nicht hervor, dass die Operationsprognose den Prognosen konservativer Therapiemethoden im vorliegenden Einzelfall medizinisch überlegen gewesen wäre.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte im hiesigen Verfahren, die Akte der Beklagten (eine Datei), die Patientenakte des A. Klinikums A-Stadt (eine Datei) und das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 28. Februar 2024 verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG ist in vollem Umfang begründet. 

Die Klägerin hat gegen die Beklagte gemäß § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V i.V.m. § 7 S. 1 Nr. 1 KHEntgG Anspruch auf Zahlung der Kosten für die vollstationäre Krankenhausbehandlung der Patientin vom 16. Mai 2019 bis zum 22. Mai 2019. Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung und damit korrespondierend die Zahlungsverpflichtung einer Krankenkasse entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus im Rahmen seines Versorgungsauftrags erfolgt und i. S. von § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist. Der Behandlungspflicht zugelassener Krankenhäuser im Sinne von § 109 Abs. 4 SGB V steht ein Vergütungsanspruch gegenüber, der auf der Grundlage der gesetzlichen Ermächtigung in §§ 16, 17 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) in der Pflegesatzvereinbarung zwischen Krankenkasse und Krankenhausträger festgelegt wird. Der Zahlungsanspruch des Krankenhauses korrespondiert dabei in aller Regel mit dem Anspruch des Versicherten auf Krankenhausbehandlung. Die Ablehnung des von der Patientin gestellten Kostenübernahmeantrags schließt die Zahlungsverpflichtung der Beklagten nicht von vornherein aus (1.). Die bei der Patientin durchgeführte bariatrische Operation war auch erforderlich (2.).

1.    Dem Vergütungsanspruch der Klägerin steht nicht entgegen, dass die Beklagte im Verhältnis zur Patienten bereits entschieden hatte, dass sie mangels Erforderlichkeit keinen Anspruch auf die begehrte und später im Krankenhaus der Klägerin durchgeführte bariatrischen Operation hat. Wenn die Krankenkasse gegenüber dem Versicherten durch einen Verwaltungsakt feststellt, dass ein Anspruch auf Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V nicht besteht, fehlt es zwar an einem Sachleistungsanspruch des Versicherten, der durch das Krankenhaus erfüllt werden kann. Der ablehnende Bescheid entfaltet allerdings nur für die am Verwaltungsverfahren Beteiligten Bindungswirkung. Unmittelbar gegenüber dem am Verwaltungsverfahren nicht beteiligten Krankenhaus entfaltet er hingegen keine Bindungswirkung. Das Abrechnungsverhältnis zwischen Krankenhaus und Krankenkasse ist von dem Versicherungsverhältnis zwischen versichertem und Krankenkasse zu unterscheiden. Das Abrechnungsverhältnis dient dazu, die materiellen Ansprüche des Versicherten gegen seine Krankenkasse durch den Leistungserbringer zu erfüllen. Allerdings weist das SGB V durch die darin vorgenommene Ausgestaltung des Sachleistungssystems dem Krankenhaus eine eigenständige und im Verhältnis zur Krankenkasse regelmäßig zeitlich vorrangige Stellung bezüglich der Beurteilung der medizinischen Voraussetzungen und der Erforderlichkeit der stationären Behandlung und ihres Umfangs zu. Die Leistungserbringung des Krankenhauses zulasten der Krankenkasse hängt nicht von der vorherigen Bewilligung der Leistung durch die Krankenkasse ab. Die sachliche Prüfung der Erforderlichkeit einer Krankenhausbehandlung ist nach § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V dem Krankenhaus und seiner eigenverantwortlichen Entscheidung zugewiesen. Sie unterliegt der nachgelagerten Kontrolle durch die Krankenkasse und der gerichtlichen Überprüfung im Vergütungsstreit. Das Krankenhaus ist verpflichtet, die Erforderlichkeit der Krankenhausbehandlung selbst zu prüfen. Es ist hingegen nicht verpflichtet, eine eventuelle Leistungsablehnung durch die Krankenkasse gegenüber dem Versicherten bei diesem oder bei der Krankenkasse vorab zu erfragen. Das Risiko, dass ein Versicherter trotz einer die Leistung ablehnenden Entscheidung der Krankenkasse ein Krankenhaus aufsucht, um eben diese Leistung zu erhalten, ohne das Krankenhaus über die Leistungsablehnung in Kenntnis zu setzen, trägt die Krankenkasse. Eine normativ-organisatorische Absicherung von Leistungsablehnungen gegenüber allen nach § 108 SGB V infrage kommenden Krankenhäusern gibt es nicht. Das Risiko, dass Krankenhausbehandlungen trotz Ablehnung gegenüber den Versicherten von diesen in Anspruch genommen werden ist allein dem Versicherungsverhältnis zuzuordnen und hat keine Auswirkungen auf den Vergütungsanspruch des Krankenhauses im Abrechnungsverhältnis. Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass das A. Klinikum A-Stadt, dessen Trägerin die Klägerin ist, Kenntnis von der Ablehnung der Kostenübernahme für die begehrte bariatrischen Operation durch die Beklagte gegenüber der Patientin hatte. Eine Entscheidung, welche Auswirkung eine Kenntnis des Krankenhauses von der Ablehnung auf das Abrechnungsverhältnis hat, muss daher vorliegend nicht getroffen werden (vgl. zu alledem im Detail BSG (1. Senat), Urteil vom 22.06.2022 – B 1 KR 19/21 R, BeckRS 2022, 21616, Rn. 11-16).

2.    Die vollstationäre Behandlung der Patienten war auch erforderlich im Sinne von § 39 Abs. 1 S. 1 SGB V

Die allgemeinen Maßstäbe der Erforderlichkeit der vollstationären Behandlung im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V werden durch das Ultima-ratio-Prinzip bei einer zu therapeutischen Zwecken zielgerichtet durchgeführten irreversiblen Schädigung einer wichtigen, abgegrenzten Funktionseinheit des Körpers (Organ) modifiziert. Die voraussichtlichen Ergebnisse dieses Eingriffs müssen bei Anwendung des allgemeinen Qualitätsgebots (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) den voraussichtlichen Ergebnissen anderer Behandlungsoptionen eindeutig überlegen sein (BSG (1. Senat), Urteil vom 22.06.2022 – B 1 KR 19/21 R, BeckRS 2022, 21616, Rn. 17).

Die vollstationäre Krankenhausbehandlung ist erforderlich, wenn die Behandlung dem Qualitätsgebot aus § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V oder dem abgesenkten Qualitätsgebot des Potenzialmaßstabes aus § 137 Buchst. c Abs. 3 SGB V entspricht. Der Anspruch auf Krankenbehandlung hat sich generell gemäß §§ 27 Abs. 1 S. 1 i.V.m.  2 Abs. 1 S. 3, Abs. 4, 12 Abs. 1 SGB V daran auszurichten, welche Behandlung unter Beachtung des Qualitätsgebotes und des umfassenden Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit notwendig und ausreichend ist, um das angestrebte Behandlungsziel zu erreichen. Die Vorgaben des allgemeinen Qualitätsgebotes aus § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V gelten auch für die stationäre Behandlung. § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V normiert zudem einen weiteren Aspekt des Wirtschaftlichkeitsgebots. Danach ist die vollstationäre Krankenhausbehandlung gegenüber allen anderen Arten der Krankenbehandlung nachrangig. Eine vollstationäre Aufnahme zu Durchführung einer bariatrischen Operation ist folglich nur dann erforderlich, wenn das Behandlungsziel nicht durch ambulante Behandlungsmaßnahmen erreicht werden kann. Das Gericht überprüft die Erforderlichkeit im Streitfall nach dem im Behandlungszeitpunkt objektiv verfügbaren Wissens- und Kenntnisstand des verantwortlichen Krankenhausarztes (BSG (1. Senat), Urteil vom 22.06.2022 – B 1 KR 19/21 R, BeckRS 2022, 21616, Rn. 18.19 m.w.N.).

Obwohl bei der Klägerin kein konservativer Therapieversuch nachweislich erfolgt ist, konnte bei ihr dennoch eine Primärindikation zu dem vorgenommenen adipositaschirurgischen Eingriff gestellt werden, weil bei ihr zum maßgeblichen Zeitpunkt ein BMI von über 50kg/m² vorlag. 

Die Vornahme des Eingriffs entsprach der maßgeblichen S 3-Leitlinie: Chirurgie der Adipositas und metabolische Erkrankungen (Stand: 1. Februar 2018). Die S3-Leitlinien, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren beruhen und auf der Grundlage einer systematischen Evidenzrecherche erstellt wurden, stellen eine systematisch entwickelte Hilfe für Ärzte bei der Entscheidungsfindung in speziellen Situationen dar. Sie geben deshalb auch Verwaltung und Gerichten wichtige Entscheidungshilfen, auch wenn sie rechtlich nicht bindend sind (vgl. Hessisches LSG, Urteile vom 05.07.2016, L 1 KR 116/15, Rn. 21; SG München (15. Kammer), Endurteil vom 15.09.2022 – S 15 KR 26/21, Rn. 27 m.w.N.). Auch die Sachverständige Dr. D. nimmt in ihrem Gutachten vom 13. Juni 2022 auf die Leitlinie Bezug und stützt ihre Einschätzung auf diese. Die Sachverständige zitiert den Punkt 4.2.1 der Leitlinie, wonach bei Patienten mit einem BMI von mehr als 50 kg/m² eine Primärindikation zu einem adipositaschirurgischen Eingriff gestellt werden kann, ohne dass vorher ein konservativer Therapieversuch erfolgte. Auch die Sachverständige hält also die maßgebliche S 3-Leitlinie für richtungsweisend bei der Entscheidung, ob eine primär Indikation zu einem adipositaschirurgischen Eingriff bei der Patientin vorlag. Die Kammer schließt sich dem an und hält die Leitlinie ebenfalls für maßgebend.

Die Einschätzung der Sachverständigen, dass bei der Patientin keine Primärindikation zu einem adipositaschirurgischen Eingriff ohne vorherigen konservativen Therapieversuch vorlag, beruht darauf, dass sie bei der Beurteilung davon ausgegangen ist, dass bei der Patientin bei Aufnahme in das Krankenhaus nur noch ein BMI von 48,2 kg/m² vorlag. In diesem Fall bestünde nach der maßgeblichen S 3-Leitlinie erst nach Erschöpfung der konservativen Therapie eine Indikation für einen adipositaschirurgischen Eingriff. Die Kammer teilt indes die Einschätzung der Sachverständigen nicht, dass das Gewicht der Patientin bei Aufnahme in das Krankenhaus zu Durchführung der bariatrischen Operation ausschlaggebend ist. Die Kammer hält vielmehr das Gewicht der Patientin bei der Stellung der Indikation zur bariatrischen Operation für entscheidend. Als sich die Patientin am 13. Dezember 2018 in der Adipositassprechstunde des A. Klinikums A-Stadt vorstellte, betrug ihr BMI 50,6 kg/m². In ihrem Gutachten stellt die Sachverständige zur Begründung, weshalb keine Primärindikation für eine bariatrischen Operation bei der Patientin vorlag, maßgeblich darauf ab, dass diese in der Zeit vom 13. Dezember 2018 bis zur Aufnahme in das Krankenhaus und 16. Mai 2019 sehr wohl zu einer Gewichtsreduktion in der Lage gewesen sei. Auf dieser Schlussfolgerung baut die gesamte Bewertung der Sachverständigen auf. Die Kammer kann sich dieser Schlussfolgerung allerdings nicht anschließen, da sie die Argumentation der Klägerseite hinsichtlich des Zustandekommens der Gewichtsreduktion für überzeugend hält. Da sich die Patienten vor einer adipositaschirurgischen Operation zum Zwecke der Senkung des Operationsrisikos über einen gewissen Zeitraum lediglich von eiweißhaltiger Flüssignahrung ernähren, ist eine Gewichtsreduktion vor der Operation als Teil des Eingriffs zu erwarten. Die durch die Ernährung mittels Flüssignahrung erzielte Gewichtsreduktion kann nicht als eine die Indikation zum adipositaschirurgischen Eingriff widerlegende erfolgreiche Gewichtsreduktion in Eigenregie angesehen werden. Eine derartige Ernährung ist lediglich übergangsweise möglich und wäre im Alltag nicht umsetzbar. Bei normaler Ernährung wäre ein entsprechender Gewichtsverlust nicht zu erwarten. Die Kammer ist deshalb der Auffassung, dass zur Beurteilung der Indikation einer bariatrischen Operation auf das Gewicht bei Stellung der Indikation zum Eingriff abzustellen ist. Ansonsten wäre für die Krankenhäuser als Leistungserbringer nicht kalkulierbar, ob im Ergebnis eine Indikation zur bariatrischen Operation besteht, da nicht sicher vorhersehbar ist, wie viel Gewicht die Patienten durch die Flüssignahrung in den Wochen vor der Operation verlieren. Die Leistungserbringer trügen dann das Risiko, trotz ordnungsgemäßer Indikationsstellung und Operationsvorbereitung keine Vergütung für den bariatrischen Eingriff zu erhalten. Dies erscheint der Kammer nicht sachgerecht. Eine derartige Risikoverteilung würde die Gefahr in sich bergen, dass zur Gewährleistung der Vergütung gegebenenfalls bariatrische Operationen nicht sobald sie erforderlich sind durchgeführt werden, sondern erst bei einem höheren Gewicht der Patienten oder aber, dass die Zeit der Ernährung mit Flüssignahrung verkürzt wird, was möglicherweise das Operationsrisiko erhöhen könnte.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der Indikationsstellung zur bariatrischen Operation lag bei der Patientin ein BMI von über 50 kg/m² vor. Entsprechend der, abgesehen von der Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts, überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen bestand in Übereinstimmung mit der S 3-Leitlinie: „Chirurgie der Adipositas und metabolische Erkrankungen“ bei der Patientin die Indikation zu einem adipositaschirurgischen Eingriff, ohne dass vorher ein konservativer Therapieversuch erfolgte. Auf die Rechtsprechung des BSG zum Begriff der Ultima Ratio und dazu, dass dieser nicht so zu verstehen ist, dass zunächst stets alle anderen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sein müssen und als einzige Therapieoption dann noch eine ein gesundes Organ betreffende Operation verbleibt (BSG (1. Senat), Urteil vom 22.06.2022 – B 1 KR 19/21 R, BeckRS 2022, 21616, Rn. 21) kommt es daher im vorliegenden Fall nicht entscheidend an. Die Aussage des BSG: „Sofern Nutzen und Zweckmäßigkeit einer Methode im Grunde anerkannt sind, gebieten es Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot, den Weg des gesicherten Nutzens zu wählen und Gesundheitsgefahren für die Versicherten soweit wie möglich auszuschließen.“ (ibid.), wonach auch bei einem BMI unter 50 kg/m² ein tatsächliches Ausschöpfen der konservativen Behandlungsmöglichkeiten nicht erforderlich ist, gilt bei einem höheren BMI umso mehr, was sich in der maßgeblichen S3-Leitlinie darin niedergeschlagen hat, dass bei einem BMI von über 50 kg/m² eine Primärindikation zum adipositaschirurgischen Eingriff auch ohne konservativen Therapieversuch gesehen wird.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 193, 197a Abs. 1 SGG und entspricht der Entscheidung der Kammer in der Hauptsache.
 

Rechtskraft
Aus
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