L 5 KR 3364/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 16 KR 4587/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KR 3364/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 27.09.2021 teilweise aufgehoben. Die Beklagte wird unter
Abänderung des Bescheides vom 05.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2020 verurteilt, den Kläger aufgrund des Urteils des
Sozialgerichts Freiburg vom 26.11.1996 (S 5 Kr 2519/94) mit ET-18-OCH3 künftig nach Vorlage entsprechender Verordnungen zu versorgen.

Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

Die Beklagte hat 3/4 der außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.



Tatbestand

Streitig ist die Erstattung für ab 01.04.2021 entstandene Kosten für ET-18-OCH3 sowie die zukünftige Versorgung mit dem Rezepturarzneimittel ET-18-OCH3. Bei ET-18-OCH3 handelt es sich ausweislich des sozialmedizinischen Gutachtens des W1 (s.u.) nach den Angaben der Firma B1, die die Substanz vertrieb, um ein Ätherlipidanalogon, das eine selektive Apoptose in Tumorzellen induziert, ohne normale Zellen anzugreifen.

Der 1954 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er leidet an Multipler Sklerose (MS) mit schubförmigem Verlauf. Seit Oktober 1994 wurde der Kläger mit ET-18-OCH3 behandelt. Die Versorgung erfolgte aufgrund eines Urteils des Sozialgerichts Freiburg (SG) vom 26.11.1996 (S 5 Kr 2519/94), mit dem die Beklagte verurteilt wurde, „die dem Kläger seit Oktober 1994 für die Beschaffung des jeweils von F1 verordneten Medikaments ET-18-OCH3 entstandenen und bei weiterer Notwendigkeit der Verordnung noch entstehenden Kosten unter Berücksichtigung der gesetzlich vorgesehenen Zuzahlungen zu erstatten“. Letztmals genehmigte die Beklagte mit Bescheid vom 08.01.2020 die Übernahme der Kosten für ET-18-OCH3 bis 30.06.2020. Da sich in den letzten Jahren viel auf dem Arzneimittelmarkt verändert habe, bat sie bei weiterer Antragstellung um Einreichung aktueller Arztberichte, um die weitere Kostenübernahme prüfen zu können.

Mit Schreiben vom 18.06.2020 beantragte der Kläger unter Hinweis auf das Urteil des SG vom 26.11.1996 bei der Beklagten die Kostenübernahme für ET-18-OCH3 über den 30.06.2020 hinaus. Zur Begründung führte er aus, für ihn stehe bis heute keine alternative kausal wirkende und nebenwirkungsfreie Therapie zur Verfügung. Mit ET-18-OCH3 führe er ein normales Leben ohne Verschlechterung seiner Erkrankung. Dem Antrag waren ein Arztbericht des den Kläger behandelnden D1 vom 16.04.2020 sowie eine ärztliche Verordnung des D1 vom 18.06.2020 über 180 Kapseln ET-18-OCH3 beigefügt.

Die Beklagte beauftragte mit Schreiben vom 22.06.2020 den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Erstattung eines Gutachtens nach Aktenlage. Ebenfalls mit Schreiben vom 22.06.2020 informierte die Beklagte den Kläger über die Notwendigkeit der Einholung eines medizinischen Gutachtens und die Weiterleitung an den MDK. Der Kläger werde informiert, sobald das Ergebnis des Gutachtens vorliege. Der MDK forderte bei den den Kläger behandelnden Ärzten weitere Unterlagen an. Nach Eingang aller Unterlagen am 13.07.2020 kam W1 vom MDK in seinem Gutachten vom 17.07.2020 zu dem Ergebnis, dass die Verordnung des Rezepturarzneimittels ET-18-OCH3 eine „neue Therapiemethode“ darstelle, für die es keine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) gebe. Die Ausnahmen, nach denen trotz fehlender Empfehlung des GBA eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung bestehe, lägen nicht vor. Bei der schubförmigen MS handele es sich auch nicht um eine tödlich verlaufende Erkrankung i.S.d. § 2 Abs. 1a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Es seien mittlerweile auch zahlreiche Arzneimittel zur Therapie der MS zugelassen worden, die damals noch nicht zur Verfügung gestanden hätten, sollte es sich tatsächlich um eine MS handeln. Zudem fehlten klinische Studien, die die Wirksamkeit der Therapie bestätigten. Das Gutachten ging bei der Beklagten am 20.07.2020 per Fax ein. Unter dem 20.07.2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass eine Entscheidung innerhalb der Fünf-Wochenfrist wegen der Anforderung weiterer ärztlicher Unterlagen durch den MDK nicht möglich sei, aber eine Entscheidung spätestens bis zum 24.08.2020 erfolgen werde. Die bereits vom MDK beim den Kläger behandelnden Arzt angeforderten Unterlagen könnten noch bis zum 03.08.2020 eingereicht werden.

Mit Bescheid vom 05.08.2020 bewilligte die Beklagte die Kostenübernahme für ET-18-OCH3 bis zum 31.01.2021. Leistungen über den 31.01.2021 hinaus lehnte die Beklagte mit (weiterem) Bescheid vom 05.08.2020 ab. Bei dem beantragten Rezepturarzneimittel, das zu den sogenannten „Neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden“ (NUB) gehöre, sei eine Kostenübernahme nur möglich, wenn eine lebensbedrohliche oder vergleichbar schwerwiegende Erkrankung vorliege, eine Behandlungsalternative nicht zur Verfügung stehe und wissenschaftliche Studien vorlägen, die die Wirksamkeit belegten. Diese Voraussetzungen seien unter Verweis auf das Gutachten des MDK nicht mehr gegeben. Auch liege eine nach § 135 SGB V erforderliche Empfehlung des GBA nicht vor, weswegen eine Kostenübernahme ausscheide. Außerdem könne nicht nachvollzogen werden, dass sämtliche Standardtherapien (zahlreiche Fertigarzneimittel) ausgeschöpft worden seien.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2020 als unbegründet zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 28.12.2020 Klage beim SG erhoben und am 04.01.2021 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt (S 16 KR 28/21). Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, § 135 Abs. 1 SGB V sei für das betreffende Präparat nicht einschlägig. Diese Norm betreffe ausschließlich neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Im vorliegenden Fall werde jedoch die Rezeptur bei ihm bereits seit 26 Jahren erfolgreich angewendet. Es handele sich nicht um eine gänzlich neue Behandlungsmethode. Zudem verpflichte das gegen die Beklagte ergangene rechtskräftige Urteil des SG vom 26.11.1996 (S 5 Kr 2519/94) die Beklagte, die Kosten des Medikaments auch zukünftig zu erstatten. Die medizinische Tatsachengrundlage habe sich seitdem nicht verändert. Es bestehe nach wie vor keine Behandlungsmöglichkeit, die kausal wirke. Seit der Einnahme der Rezeptur sei sein Gesundheitszustand stabil. Die plötzliche Veränderung der Medikation stelle für ihn ein unzumutbares Experiment mit nicht absehbaren gesundheitlichen Folgen dar. Des Weiteren seien sämtliche Alternativpräparate in der Anschaffung deutlich kostenintensiver als die bisherige Rezeptur. Zusätzlich erfülle seine chronische schwere Erkrankung die Kriterien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). MS sei eine lebensbedrohliche, zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung. Eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung stehe nicht zur Verfügung. Die von der Beklagten angeführten Präparate wirkten nur dämpfend auf die Symptome. Durch die jahrzehntelange Einnahme sei auch das Kriterium einer auf Indizien gestützten spürbaren positiven Entwicklung auf den Krankheitsverlauf nachgewiesen.

Das SG hat den Eilantrag des Klägers mit Beschluss vom 29.01.2021 mangels Anordnungsanspruch als unbegründet abgelehnt. Der Anspruch eines Versicherten auf Behandlung nach § 27 SGB V und hier auf Versorgung mit Arzneimitteln (§ 31 SGB V) unterliege den sich aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasse folglich nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich seien und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse
entsprächen. Dies sei bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V nur dann der Fall, wenn der GBA in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode abgegeben habe. Durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 i.V.m. § 135 Abs. 1 SGB V werde nämlich nicht nur geregelt, unter welchen Voraussetzungen die zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringer (Ärzte, Zahnärzte u.s.w.) neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der Krankenkassen erbringen und abrechnen dürften. Vielmehr werde durch diese Richtlinien auch der Umfang der den Versicherten von den Krankenkassen geschuldeten ambulanten Leistungen verbindlich festgelegt (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 05.05.2009 – B 1 KR 15/08 R –, in juris). Dem Anspruch auf weitere Versorgung mit einem Arzneimittel mit dem Wirkstoff ET-18-OCH3 stehe hier § 135 Abs. 1 SGB V entgegen. Dieser regele, dass neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden dürften, wenn der GBA hierfür eine Empfehlung abgegeben habe. Untersuchungs- und Behandlungsmethoden seien das diagnostische und therapeutische Vorgehen im Rahmen der ärztlichen, zahnärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung. Hierzu gehöre zwar nicht die Verordnung von Fertigarzneimitteln; für deren Verordnungsfähigkeit zu Lasten der Krankenkassen fänden grundsätzlich nur die vorrangigen Regelungen des Arzneimittelrechts Anwendung (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 19.03.2002 – B 1 KR 37/00 R –, in juris; speziell zu dem Fertigarzneimittel Edelfosin nach versagter Zulassung BSG, Urteil vom 08.03.1995 – 1 RK 8/94 –, in juris). § 135 SGB V erfasse dagegen Pharmakotherapien, die wegen der Verwendung von Rezepturarzneimitteln nicht dem Zulassungsrecht nach dem Arzneimittelrecht unterlägen. Bei dem hier streitigen Arzneimittel handele es sich unstreitig (anders als das damit verwandte Edelfosin) um ein Rezepturarzneimittel, so dass § 135 Abs. 1 SGB V anzuwenden sei. Eine positive Empfehlung des GBA existiere aber ebenso unstreitig nicht. Ebenso bestehe kein Streit darüber, dass es sich bei MS nicht um eine seltene Erkrankung handele und dass – bezogen auf eine Verwendung des Arzneimittels zur Therapie dieser Erkrankung – kein Systemversagen vorliege. Dies ergebe sich aus der Stellungnahme des MDK vom 17.07.2020. Die Verwendung dieses Arzneimittels stelle auch eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode dar. Untersuchungs- und Behandlungsmethoden seien in einem formellen Sinn neue Methoden, wenn ihre Leistungen zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht als abrechnungsfähige Leistungen im Einheitlichen Bewertungsmaßstab für die vertragsärztliche Versorgung (EBM) enthalten seien oder wenn ihre Leistungen zwar im EBM aufgeführt seien, deren Indikationen oder Art der Erbringung aber wesentliche Änderungen oder Erweiterungen oder neuartige Kombinationen erfahren hätten. Nur hieran knüpfe der Begriff „neu“ i. S. d. § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V an, nicht aber daran, ob die Methoden wirklich, also auch in einem materiellen Sinne, neu seien. Erfasst würden deshalb auch Methoden, die bisher nur stationär, nicht aber ambulant hätten erbracht werden können, sogar in der Sache alte Methoden, wie z. B. traditionelle Akupunktur. Entscheidend sei mithin allein, ob die Methoden schon bisher für den Einsatz in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung anerkannt gewesen seien oder nicht bzw. ob sie Bestandteil des vertragsärztlichen Leistungsspektrums seien. Dies sei für die Behandlung mit den begehrten, speziell hergestellten Arzneimitteln jedoch nicht der Fall. Der Hinweis des Antragstellers, dass die Rezeptur nach dem Urteil des SG bereits seit 26 Jahren bei ihm erfolgreich angewendet werde, ändere nichts daran, dass die Methode nicht allgemein anerkannt sei. Dies ergebe sich auch aus der gutachterlichen Stellungnahme des MDK vom 17.07.2020. Ein Anordnungsanspruch ergebe sich auch nicht aus dem Urteil des SG aus dem Jahr 1996. Denn dieses schreibe keinen ungeachtet aller zwischenzeitlicher Entwicklungen bestehenden zeitlich unbegrenzten Anspruch auf eine Therapie mit dem begehrten Arzneimittel fest. Dies ergebe sich auch aus dem Tenor des Urteils, in dem eine Einschränkung bezüglich „weiterer Notwendigkeit der Verordnung“ enthalten sei. Bei der Notwendigkeit einer Verordnung seien auch der jeweilige medizinische Stand bzw. die rechtlichen Vorgaben, hier insbesondere die Wirtschaftlichkeit und damit auch die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Therapie zu beachten. Die Entscheidung habe sich zudem nur auf eine damalige konkrete Verordnung bezogen. Auch der Umstand, dass die Beklagte ausgehend von dem Urteil die begehrte Therapie viele Jahre übernommen habe, begründe keinen Anspruch auf eine weitere Fortsetzung dieser Therapie. Ein Anspruch des Antragstellers bestehe auch nicht nach den vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entwickelten und mittlerweile in § 2 Abs. 1a SGB V normierten besonderen Anforderungen an das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehe (unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005 – 1 BvR 347/98 –, BVerfGE 115, 25-51 –, in juris). Diese Grundsätze gälten sinngemäß auch für die Versorgung mit Arzneimitteln (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 04.04.2006 – B 1 KR 7/05 R –, in juris). Die qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen Krankheit lägen bei einer bestehenden MS in sekundär-progredienter Verlaufsform trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Krankheit nicht vor (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 27.03.2007 – B 1 KR 17/06 R –, in juris). Begründet werde dies damit, dass eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur gerechtfertigt sei, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliege, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch sei. Das bedeute, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen müsse, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen werde (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 17.03.2007 – a.a.O.). Dies sei bei MS jedenfalls bei einem klinisch stabilen Zustand nicht der Fall (unter Hinweis auf LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.11.2014 – L 11 KR 3826/14 ER-B –, in juris). Das Gericht stütze sich auch hier auf die Stellungnahme des MDK, der auf den blanden Verlauf der MS hinweise. Der MDK weise in seiner Stellungnahme zudem auf die AWMF-Leitlinie zur Therapie und Diagnose der MS hin. Diese sehe – soweit ersichtlich – keine Therapie mit dem begehrten Arzneimittel vor. Auch ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3a SGB V komme nach summarischer Prüfung nicht in Betracht. Denn die Antragsgegnerin habe dem Antragsteller vor Ablauf der Frist unter Angabe eines tragfähigen Grundes und der voraussichtlichen Dauer der Fristüberschreitung mitgeteilt, dass eine Entscheidung innerhalb der Fünf-Wochen-Frist nicht möglich sei. Die Mitteilung sei am 20.07.2020 und damit vor Ablauf der Fünf-Wochen-Frist zur Bekanntgabe am 23.07.2020 (§ 26 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>) erfolgt. Es habe – nach summarischer Prüfung – auch ein hinreichender Grund vorgelegen. Hinreichend sei ein Grund, bei dem die Sanktion nach dem Maßstab der Gesetzesziele unter Berücksichtigung der Interessen der Versicherten und der Krankenkasse unangemessen sei. Daher seien jeweils die Einzelfallumstände zu berücksichtigen. Hinreichend könne insbesondere die im Rahmen der Amtsermittlung (§ 20 SGB X) gebotene Einholung von weiteren Informationen beim Antragsteller oder Dritten sein, um abschließend über den Antrag entscheiden zu können (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 07.11.2017 – B 1 KR 2/17 R –, in juris). Die Antragsgegnerin habe sich in ihrem Schreiben auf die im Rahmen der Amtsermittlung (§ 20 SGB X) gebotene Einholung von weiteren Informationen bei den behandelnden Ärzten des Antragstellers gestützt. Aus dem Gutachten des MDK gehe hervor, dass diese Unterlagen (erst) am 13.07.2020 beim MDK vollständig eingegangen seien (Bl. 31 d. Verwaltungsakte: „Telefonat mit D1 vom 08.07.20“, „Schreiben mit Epikrise D1 vom 12.07.20“). Zwar trage damit der im Schreiben an den Antragsteller angegebene Grund die Entscheidung der Antragsgegnerin nicht mehr ohne Weiteres, ihr sei jedoch zur Prüfung des Gutachtens als Grundlage ihrer Entscheidung und Bekanntgabe der Entscheidung an den Kläger eine angemessene Frist von mehr als drei Tagen einzuräumen. Die Verzögerung der abschließenden Entscheidung stelle sich hier als Folge des angegebenen, hinreichenden Grundes für die Verzögerung dar. Damit hätten die Voraussetzungen für eine Fristverlängerung nach § 13 Abs. 3a Satz 5 SGB V vorgelegen. Bei einem fehlenden Anordnungsanspruch sei auch kein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin habe die Versorgung mit der Therapie auch nicht ohne Weiteres beendet, sondern habe dies mit dem Bescheid vom 05.08.2020 und damit mit einem zeitlichen Vorlauf für den Antragsteller und seinen behandelnden Arzt angekündigt.

Die dagegen zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegte Beschwerde des Klägers (L 5 KR 803/21 ER-B) hat der erkennende Senat mit Beschluss vom 12.04.2021 mangels Anordnungsgrund zurückgewiesen. Für den Senat sei eine Dringlichkeit in diesem Sinne nicht glaubhaft gemacht. Der Senat verkenne hierbei nicht, dass der Antragsteller an der schwerwiegenden Erkrankung einer MS leide und die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 05.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.11.2020 verfügt habe, dass die Übernahme der Kosten für ET-18-OCH3 nur noch bis zum 31.01.2021 erfolge, indes sei es nicht überwiegend wahrscheinlich, dass dem Antragsteller ein Zuwarten bis zu einer Entscheidung des SG im anhängigen Verfahren der Hauptsache (S 16 KR 4587/20) nicht zumutbar sei. Das Verhalten des Antragstellers im Rahmen der Beschwerde belege, dass das Verfahren nicht eilbedürftig sei. Der Anordnungsgrund sei glaubhaft zu machen. Daran fehle es hier. Der Beschluss des SG vom 29.01.2021 sei der Bevollmächtigten des Antragstellers am 01.02.2021 zugestellt worden. Die Beschwerde sei sodann, obwohl die Übernahme der Kosten für das Medikament nur bis zum 31.01.2021 erfolgt sei, erst am 01.03.2021, dem letzten Tag der Beschwerdefrist ohne Begründung eingelegt worden. Die umgehende Nachreichung einer ausführlichen Beschwerdebegründung sei angekündigt worden. Mit gerichtlicher
Verfügung vom 04.03.2021 sei der Bevollmächtigten des Antragstellers aufgegeben worden, die Begründung binnen zwei Wochen vorzulegen. Nachdem bis zum 22.03.2021 keine Begründung eingegangen gewesen sei, sei die Bevollmächtigte des Antragstellers mehrmals an die Vorlage erinnert worden. Die Beschwerde habe sie jedoch nicht begründet. Dieses Verhalten lasse nicht erkennen, dass dem Antragsteller, zumal anderweitige Therapieoptionen bestünden, die von der Antragsgegnerin übernommen würden, und die Beendigung der Übernahme der Kosten für das begehrte Medikament zum 31.01.2021 bereits mit Beschied vom 05.08.2020 angekündigt worden sei, derzeit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile drohten, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.

Ergänzend hat der Kläger zur Begründung seiner Klage auf seine im Beschwerdeverfahren verspätet vorgelegte Begründung vom 15.04.2021 verwiesen und unter Verweis auf ärztliche Atteste von D1 vom 16.07.2021 und 16.08.2021 sowie ein ärztliches Attest des S1 vom 19.08.2010 (über eine Behandlung des Bruders des Klägers) und einen Arztbrief des T1, D2 vom 15.02.2016 (über eine Behandlung der Schwester des Klägers) vorgetragen, dass er das bisher verwendete Medikament abgesetzt habe, um ein anderes mit temporärer Zulassung (Schriftsatz vom 23.07.2021) bzw. mit regulärer Zulassung (Schriftsatz vom 04.08.2021) bzw. das weitere Medikament Levodopa/Benserazied (Schriftsatz vom 30.08.2021) auszuprobieren. Daraufhin habe sich sein Gesundheitszustand verschlechtert. Bei seinen beiden ebenfalls an MS erkrankten Geschwistern komme das begehrte Rezepturarzneimittel ebenfalls erfolgreich zum Einsatz. Nach einer Wiederaufnahme der Therapie mit dem begehrten Medikament – auf zunächst eigene Kosten – seien die Beschwerden und Symptome fast vollständig verschwunden.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat unter Bezugnahme auf die Ausführungen des MDK vom 17.07.2020 darauf hingewiesen, dass es sich bei der hier streitigen Therapie um eine experimentelle Behandlung handle. Wissenschaftliche, evidenzbasierte Studien, die die Wirksamkeit des Rezepturarzneimittels ET-18-OCH3 belegen könnten, existierten nicht. Keiner der von der Rechtsprechung entwickelten Ausnahmetatbestände sei zu bejahen. Eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse lasse sich auch nicht damit begründen, dass sich die Therapie im konkreten Einzelfall als erfolgreich erwiesen habe. Zur Behandlung der MS stünden zahlreiche etablierte zugelassene und innovative Therapieoptionen für die jeweilige Krankheitssituation zum leitliniengerechten Einsatz zur Verfügung.

Mit Gerichtsbescheid vom 27.09.2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Die zulässige Klage sei unbegründet. Der Bescheid vom 05.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.11.2020 sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Aus den Gründen des einen Anordnungsanspruch ablehnenden Eilbeschlusses im Verfahren S 16 KR 28/21 ER habe die Klage keine Aussicht auf Erfolg. Zur Vermeidung von Wiederholungen werde auf diese Gründe umfassend Bezug genommen. Das weitere Vorbringen des Klägers setze sich mit den Entscheidungsgründen des Eilbeschlusses nicht auseinander und sei nicht geeignet, deren Richtigkeit in Zweifel zu ziehen.

Gegen den ihm am 29.09.2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 29.10.2021 Berufung zum LSG Baden-Württemberg erhoben.
Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist er auf den gesamten Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren und führt ergänzend aus, die medizinischen und tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung des SG aus dem Jahr 1996 hätten sich nicht verändert. Zahlreiche Medikamente zur Behandlung der MS wirkten lediglich dämpfend auf die Symptomatik, nicht jedoch kausal, und beinhalteten negative Langzeitfolgen. Nach Einnahme verschiedener Präparate gegen MS habe sich sein Gesundheitszustand verschlechtert. Es seien diverse Nebenwirkungen eingetreten. Erst nach der weiteren Verordnung des begehrten ET-18-OCH3 seien Beschwerden und Symptome wieder fast vollständig verschwunden. Selbst bei Annahme, dass es sich um eine neue Behandlungsmethode im rechtlichen Sinne handele, finde § 2 Abs. 1 a SGB V Anwendung. Sein Arzt habe seit Absage der Kostenübernahme durch die Beklagte ab 31.01.2021 keine Kassenrezepte mehr ausgestellt. Deshalb lägen ihm seither keine Verordnungen vor. Ab dem 31.01.2021 bis heute sei ihm die Rezeptur von der Beklagten nicht mehr erstattet worden. Seither beziehe er nur die Substanz zum Abkapseln. Für die Substanz alleine habe er geringere Ausgaben. Deshalb verlange er von der Beklagten die Kostenerstattung für die Substanz seit 31.03.2021. Seine monatlichen Kosten betrügen 500,00 €. Für die Vergangenheit habe er bis zuletzt insgesamt Beschaffungskosten in Höhe von 21.000,00 € gehabt. Nachweise könne er hierfür nicht vorlegen, da er vom jetzigen Lieferanten der Substanz keine Rechnung erhalte. Durch die beigelegte Formalrechnung der G1 Apotheke R1 vom 03.11.2023 seien die Kosten für die Rezeptur nachgewiesen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 27.09.2021 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 05.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.11.2020 zu verurteilen, die ihm ab 01.04.2021 für die Beschaffung von ET-18-OCH3 entstandenen Kosten in Höhe von 21.000,00 € zu erstatten und ihn künftig mit dem Rezepturarzneimittel ET-18-OCH3 zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Bei dem begehrten Präparat handele es sich zweifelsfrei um ein Rezepturarzneimittel, das zu den sogenannten neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gehöre. Eine Empfehlung des GBA über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens liege für die gewählte Behandlung mit ET-18-OCH3 nicht vor.
Nach § 135 Absatz 1 SGB V dürften neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ohne eine solche Empfehlung nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden. Darüber hinaus habe der MDK nach einer orientierenden Literaturrecherche in der Datenbank für medizinische Literatur PubMed keinerlei klinische evidenzbasierte Studien / Veröffentlichungen identifizieren können, die die Wirksamkeit der streitigen außervertraglichen Arzneimitteltherapie bestätigten. Ergänzend werde darauf hingewiesen, dass die von dem behandelnden Arzt empfohlenen, weiteren und dargestellten im Vertragsbereich zur Verfügung stehenden diagnostisch und therapeutischen Maßnahmen vom Kläger nicht gewünscht würden. Der einzige Hinweis auf eine Wirksamkeit der streitigen Rezepturarznei seien demnach die Angaben des Klägers und seines behandelnden Neurologen. Allerdings stelle – entsprechend den gesetzlichen Vorgaben – ein Therapieerfolg im Einzelfall kein Kriterium für eine Leistungsgewährung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Der MDK habe zudem die Voraussetzungen des § 2 Abs.1a SGB V verneint. Eine Notstandssituation im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung läge nicht vor und es stünden zahlreiche vertragliche leitliniengemäße Therapien inkl. Arzneimittel zur Verfügung. Überdies fehle gänzlich die erforderliche klinische evidenzbasierte Studienlage. Die auf dem Markt existenten Therapiemöglichkeiten habe der Kläger bisher nicht hinreichend in Erwägung gezogen.

Die Berichterstatterin hat den Sachverhalt mit den Beteiligten am 09.12.2022 erörtert. Einen im Erörterungstermin vereinbarten widerruflichen Vergleich hat die Beklagte widerrufen.

Anschließend hat die Berichterstatterin die Beteiligten um ergänzenden Vortrag zur Vorlage weiterer ärztlicher Verordnungen, einer Bezifferung des Antrags und um Nachweise für die Anschaffung des begehrten Medikaments gebeten. Insoweit wird auf die Schriftsätze der Beteiligten vom 12.04.2024 und 17.04.2024 verwiesen.

Nach Verkündung des Urteils durch den Senat hat der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung des Senats am 03.07.2024 auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten in den Verfahren S 16 KR 4587/20, S 16 KR 28/21 ER und L 5 KR 803/21 ER-B sowie die beigezogene Akte der Beklagten verwiesen.



Entscheidungsgründe


I. Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.

II. Die Berufung ist begründet, soweit der Kläger begehrt, zukünftig mit ET-18-OCH3 versorgt zu werden. Die Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) ist insoweit zulässig und begründet. Denn der Bescheid der Beklagten vom 05.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.11.2020 ist insoweit rechtswidrig. Der Kläger kann sich auf das von ihm selbst gegen die Beklagte erstrittene Urteil des SG Freiburg vom 26.11.1996 (S 5 Kr 2519/94) stützen und hieraus einen Anspruch gegen die Beklagte auf künftige Versorgung mit ET-18-OCH3 herleiten (hierzu unter 1). Die Berufung ist demgegenüber unbegründet, soweit der Kläger Kostenerstattung für die Beschaffung von ET-18-OCH3 für die Vergangenheit ab 01.04.2021 geltend macht. Die Klage ist insoweit bereits unzulässig, denn der Kläger hat keinen Nachweis für die ihm entstandenen Kosten erbracht (hierzu unter 2).

1. Soweit der Kläger begehrt, künftig mit ET-18-OCH3 versorgt zu werden, ist die Klage zulässig und begründet. Denn der Bescheid der Beklagten vom 05.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.11.2020 ist insoweit rechtswidrig. Der Kläger kann sich auf das von ihm selbst gegen die Beklagte erstrittene Urteil des SG Freiburg vom 26.11.1996 (S 5 Kr 2519/94) stützen und hieraus einen Anspruch gegen die Beklagte auf Versorgung mit ET-18-OCH3 herleiten. Einer Entscheidung im vorliegenden Verfahren steht die materielle Rechtskraft des Urteils des SG vom 26.11.1996 entgegen.

Nach § 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG (i.d.F. des Sechsten Gesetzes zur Änderung des SGG vom 17.08.2001, BGBl. I S. 2144) binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger. Dabei kann offenbleiben (so bereits BSG, Urteil vom 13.12.1960 – 2 RU 189/56 –, in juris Rn. 25), ob diese Rechtskraft zu einem Prozesshindernis führt (prozessuale Theorie) oder lediglich eine inhaltlich abweichende Entscheidung ausschließt (materiell-rechtliche Theorie; vgl. zu den so genannten Rechtskrafttheorien Hübschmann in BeckOGK-SGG, Stand: 01.02.2023, § 141 Rn. 24 f m.w.N.; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 141 Rn. 3a m.w.N.). Falls - wie hier - dieselben Beteiligten in einem weiteren Verfahren über denselben Gegenstand streiten, steht die gesetzlich angeordnete Bindungswirkung eines Urteils einer erneuten Entscheidung entgegen (BSG, Urteil vom 20.07.2023 – B 12 BA 1/22 R –, in juris Rn. 15).

Die Bindungswirkung nach § 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG berührt die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art 19 Abs. 4 GG, weil sie einer erneuten Entscheidung in einem weiteren Verfahren entgegensteht. Sie verletzt das Grundrecht jedoch regelmäßig nicht, wenn über den Streitgegenstand unter Beteiligung der von der Bindungswirkung betroffenen Beteiligten in einem gerichtlichen Verfahren rechtskräftig entschieden worden ist. Im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens – zweier Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips – darf eine sachlich abweichende Entscheidung zwischen denselben Beteiligten nicht mehr ergehen (BSG, Urteil vom 27.06.2007 – B 6 KA 27/06 R –, in juris Rn. 21 m.w.N.). Die materielle Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung verbietet eine neue Verhandlung und Entscheidung über denselben Streitgegenstand. Dieses Verbot liegt im Interesse des Ansehens der Gerichte, der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens unter den Parteien. Mit der Streitentscheidung hat der Staat zwischen den Parteien Rechtsgewissheit geschaffen und damit seine Rechtsprechungsaufgabe erfüllt (vgl. Bundesgerichtshof <BGH>, Beschluss vom 16.06.1993 – I ZB 14/91 –, in juris Rn. 24; BGH, Urteil vom 18.01.1985 – V ZR 233/83 –, in juris Rn. 10 m.w.N.). Die Rechtskraft soll den Streit zwischen den Beteiligten endgültig beilegen, der über denselben Streitgegenstand nicht wiederholt werden soll (BSG, Urteil vom 20.07.2023 – B 12 BA 1/22 R –, in juris Rn. 15).

Die materielle Rechtskraft setzt den Eintritt der formellen Rechtskraft voraus. Formelle Rechtskraft tritt ein, wenn gegen eine Entscheidung kein Rechtsmittel oder Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann (§ 705 Zivilprozessordnung <ZPO>). Dies ist vorliegend der Fall. Das Urteil des SG Freiburg vom 26.11.1996 ist formell rechtskräftig, denn die Beklagte hat damals kein Rechtsmittel eingelegt.

Die Streitgegenstände des vorliegenden Klage- und des ursprünglichen Klageverfahrens aus dem Jahr 1994 sowie die Beteiligten sind jeweils identisch. Der Kläger hatte von der Beklagten im damaligen Verfahren bereits die (künftige) Versorgung mit ET-18-OCH3 begehrt. Das SG hatte die Beklagte in Ermangelung einer kausal wirkenden Therapie damals verurteilt, die dem Kläger seit Oktober 1994 für die Beschaffung des jeweils verordneten Medikaments ET-18-0CH3 entstandenen und bei weiterer Notwendigkeit der Verordnung noch entstehenden Kosten unter Berücksichtigung der gesetzlich vorgesehenen Zuzahlungen zu erstatten. Dieser gerichtliche Ausspruch ist in materielle Rechtskraft erwachsen. Da die Beteiligten auch im hiesigen Verfahren über die künftige Versorgung mit ET-18-OCH3 streiten, steht einer erneuten, abweichenden Entscheidung die materielle Rechtskraft über diesen Anspruch entgegen.

Im Ergebnis hat der Kläger damit gegen die Beklagte aus dem Urteil des SG vom 26.11.1996 einen Anspruch auf Versorgung mit ET-18-OCH3. Hierbei sind die im Tenor des Urteils aufgestellten Voraussetzungen zu beachten. Dabei ist allein entscheidend, dass er Verordnungen von ET-18-OCH3 vorlegen kann, denn diese sind „notwendig“ für einen weiterhin bestehenden Anspruch. Im Übrigen ist auch die Verordnung selbst weiterhin im Sinne der im Urteil vom 26.11.1996 aufgestellten Kriterien notwendig. Denn der Kläger ist noch an MS erkrankt und eine kausal wirkende Therapie bei MS existiert bis heute nicht (https://de.wikipedia.org/wiki/Multiple_Sklerose#Therapie).

Nur zur Klarstellung wird noch darauf hingewiesen, dass das Urteil des SG vom 26.11.1996 nicht der dreißigjährigen Verjährungsfrist unterliegt. Ein Urteil „verjährt“ nicht. Lediglich die Durchsetzung von Ansprüchen aus rechtskräftigen Urteilen unterliegt gem. § 197 Abs. 1 Nr. 4 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) der Verjährung. Hierbei ist zu beachten, dass ein Anspruch auf eine laufende Leistung erst entsteht, wenn die laufende Leistung tatsächlich begehrt werden kann; dies ist vorliegend der Fall, wenn vom Kläger eine ärztliche Verordnung über ET-18-OCH3 vorgelegt wird. Erst ab diesem Moment laufen Verjährungsfristen.

2. Soweit der Kläger Kostenerstattung für die Beschaffung von ET-18-OCH3 für die Vergangenheit ab 01.04.2021 geltend macht, ist die Klage bereits unzulässig, denn der Kläger hat keinen Nachweis für die ihm entstandenen Kosten erbracht. Ein Kostenerstattungsanspruch hat stets die Zahlung eines bestimmten Geldbetrages zum Gegenstand und muss deshalb beziffert werden (vgl. zur Erforderlichkeit der Bezifferung BSG, Urteil vom 10.03.2022 – B 1 KR 2/21 R –, in juris Rn. 7 m.w.N.; Urteil vom 28.01.1999 – B 3 KR 4/98 R –, in juris Rn. 27). Für die von ihm begehrte Erstattung der Kosten für bereits ab 01.04.2021 angeschafftes ET-18-OCH3 in der Vergangenheit hat der Kläger sein Zahlungsbegehren zuletzt mit 21.000,00 € (500,00 € monatlich seit 31.03.2021 bis heute) beziffert. Weitere Voraussetzung für die Geltendmachung eines Anspruchs auf Kostenerstattung ist, dass ein Nachweis für die verauslagten Kosten erbracht wird. Daran fehlt es hier. Mit Schreiben vom 10.04.2024 wurde der Kläger darauf hingewiesen, dass er entsprechende Nachweise für die von ihm geltend gemachten und verauslagten Kosten vorzulegen habe. Hierauf hat er mit Schreiben vom 17.04.2024 mitgeteilt,
er bekomme vom jetzigen Lieferanten von ET-18-OCH3 keine Rechnung. Die Kosten für die Rezeptur seien durch die beigelegte Rechnung von der G1 Apotheke nachgewiesen. Abgesehen davon, dass mit einer Rechnung die Zahlung eines Rechnungsbetrags nicht nachgewiesen werden kann, ist nicht erkennbar, an wen die vorgelegte Rechnung gerichtet ist. Dass sie an ihn gerichtet war, behauptet der Kläger im Übrigen auch gar nicht. Zudem wird als Artikel „ET 18 KAPSEL A 50MG 90 STÜCK“ zu einem Preis von 1.091,23 € angegeben. Der Kläger hat jedoch selbst angegeben, lediglich 500,00 € für die Substanz ACgezahlt zu haben. Die Kosten für die Anschaffung von ET-18-OCH3 sind damit weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

IV. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).


 

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