Der Anspruch auf die Teilnahme an einer medizinischen Rehabilitation im EU-Ausland (hier: Bimanual Intensive Movement Therapy [BIMT] für Patienten mit unilateraler Zerebralparese) kann sich aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, zuletzt geändert durch Art. 45 der Verordnung (EU) 2019/1149 vom 20.6.2019, ergeben, wenn die Leistung in Deutschland nicht angeboten wird.
Sozialgericht Berlin |
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verkündet am
…
als Urkundsbeamter/in der Geschäftsstelle |
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Rechtsstreit
…
vertreten durch
…
und
…
- Kläger -
gegen
Techniker Krankenkasse,
- Hauptverwaltung -
Bramfelder Str. 140, 22305 Hamburg,
…
- Beklagte -
hat die 210. Kammer des Sozialgerichts Berlin auf die mündliche Verhandlung am 1. Dezember 2022 durch den Richter am Sozialgericht … sowie die ehrenamtlichen Richter … und … für Recht erkannt:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 14.04.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.03.2022 verurteilt, dem Kläger die Teilnahme an der Rehabilitationsmaßnahme „…“ des Rehabilitationsträgers a. in den Niederlanden zu genehmigen.
Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine Rehabilitationsmaßnahme in den Niederlanden.
Der am … 2007 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Bei seiner Geburt in der 26. Schwangerschaftswoche trug er eine unilaterale Zerebralparese nach Frühgeburt und Hirnblutung 4. Grades links und 2. Grades rechts davon. Erleidet bis heute an Einschränkungen der Körperstruktur, die obere und untere Extremitäten betreffen. Seine rechte Hand kann er nur eingeschränkt nutzen. Das Arbeitstempo mit beiden Händen ist langsam und ineffizient, weil ihm eine sinnvolle gemeinsame Koordination beider Hände nicht möglich ist. Dies schränkt den Kläger im Schulleben, aber auch bei vielen anderen Alltagstätigkeiten (z.B. Schuhe binden, Essen mit Messer und Gabel, selbstständige Säuberung nach dem Toilettengang) erheblich ein. Beim Kläger sind ein Grad der Behinderung von 80 und die Merkzeichen B, H und G festgestellt.
Am 2.03.2021 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Zustimmung zu einer intensiv-motorischen Therapie (Bimanual Intensive Movement Therapy [BIMT]) in den Niederlanden beim dortigen Träger a… . Die angebotene Maßnahme „…“ ist ein 14-tägiges therapeutisches Programm für Jugendliche über zwölf Jahren mit Zerebralparese. Die Kosten der Maßnahme betragen laut Voranschlag des Trägers 26.787,74 €.
Mit Bescheid vom 14.04.2021 lehnte die Beklagte den Antrag ab, wogegen der Kläger unter dem 21.04.2021 Widerspruch erhob. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens legte der Kläger die Bestätigung des Trägers vor, dass das von ihm angebotene Rehabilitationsprogramm in den Niederlanden von der dortigen Basiskrankenversicherung übernommen werde. Der von der Beklagten hinzugezogene medizinische Dienst Berlin-Brandenburg (MDK) bestätigte zum einen die medizinische Notwendigkeit einer pädiatrischen Rehabilitationsmaßnahme und zum anderen, dass das therapeutische Konzept und die Zielsetzung der vom Kläger begehrten Maßnahme inhaltlich sinnvoll seien und dass ein Programm mit einer ähnlich gelagerten Ausrichtung und Zielsetzung in Deutschland nicht etabliert sei. Es könne festgestellt werden, dass das angegebene Therapiekonzept der Einrichtung und die gesetzten Ziele des Klägers sehr gut harmonierten (sozialmedizinische Fallberatung der MD-Gutachterin T. vom 12.01.2022).
Mit Widerspruchsbescheid vom 31.03.2022 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Eine Bewilligung der Maßnahme sei ihr nicht möglich.
Seine hiergegen gerichtete Klage begründet der Kläger insbesondere damit, dass es in Deutschland kein vergleichbares Rehabilitationskonzept gebe. Bei der Reha-Maßnahme in den Niederlanden handele es sich um ein zweiwöchiges Intensivtraining mit alltagsnahen Tätigkeiten, die die Nutzung beider Hände verlangten.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 14.04.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.03.2022 zu verurteilen, die Inanspruchnahme einer Rehabilitationsmaßnahme „…“ des Rehabilitationsträgers a… zu genehmigen,
hilfsweise, die hierfür entstehenden Kosten zu übernehmen oder zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist zur Begründung auf ihren Widerspruchsbescheid.
Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin … B. , die den Kläger behandelnde Physiotherapeutin. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Der angegriffene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Genehmigung der von ihm begehrten Rehabilitationsmaßnahme mit der Folge, dass die Beklagte die Kosten zu tragen hat.
Rechtsgrundlage für den Anspruch ist Art. 20 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, zuletzt geändert durch Art. 45 der Verordnung (EU) 2019/1149 vom 20.6.2019 (im Folgenden: Koordinierungsverordnung). Nach Satz 1 der Vorschrift erhält ein Versicherter, der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten, Sachleistungen, die vom Träger des Aufenthaltsorts nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht werden, als ob er nach diesen Rechtsvorschriften versichert wäre. Gemäß Satz 2 der Vorschrift wird die Genehmigung erteilt, wenn die betreffende Behandlung Teil der Leistungen ist, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person vorgesehen sind, und ihr diese Behandlung nicht innerhalb eines in Anbetracht ihres derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs ihrer Krankheit medizinisch vertretbaren Zeitraums gewährt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Stationäre Rehabilitationsmaßnahmen sind gemäß § 40 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) Teil der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland, des Wohnmitgliedstaats des Klägers. Die betreffende Behandlung – das … des Trägers a… mit seinen spezifischen Rehabilitationsmaßnahmen, die genau auf die Überwindung oder zumindest Verminderung der körpermotorischen Beschränkungen von jugendlichen Patienten über zwölf Jahre mit unilateraler Zerebralparese ausgerichtet sind – wird in Deutschland nicht angeboten und kann daher nicht in einem medizinisch vertretbaren Zeitraum im Sinne der gesetzlichen Vorschrift gewährt werden. Dass die Maßnahme in Deutschland nicht angeboten wird, gleichwohl für den Kläger medizinisch äußerst sinnvoll ist, steht zur Überzeugung der Kammer fest. Insoweit ist auf die Stellungnahmen des MD im Rahmen des Widerspruchsverfahrens und die Aussage der Zeugin B. zu verweisen. Die Zeugin hat den Inhalt der Reha-Maßnahme – z.T. auch aus eigener Anschauung im Rahmen einer Hospitation – beschrieben und ihre Sinnhaftigkeit in Bezug auf den Kläger dargelegt. Weder ihr noch dem MD sind vergleichbare Maßnahmen in Deutschland bekannt. Das Therapiekonzept für die von ihr als Alternative genannte Reha-Maßnahme in der B. Klinik … hat die Beklagte nicht vorgelegt. Eine Vergleichbarkeit des therapeutischen Inhalts der Maßnahmen hat die Beklagte auch nicht vorgetragen. Zur Überzeugung der Kammer steht zudem fest, dass die Reha-Maßnahme des Trägers a… Bestandteil der Leistungen der niederländischen gesetzlichen Krankenversicherung sind. Dies hat der Träger mehrfach bestätigt, Die Beklagte ist dem im Widerspruchs- und Klageverfahren – anders als noch im Ausgangsbescheid – auch nicht mehr entgegengetreten.
Somit steht dem Kläger der von ihm mit seinem Hauptantrag geltend gemachte Anspruch auf Genehmigung der Rehabilitationsmaßnahme zu. In der Rechtsfolge ist ihm die Maßnahme vom Träger des Aufenthaltsorts – hier der niederländischen Krankenversicherung – als Sachleistung auf Rechnung des zuständigen Trägers – hier der Beklagten – zu erbringen, und zwar nach dem für diesen Träger geltenden – den niederländischen – Rechtsvorschriften (Art. 20 Abs. 2 S. 1 Koordinierungsverordnung). Auf die Vorschriften des deutschen Leistungsrechts nach dem dritten Kapitel des SGB V kommt es wegen des Vorrangs des EU-Rechts nicht an. Insbesondere ist es weder erforderlich, dass der Leistungserbringer eine zertifizierte Rehabilitationseinrichtung ist, mit der ein Vertrag nach § 111 SGB V besteht (§ 40 Abs. 2 S. 1 SGB V), noch steht der Beklagten ein Auswahlermessen nach § 40 Abs. 3 S. 1 SGB V zu.
Über die hilfsweise vom Kläger gestellten Anträge brauchte die Kammer nicht mehr zu entscheiden. Sie weist jedoch ergänzend noch auf § 8 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) hin, wonach bei der Entscheidung über die Leistungen bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen wird sowie auf die persönliche Lebenssituation, das Alter und die Familie Rücksicht zu nehmen und den besonderen Bedürfnissen von Kindern mit Behinderungen Rechnung zu tragen ist. Auch vor dem Hintergrund dieser Regelungen ist die zeitnahe Durchführung der begehrten Reha-Maßnahme und die Übernahme der Kosten hierfür durch die Beklagte angemessen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.