L 4 KR 116/24 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 32 KR 3/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 4 KR 116/24 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Zur Gewährung von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege nach § 37c SGB V im einstweiligen Rechtsschutzverfahren. 

Auf die Beschwerde des Antragstellers  wird der Beschluss des Sozialgerichts  Neuruppin vom 21. März 2024 geändert.

 

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 24. Mai 2024 bis zum 31. Dezember 2024, längstens jedoch bis zum rechtskräftigen Abschluss des beim Sozialgericht Neuruppin anhängigen Hauptsacheverfahrens S 32 KR 88/23, vorläufig die tatsächlichen Kosten für Leistungen der außerklinischen Intensivpflege durch selbstbeschaffte, im Arbeitgebermodell beschäftigte Pflegekräfte, höchstens jedoch Kosten in Höhe von monatlich 13.313,43 €, zu erstatten.

 

Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen.

 

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Hälfte seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.

 

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege, hilfsweise häusliche Krankenpflege, im Umfang von 12 Stunden täglich durch Übernahme bzw. Erstattung der Kosten für selbstbeschaffte, von ihm beschäftigte Pflegekräfte.

 

Der am 15. Februar 1945 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Er ist seit dem Jahr 2010 an einem atypischen Parkinson-Syndrom erkrankt und leidet zudem an einer schweren orthostatischen Dysregulation, die zu starken Blutdruckabfällen bei Lagewechseln (Wechsel zwischen Liegen, Sitzen, Stehen, Gehen, Stehenbleiben) mit Schwindel und Bewusstseinsverlusten führt und in der Vergangenheit teils schwere Verletzungen sowie daraus resultierende Krankenhausaufenthalte zur Folge hatte. Seit Dezember 2022 verordnete die behandelnde Fachärztin für Neurologie durchgehend häusliche Krankenpflege im Umfang von täglich 24 Stunden.

 

Mit Schreiben vom 24. Februar 2023 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin ein persönliches Budget für 24 Stunden häusliche Krankenpflege, da seine ihn bisher pflegende Ehefrau dies gesundheitlich nicht mehr gewährleisten könne. Mit Bescheid vom 17. Mai 2023 lehnte die Antragsgegnerin diesen Antrag ab, weil eine spezielle Krankenbeobachtung durch eine Pflegekraft von der Krankenkasse nur dann zu finanzieren sei, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit die sofortige pflegerische / ärztliche Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen täglich erforderlich sei und nur die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden könnten. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor. Hiergegen legte der Antragsteller Widerspruch ein, den die Antragsgegnerin nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes vom 10. August 2023 mit Widerspruchsbescheid vom 16. August 2023 zurückwies. Hiergegen erhob der Antragsteller Klage, welche beim Sozialgericht Neuruppin unter dem Aktenzeichen S 32 KR 88/23 anhängig ist.

 

Mit am 04. Januar 2024 beim Sozialgericht Neuruppin eingegangenem Schriftsatz hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, mit der er ursprünglich die Gewährung von Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 SGB V im Umfang von täglich 24 Stunden in Form eines Persönlichen Budgets in Höhe von monatlich 34.885,18 € begehrt hat.

 

Mit Beschluss vom 21. März 2024 hat das Sozialgericht Neuruppin die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit vom 22. März 2024 bis zum 15. April 2024, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, häusliche Krankenpflege in Form der Interventionsbereitschaft durch eine Fachkraft für 12 Stunden täglich an sieben Tagen pro Woche zu gewähren. Für den Fall der bis zum 15. April 2024 erfolgenden Vorlage einer Folgeverordnung für häusliche Krankenpflege hat das Sozialgericht die Antragsgegnerin auch für den Zeitraum vom 16. April 2024 bis zum 30. Juni 2024 im gleichen Umfang verpflichtet. Im Übrigen hat es den Eilantrag des Antragstellers abgelehnt.

 

Mit Schreiben vom 26. März 2024 hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller daraufhin mitgeteilt, dass sie aufgrund des gerichtlichen Beschlusses die Kosten einer notwendigen Interventionsbereitschaft vorläufig als Sachleistung für den Zeitraum vom 22. März 2024 bis vorerst zum 15. April 2024 übernehme, und bat ihn, sich an einen mit ihr vertraglich verbundenen Leistungserbringer zu wenden.

 

Mit am 22. April 2024 beim Sozialgericht Neuruppin eingegangenem Schriftsatz hat der Antragsteller Beschwerde gegen den ihm am 27. März 2024 zugestellten  Beschluss vom 21. März 2024 eingelegt, mit der er die Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses und (zuletzt sinngemäß) die Gewährung von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege, hilfsweise der häuslichen Krankenpflege, im Umfang von 12 Stunden täglich durch Übernahme bzw. Erstattung der Kosten für selbstbeschaffte, von ihm beschäftigte Pflegekräfte in Höhe von 13.313,43 € beansprucht. Die Antragsgegnerin hat gegen den ihr am 26. März 2024 zugestellten Beschluss mit am 22. April 2024 beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingegangenem Schriftsatz ebenfalls Beschwerde eingelegt.

 

Während des Beschwerdeverfahrens hat die den Antragsteller behandelnde Fachärztin für Neurologie ihm für den Zeitraum vom 23. Mai 2024 bis zum 22. Mai 2025 aufgrund der Diagnosen I 95.1 G (Orthostatische Hypotonie, gesichert), G 23.8 G (Sonstige näher bezeichnete degenerative Krankheiten der Basalganglien, gesichert), K 59.2 G (Neurogene Darmstörung, anderenorts nicht klassifiziert, gesichert) und G 20.10 G (Primäres Parkinson-Syndrom mit mäßiger bis schwerer Beeinträchtigung, gesichert) erstmals außerklinische Intensivpflege im Umfang von 24 Stunden täglich verordnet. Außerdem hat der Antragsteller mit Wirkung ab dem 24. Mai 2024, befristet bis zum 30. Juni 2024, einen Arbeitsvertrag mit einer selbstbeschafften Arbeitskraft über eine pflegerische Versorgung im Umfang von wöchentlich 40 Stunden mit einem Stundenlohn von 17,19 € brutto abgeschlossen.

 

Der Antragsteller trägt zur Begründung seiner Beschwerde vor, dass seine Ehefrau gesundheitlich nicht mehr imstande sei, seine Pflege vollumfänglich zu gewährleisten, und reicht Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für seine Ehefrau ein. Von den ihm durch die Antragsgegnerin benannten vertragsgebundenen Pflegediensten habe er nur Absagen erhalten. Die im erstinstanzlichen Beschluss zugesprochenen Sachleistungen seien daher nicht umsetzbar und seien auch in zeitlicher Hinsicht zu kurz zugesprochen worden. Er benötige nicht notwendigerweise eine Pflegefachkraft, sondern es reiche auch eine unqualifizierte Kraft aus, die er selbst aussuchen und einarbeiten könne. Er habe daher ab dem 24. Mai 2024 eine selbstbeschaffte Kraft (ungelernt, aber langjährig erfahren) zunächst befristet eingestellt. Diese habe sich nach den ersten Erfahrungen allerdings überfordert gezeigt. Es sei deshalb beabsichtigt, ein gemischtes Team einzustellen. Die hierfür erforderlichen Kosten würden sich ausweislich einer von ihm eingeholten Kalkulation auf monatlich 13.313,43 € belaufen. Diese Kosten könnten er und seine Ehefrau nicht selbst bestreiten. Hierzu reicht der Antragsteller Unterlagen zu seiner Einkommens- und Vermögenssituation ein.


Der Antragsteller hat zuletzt sinngemäß beantragt,

 

den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 21. März 2024 zu ändern und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorläufig die Kosten für Leistungen der außerklinischen Intensivpflege nach § 37c SGB V für selbstbeschaffte, im Arbeitgebermodell beschäftigte Pflegekräfte für 12 Stunden täglich in Höhe von monatlich 13.313,43 € zu erstatten;

 

hilfsweise den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 21. März 2024 zu ändern und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorläufig die Kosten für Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach  § 37 Abs. 2 SGB V als Interventionsbereitschaft für selbstbeschaffte, im Arbeitgebermodell beschäftigte Pflegekräfte für 12 Stunden täglich in Höhe von monatlich 13.313,43 € zu erstatten.

 

Die Antragsgegnerin beantragt,

 

den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 21. März 2024 aufzuheben und den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 04. Januar 2024 abzulehnen.

           

Die Antragsgegnerin trägt vor, dass die begehrte umfangreiche Krankenbeobachtung im Rahmen der häuslichen Krankenpflege nicht mehr genehmigungsfähig sei. Für Leistungen der außerklinischen Intensivpflege habe (bisher) die hierfür erforderliche ärztliche Verordnung eines qualifizierten Facharztes gefehlt. Auch die medizinische Notwendigkeit einer speziellen Krankenbeobachtung sei nicht glaubhaft gemacht worden, da keine unmittelbare Lebensgefahr vorliege, welche die ständige Anwesenheit einer Pflegefachkraft im Rahmen der außerklinischen Intensivpflege erfordere. Die Kosten für die vom Antragsteller zwischenzeitlich angestellte Nichtfachkraft könnten von der Antragsgegnerin nicht erstattet werden, da Leistungen der außerklinischen Intensivpflege den Einsatz eine Pflegefachkraft voraussetzten. Höhenmäßig würden die ausweislich der zuletzt eingereichten Kalkulation geltend gemachten Kosten in den Fällen, in denen die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen im Rahmen des Persönlichen Budgets erfüllt seien, akzeptiert werden.

 

Mit gerichtlichen Schreiben vom 04. Juni 2024 ist der Antragsgegnerin unter anderem aufgegeben worden, geeignete Pflegekräfte zu benennen, die zur Erbringung der vom Antragsteller begehrten Leistungen bereit und hierzu in der Lage wären. Eine solche Benennung von geeigneten Pflegekräften durch die Antragsgegnerin ist trotz Ablaufs der gesetzten Frist nicht erfolgt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf die beigezogene elektronische Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

 

 

 

II.

Die nach 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaften und form- und fristgerecht gemäß § 173 SGG eingelegten Beschwerden der Beteiligten sind zulässig. Nur die Beschwerde des Antragstellers ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen sind die Beschwerden unbegründet.

 

Der vorliegende Antrag auf Erlass einer einstweiligen (Regelungs-)Anordnung, mit dem der Antragsteller ausweislich des zuletzt im Beschwerdeverfahren sinngemäß gestellten Antrags die Gewährung von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege, hilfsweise der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 SGB V, im Umfang von 12 Stunden täglich durch Übernahme der Kosten für selbstbeschaffte, von ihm beschäftigte Pflegekräfte in Höhe von monatlich höchstens 13.313,43 € beansprucht, ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen, d.h. soweit der Antragsteller mit seinem Hauptantrag die Kostenerstattung auch über den 31. Dezember 2024 hinaus sowie für Leistungen der außerklinische Intensivpflege nach § 37c SGB V begehrt, ist der Antrag unbegründet. Nicht mehr zu entscheiden hatte der Senat, soweit ursprünglich Leistungen für mehr als 12 Stunden täglich bzw. im Rahmen eines persönlichen Budgets im Streit standen. Insoweit hat der Antragsteller durch die Formulierung seiner Anträge im Beschwerdeverfahren den Streitgegenstand beschränkt.

 

Unerheblich ist, dass das Sozialgericht – ausweislich der Antragsformulierung in seinem Beschluss – davon ausgegangen ist, der Antragsteller begehre nur Leistungen der „Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V“. Insoweit hat es versehentlich das Vorbringen des Antragstellers nicht vollständig ausgeschöpft. Zutreffend befasst es sich daher in seinen Ausführungen zur Begründetheit des Eilantrags auch mit einem möglichen Anspruch nach § 37c SGB V, hat somit konkludent auch hierüber entschieden.

 

Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind gemäß § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sachlage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - juris Rn. 26). Abzuwägen sind dabei einerseits die Folgen, die entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch besteht, und auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erließe, sich aber im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch nicht besteht (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage, § 86b Rn. 29a).

 

Gemessen an diesem Maßstäben hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch (dazu 1.) und einen Anordnungsgrund (dazu 2.) glaubhaft gemacht, soweit er für den Zeitraum vom 24. Mai 2024 bis zum 31. Dezember 2024 die vorläufige Gewährung von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege durch Übernahme von Kosten für selbstbeschaffte, von ihm beschäftigte Pflegekräfte in Höhe von monatlich höchstens 13.313,43 € beansprucht. Im Übrigen liegen die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nicht vor.

 

1.

Rechtgrundlage des geltend gemachten Anspruchs auf Erstattung von Kosten für Leistungen der außerklinischen Intensivpflege ist § 37c Abs. 4 S. 1 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V). Hiernach sind Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte Pflegefachkraft in angemessener Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse keine qualifizierte Pflegefachkraft für die außerklinische Intensivpflege stellen kann.

 

a) Für den Zeitraum bis einschließlich zum 23. Mai 2024 liegen diese Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nicht vor. Dies ergibt sich schon allein daraus, dass der Antragsteller bis einschließlich zum 23. Mai 2024 keine Pflegekräfte selbst beschäftigt oder beauftragt hat, so dass ihm für diesem Zeitraum auch keine Kosten entstanden sein können, welche die Antragsgegnerin erstatten könnte.

 

b) Für den Zeitraum vom 24. Mai 2024 bis zum 31. Dezember 2024 ist das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch aus § 37c Abs. 4 S. 1 SGB V hingegen ausreichend glaubhaft gemacht worden.

 

Der Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert, so dass es sich bei ihm um einen Versicherten im Sinne des § 37c Abs. 4 S. 1 SGB V handelt.

 

Der für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 37c Abs. 4 S. 1 SGB V erforderliche Sachleistungsanspruch auf Leistungen der außerklinischen Intensivpflege ist ebenfalls ausreichend glaubhaft gemacht worden. Rechtsgrundlage des Sachleistungsanspruchs auf Leistungen der außerklinischen Intensivpflege ist § 37c Abs. 1 S. 1 bis 3, Abs. 2 S. 1 SGB V i.V.m. der nach §§ 37c Abs. 1 S. 8, 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 SGB V erlassenen Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von außerklinischer Intensivpflege (AKI-RL).

 

Nach § 37c Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege Anspruch auf außerklinische Intensivpflege. Ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege liegt vor, wenn die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft oder ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft erforderlich ist (§ 37c Abs. 1 S. 2 SGB V). Der Anspruch auf außerklinische Intensivpflege umfasst u.a. die medizinische Behandlungspflege, die zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (§ 37c Abs. 1 S. 3 SGB V). Die Leistung bedarf der Verordnung durch eine Vertragsärztin oder einen Vertragsarzt, die oder der für die Versorgung dieser Versicherten besonderes qualifiziert ist (§ 37c Abs. 1 S. 4 SGB V). Die verordnende Vertragsärztin oder der verordnende Vertragsarzt hat das Therapieziel mit dem Versicherten zu erörtern und individuell festzustellen, bei Bedarf unter Einbeziehung palliativmedizinischer Fachkompetenz (§ 37c Abs. 1 S. 5 SGB V).

 

Die für einen Anspruch auf Leistungen der außerklinischen Intensivpflege erforderliche und während des erstinstanzlichen Verfahrens noch fehlende  Verordnung durch eine besonderes qualifizierte Vertragsärztin liegt aufgrund der im Verlauf des Beschwerdeverfahrens eingereichten Verordnung der behandelnden Fachärztin für Neurologie, mit der dem Antragsteller für den Zeitraum vom 23. Mai 2024 bis zum 22. Mai 2025 nunmehr außerklinische Intensivpflege im Umfang von 24 Stunden verordnet worden ist, zwischenzeitlich vor. Bei der den Antragsteller behandelnden Fachärztin für Neurologie handelt es sich um eine besonders qualifizierte Vertragsärztin im Sinne des § 37c Abs. 1 S. 4 SGB V i.V.m. § 9 Abs. 2 AKI-RL, weil sie aufgrund dieser fachärztlichen Qualifikation für die Behandlung der orthostatischen Hypotonie – als der die außerklinische Intensivpflege auslösende Erkrankung – spezialisiert ist (vgl. „Synkopen – Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie“, u.a. S. 17f, 33f; veröffentlicht unter https://register.awmf.org/assets/guidelines/030-072l_S1_Synkopen_2020-04.pdf).

 

Die inhaltlichen Anforderungen an die ärztliche Verordnung nach § 37c Abs. 1 S. 5 SGB V werden bei der im einstweiligen Rechtschutzverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung mit der im Verlauf des Beschwerdeverfahrens eingereichten Verordnung der behandelnden Fachärztin für Neurologie ebenfalls erfüllt.

 

Soweit zwischen den Beteiligten in Streit steht, ob bei dem Antragsteller ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege im Sinne des § 37c Abs. 1 S. 2 SGB V, insbesondere die hierfür notwenige Erforderlichkeit der ständigen Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft vorliegt, lässt sich der Sachverhalt im Rahmen des vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht abschließend klären. Der Senat erachtet es jedoch für überwiegend wahrscheinlich, dass die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft erforderlich ist. Hierfür spricht vor allem die zwischenzeitlich eingereichte Verordnung der behandelnden Fachärztin für Neurologie, mit der dem Antragsteller für den Zeitraum vom 23. Mai 2024 bis zum 22. Mai 2025 die durch Pflegefachkräfte zu erbringende außerklinische Intensivpflege im Umfang von 24 Stunden verordnet worden ist. Ebenfalls hierfür spricht der weitere, von der Antragsgegnerin nicht angezweifelte Vortrag des Antragstellers, wonach sich die ungelernte Kraft nach ersten Erfahrungen überfordert gezeigt habe. Auch das Krankheitsbild des Antragstellers mit der ständigen Gefahr von Bewusstseinsverlusten und der hiermit verbundenen erheblichen Sturz- und Verletzungsgefahr spricht nach Auffassung des Senats für die Erforderlichkeit der ständigen Anwesenheit einer Pflegefachkraft. Diese nach Auffassung des Senats hier vorliegende überwiegende Wahrscheinlichkeit ist für die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren erforderliche Glaubhaftmachung ausreichend.

 

Selbst wenn man die Erforderlichkeit der ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft nicht für überwiegend wahrscheinlich hielte, wäre nach Auffassung des Senats jedenfalls „ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft erforderlich“ i.S.v. § 37c Abs. 1 S. 2, 2. Alt. SGB V glaubhaft gemacht. Eine solche Vergleichbarkeit ist gemäß § 4 Abs. 1, 2. Alt. AKI-RL gegeben, wenn – wie hier – „eine sofortige ärztliche oder pflegerische Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich unvorhersehbar erforderlich ist, wobei die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden können.“

 

Soweit wegen des ursprünglichen Vortrags des Antragstellers, wonach auch eine unqualifizierte einzuarbeitende Kraft seine Versorgung übernehmen könne, Zweifel an der Erforderlichkeit der ständigen Anwesenheit einer Pflegefachkraft verbleiben, muss eine weitere Aufklärung des diesbezüglichen Sachverhalts dem bereits anhängigen gerichtlichen Hauptsacheverfahrens vorbehalten bleiben. Sollte sich hierbei herausstellen, dass die ständige Anwesenheit einer Pflegefachkraft nicht erforderlich ist, dürfte allerdings ein Anspruch auf Leistungen der häusliche Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V in Betracht kommen. Dem stünde nicht entgegen, dass die Anlage zur Richtlinie des Gemeinsamen Bundeausschusses über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege (HKP-RL) – in ihrer seit dem 31. Oktober 2023 geltenden Fassung – die Krankenbeobachtung nicht mehr als Leistung nach § 37 SGB V vorsieht. Die HKP-RL umschreibt die im Rahmen von § 37 SGB V erbringbaren Leistungen nicht abschließend (§ 1 Abs. 4 Satz 3 HKP-RL, eingefügt als Reaktion auf BSG, Urteil vom 17.03.2005 - B 3 KR 35/04 R -, juris). Daher kommt nach wie vor auch eine krankheitsspezifische Beaufsichtigung als Leistung der Behandlungspflege, etwa wenn die Beobachtung einer Dauererkrankung mit unvorhersehbar auftretenden interventionsbedürftigen Krankheitszuständen, im Umfang von bis zu 24 Stunden täglich in Betracht (BeckOK SozR/Knispel, Stand: 1.3.2024, SGB V § 37 Rn. 24; SG Halle, Urteil vom 06.09.2023 - S 30 KR 133/21 -, unveröffentlicht).

 

Der Antragsteller hat auch ausreichend glaubhaft gemacht, dass die Antragsgegnerin keine qualifizierte Pflegefachkraft für die außerklinische Intensivpflege stellen kann. Dies ergibt sich zunächst aus dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Antragstellers, wonach er von den ihm durch die Antragsgegnerin benannten vertragsgebundenen Pflegediensten nur Absagen erhalten habe. Ferner hat die Antragsgegnerin auch auf die gerichtliche Aufforderung vom 04. Juni 2024 keine geeigneten Pflegekräfte benannt, welche zur Erbringung der begehrten Leistungen bereit und hierzu in der Lage wären.

 

Dem Kostenerstattungsanspruch aus § 37c Abs. 4 S. 1 SGB V steht nicht entgegen, dass Versicherte im Rahmen der Selbstbeschaffung von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege grundsätzlich auf die Inanspruchnahme von Pflegediensten beschränkt sind, mit denen die Krankenkassen Verträge nach § 132l Abs. 5 SGB V geschlossen haben. Denn dies schließt die Organisation der außerklinischen Intensivpflege durch die Versicherten mit von ihnen selbst beschäftigten Pflegekräften (Arbeitgebermodell) jedenfalls dann nicht aus, wenn die außerklinische Intensivpflege anders nicht sicherzustellen ist (vgl. zur häuslichen Krankenpflege: BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 3 KR 15/20 R - juris Rn. 12 ff.). Ein solcher Fall ist angesichts der Tatsache, dass die Antragsgegnerin auf die gerichtliche Aufforderung vom 04. Juni 2024 keine geeigneten Pflegekräfte benannt hat, im vorliegenden Fall gegeben.

 

Soweit die Antragsgegnerin einwendet, dass es sich bei der vom Antragsteller mit Wirkung zum 24. Mai 2024 eingestellten Kraft nicht um eine Pflegefachkraft handelt, steht dies einem Kostenerstattungsanspruch aus § 37c Abs. 4 S. 1 SGB V auch für diese Nichtfachkraft im vorliegenden Einzelfall ebenfalls nicht entgegen. Denn die Krankenkasse kann die Kostenerstattung nicht mit der Begründung verweigern, der Versicherte habe sich keine geeignete Pflegefachkraft gesucht, wenn sie die Leistung, wie im hier vorliegenden Fall, selbst nicht stellen kann (Padé in jurisPK-SGB V, 4. Auflage, Stand: 20.12.2022, § 37c Rn. 74).

 

Bezüglich der Anspruchshöhe geht der Senat bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung davon aus, dass die zuletzt vom Antragsteller geltend gemachten Kosten in Höhe von monatlich höchstens 13.313,43 € angemessen im Sinne des § 37c Abs. 4. S. 1 SGB V sind. Schließlich trägt die Antragsgegnerin mit dem zuletzt eingegangenen Schriftsatz vom 19. Juni 2024 hierzu selbst vor, dass die Kosten nach der eingereichten Kalkulation höhenmäßig akzeptiert würden, sofern die weiteren Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung vorlägen. Vom Anspruch des Antragstellers umfasst sind daher auch die ihm im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Arbeitskräften entstandenen Kosten, etwa für ein Lohnbüro oder für die Inanspruchnahme von Dienstleistungen des Vereins, der ihn bei der Suche nach geeigneten Arbeitskräften sowie der Kostenkalkulation unterstützt (hat). Die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Kostenerstattung erstreckt sich im Übrigen grundsätzlich auf die gesamten dem Antragsteller tatsächlich entstandenen Kosten, beschränkt auf den aus dem Tenor ersichtlichen monatlichen Höchstbetrag. Soweit die Antragsgegnerin gegenüber der eingereichten Kostenkalkulation einwendet, dass der darin zugrunde gelegte Stundensatz für zwei Hilfskräfte (Pflegehelfer/innen nach Entgeltgruppe P 5 Stufe 4 der Anlage 1 [Entgeltordnung] Teil IV Nr. 25 des Tarifvertrags über die Entgeltordnung des Bundes) eine Erfahrung von sieben Jahren im Pflegebereich voraussetze und dies nachzuweisen sei, kann dies nach Auffassung des Senats eine Begrenzung der Kostenerstattung zumindest vorläufig nicht rechtfertigen. Der allgemein bekannte Mangel an Pflegekräften – belegt u.a. durch die fehlende Benennung geeigneter Pflegedienste durch die Antragsgegnerin –  kann es erforderlich machen, diese auch übertariflich zu vergüten, wenn anders schwerwiegende gesundheitliche Gefahren – wie sie dem Antragsteller drohen – nicht abgewendet werden können. Entscheidend ist, dass der kalkulierte monatliche Gesamtbetrag für mehrere Pflegekräfte unterschiedlicher Qualifikation i.H.v. 13.313,43 € nicht überschritten wird.

 

2.

Der Antragsteller hat für den Zeitraum vom 24. Mai 2024 bis zum 31. Dezember 2024 auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, das heißt die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, glaubhaft gemacht. Denn unter Berücksichtigung der Ziele der Leistungen der außerklinischen Intensivpflege, die unter anderem darin bestehen lebensbedrohliche Komplikationen zu vermeiden (vgl. § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 AKI-RL), erscheint es ihm nicht zumutbar, den Ausgang des beim Sozialgericht Neuruppin anhängigen gerichtlichen Hauptsachverfahrens abzuwarten. Der Antragsteller hat durch die eingereichten Unterlagen zu seiner Einkommens- und Vermögenssituation zudem ausreichend glaubhaft gemacht, dass er die erforderlichen Kosten nicht einstweilen aus seinem Einkommen oder Vermögen aufbringen kann.

 

Soweit der Antragsteller mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die vorläufige Gewährung von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege durch Übernahme von Kosten für selbstbeschaffte, von ihm beschäftigte Pflegekräfte ohne konkrete zeitliche Begrenzung für die Zukunft, also auch für Zeiträume ab dem 01. Januar 2025 begehrt, ist ein Anordnungsgrund zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings nicht glaubhaft gemacht worden. Denn der Leistungszeitraum der einstweiligen Anordnung ist entsprechend dem vorläufigen Charakter des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens regelmäßig konkret zeitlich zu begrenzen, wobei der Senat  bei der vorgenommenen zeitlichen Begrenzung das ihm nach § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO zustehende Ermessen dahingehend ausgeübt hat, dass der Zeitraum der getroffenen einstweiligen Anordnung auf den Zeitraum bis zum 31. Dezember 2024 begrenzt wird. Schließlich kann erwartet werden, dass bis dahin eine weitere Klärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts, insbesondere im Hinblick auf die Frage der Erforderlichkeit einer Pflegefachkraft, erfolgt sein wird.

 

3.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt, dass der einstweilige Rechtsschutzantrag, mit dem ursprünglich Kosten in 34.885,18 € geltend gemacht worden sind, teilweise Erfolg hatte.

 

Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundes­sozialgericht angefochten werden

 

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