L 7 AS 938/21

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 27 AS 1776/18
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 938/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1.

Der Übergangsvorschrift des § 80 Abs. 2 SGB II sind über den Wortlaut von Nr. 1 und Nr. 2 dieser Vorschrift hinaus keine weiteren Übergangsregelungen zu entnehmen (vgl. BSG, Urteil vom 12. 09. 2018 – B 4 AS 39/17 R – juris, Rn. 27).

 

2.

In Streitigkeiten um den Eintritt der Fiktionswirkung nach einer vorläufigen Festsetzung von Leistungen im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitssuchende, sind außer der Regelung der Jahresfrist in § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II keine anderen Teile des § 41a SGB II anwendbar, wenn der strittige Leistungszeitraum vor dem 01.08.2016 beendet war.

Bemerkung

Vorläufige Festsetzung und Fiktionswirkung

      1. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 20. Mai 2021 sowie die Bescheide des Beklagten vom 20. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Mai 2018 aufgehoben.
      2. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.
      3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

Der Kläger wendet sich gegen die Rückforderung von nach dem 2. Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vorläufig im Zeitraum vom 01.07.2015 bis 31.12.2015 gewährten Leistungen in Höhe von 2.636,94 €.

 

Der Kläger war im Zeitraum vom 01.07.2015 bis 31.12.2015 im Bereich Eventservice/Konzertorganisation selbständig tätig. Mit Bescheid vom 31.08.2015 wurden ihm für den Zeitraum vom 01.07.2015 bis 31.12.2015 wegen schwankenden Erwerbseinkommens aus Selbständigkeit vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in Höhe von monatlich 439,49 € bewilligt und darauf hingewiesen, dass nach Ablauf des Bewilligungszeitraumes eine abschließende Entscheidung getroffen werde. Gleichzeitig wurde der Kläger aufgefordert, die dafür erforderlichen Unterlagen nach Ende des Bewilligungszeitraumes einzureichen.

 

Mit Mitwirkungs- bzw. Erinnerungsschreiben des Beklagten vom 23.06.2017, 24.07.2017 und 28.09.2017 wurde der Kläger aufgefordert, sämtliche Unterlagen zur abschließenden Entscheidung für den Zeitraum vom 01.07.2015 bis 31.12.2015 nachzureichen. Die konkreten Unterlagen wurden benannt und Näheres erläutert. So wurde mit Schreiben vom 23.06.2017 die Vorlage sämtlicher Kontoauszüge, aller geschriebenen Rechnungen in Kopie, Quittungen über Barzahlungen, monatliche betriebliche Auswertungen oder Einnahme-Überschussrechnungen, Nachweise zu den Ausgaben von 920,00 € für Künstler und Begründung zur deren Notwendigkeit, Mietverträge für Konzerträume und Nachweis über die Zahlung einer Miete von 300,00 € im November 2015, Einzelbelege für die Wareneinkäufe in Höhe von insgesamt 368,29 € und Telefonrechnungen unter Fristsetzung bis 10.07.2017 angefordert. Mit Schreiben vom 24.07.2017 wurde der Kläger an die Aufforderung zur Mitwirkung vom 23.06.2017 unter weiterer Fristsetzung bis 10.08.2017 erinnert und darüber belehrt, dass bei Nichtmitwirkung, die Feststellung des Nichtbestehens eines Leistungsanspruchs folgen werde. Dieses Schreiben wurde dem Kläger zugestellt. Am 10.08.2017 teilte der Kläger mit, dass er der Aufforderung nicht fristgemäß nachkommen könne. Aufgrund des Umfangs und der aktuell stark zugenommenen Auftragssituation könne er die Angaben erst zum 21.08.2017 machen. Der Kläger wurde am 28.09.2017 erneut unter Fristsetzung bis zum 30.11.2017 zur Mitwirkung aufgefordert und darüber belehrt, dass eine Nullfestsetzung und die Rückforderung der gewährten Leistungen in Betracht kommen. Der Kläger reichte keine weiteren Unterlagen ein.

 

Mit den streitgegenständlichem Bescheiden vom 20.02.2018 wurde im Rahmen der endgültigen Endscheidung über den Leistungsanspruch gemäß § 41a Abs. 3 SGB II festgestellt, dass ein solcher mangels Vorlage der angeforderten Unterlagen für den Zeitraum vom 01.07.2015 bis 31.12. 2015 nicht bestehe. Die gewährten Leistungen für den Zeitraum vom 01.07.2015 bis 31.12.2015 in Höhe von insgesamt 2.636,94 € wurden gemäß § 41a Abs. 6 Satz 4 SGB II zurückgefordert. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.05.2018 (380 – …. – W-….) zurückgewiesen.

 

Am 22.05.2018 hat der Kläger beim Sozialgericht Dresden Klage erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, der vorläufige Bewilligungsbescheid sei rechtsgültig geworden. Die Kontoauszüge seien komplett eingereicht worden. Die Zahlbeträge seien nicht geschwärzt gewesen, nur die Daten, welche Rückschlüsse auf Religion, Sexualität oder Mitgliedschaft in politischen Parteien oder Verbänden ermöglicht hätten. Am Telefon habe er sich erkundigt, ob die Bearbeitung vorangehe. Die Angaben seien für die Steuererklärung wichtig gewesen.

 

Mit Urteil vom 20.05.2021 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt.

Die zulässige Klage sei unbegründet. Der Beklagte habe zu Recht die gemäß § 41a Abs. 3 SGB II abschließende Festsetzung auf 0,00 € getroffen. Die mehrmals nach Aktenlage eingegangenen telefonischen Nachfragen des Klägers nach dem Bearbeitungsstand im gegenständlichen Zeitraum machten deutlich, dass der Kläger mehrfach um endgültige Festsetzung für den Zeitraum vom 01.07.2015 bis 31.12.2015 gebeten bzw. diese nachgefragt habe. Trotz Bemühungen des Beklagten sei eine abschließende Bearbeitung zur konkreten Berechnung des Einkommens aus der Selbständigkeit des Klägers wegen fehlender Mitwirkung nicht möglich gewesen. Am 09.06.2016 habe der Kläger seine abschließende EKS für den streitgegenständlichen Zeitraum übersandt. Er habe jedoch nur lückenhafte Kontoauszüge vorgelegt, welche im weiteren Gerichtsverfahren trotz mehrfacher Aufforderung zur Mitwirkung lückenhaft geblieben seien. Der Beklagte habe den Kläger mehrfach auf die Folgen der fehlenden Mitwirkung hingewiesen und ihm zur Einreichung der Unterlagen angemessene Fristen gesetzt. Sein Ermessen habe der Beklagte fehlerfrei ausgeübt. Entsprechend § 41a Abs. 3 SGB II sei die Festsetzung des Leistungsanspruchs auf 0,00 € möglich gewesen. Die dem Kläger vorläufig bewilligten Leistungen in Höhe von insgesamt 2.636,94 € seien gemäß § 41a Abs. 6 SGB II zu erstatten.     

 

Gegen das am 06.08.2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 06.09.2021 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er bezüglich des Leistungszeitraumes vom 01.07.2015 bis 31.12.2015 und zur Rückforderung in Höhe von 2.636,94 € vorgetragen, er habe niemals telefonisch um eine Bearbeitung gebeten. Der vorläufige Leistungsbescheid habe nach seiner Meinung am 31.12.2016 Rechtskraft erlangt.

 

Der Kläger beantragt sinngemäß,

 

das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 20.05.2021 und die Bescheide des Beklagten vom 20.02.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2018 (380 – …. – W-….) aufzuheben.

 

Der Beklagte beantragt,

 

                        die Berufung zurückzuweisen.         

 

Er hält seine Bescheide und das Urteil des Sozialgerichts für rechtmäßig.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung ist zulässig, insbesondere ist sie statthaft (§ 143 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) sowie nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden. Die Berufung ist auch begründet.

 

Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Denn die angefochtenen Bescheide vom 20.02.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2018 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1, § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

 

Für die streitgegenständlichen Bescheide konnte der Beklagte nach Eingreifen der Fiktionswirkung gemäß § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II nach vorläufiger Festsetzung der Leistungen für den Zeitraum vom 01.07.2015 bis 31.12.2015 für eine endgültige Festsetzung und Rückforderung gewährter Leistungen auf keine Ermächtigungsgrundlage mehr zurückgreifen.

 

1.

Der streitige Leistungszeitraum lag vor Einführung des § 41a SGB II am 01.08.2016. Die davor verfügte vorläufige Bewilligung mit Bescheid vom 31.08.2015 fand ihre Befugnisgrundlage in § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II aF i.V.m. § 328 SGB III. Für nach dem bis zum 31.07.2016 geltenden Recht (§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 SGB III) vorläufig bewilligte Leistungen, deren Bewilligungszeiträume vor dem 01.08.2016 beendet waren, gilt nach dem Wortlaut der Übergangsvorschrift in § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II in der vom 01.08.2016 bis zum 31.12.2022 gültigen Fassung die neue Vorschrift des § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe, dass die dort vorgesehene Jahresfrist mit dem 01.08.2016 beginnt und die dort geregelte Fiktionswirkung gemäß § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II i.V.m. § 41a Abs. 1 Satz 1 SGB II hinsichtlich der vorläufig bewilligte Leistungen gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II zum 01.08.2017 eingetreten ist. § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II bleibt auch nach dessen Außerkraftreten zum 01.01.2023 die maßgebende gesetzliche Grundlage, denn in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungsabschnitte – wie hier für den Leistungszeitraum vom 01.07.2015 bis 31.12.2015 – ist das zum Zeitpunkt des Erlasses der streitbefangenen Bescheide (Ausgangsbescheide vom 20.02.2018, Widerspruchsbescheid vom 08.05.2018) geltende Recht anzuwenden (vgl. BSG, Urteil vom 30.03.2017 – B 14 AS 18/16 R –, juris, Rn. 12, "Geltungszeitraumprinzip").

 

2.

Der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks 18/8041 S. 62) zu der Übergangsvorschrift des bis 31.12.2022 gültigen § 80 SGB II ist mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass § 41a SGB II in seiner Gesamtheit nur für die Bewilligungszeiträume gelten soll, die bei Inkrafttreten der Regelung am 01.08.2016 noch nicht beendet waren. Für alle bereits vorher beendeten Bewilligungszeiträume ist ferner zweifelsfrei angeordnet, dass die Jahresfrist nach § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II für sie mit dem 01.08.2016 beginnt. Das legt nach Wortlaut und Binnensystematik der Regelung bereits für sich nahe, den weiteren Vorgaben des § 41a SGB II für vor dem 01.08.2016 beendete Bewilligungszeiträume keine Geltung beizumessen (BSG, Urteil vom 12. September 2018 – B 4 AS 39/17 R –, juris, Rn. 24). § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II bestimmt, dass die vorläufig bewilligten Leistungen als abschließend festgesetzt gelten, wenn innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung nach § 41a Abs. 3 SGB II ergeht. Vorliegend endete die Jahresfrist nach § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II am 31.07.2017. Im vorliegenden Fall ist eine solche erforderliche abschließende Entscheidung nach vorläufiger Festsetzung aber nicht getroffen worden.

 

3.

Durch den Eintritt der Fiktion erledigt sich der auf die Vorläufigkeit der Leistungsbewilligung bezogene Teil der Bewilligungsverfügung. Demgegenüber bleibt die Höhe der bewilligten Leistung unverändert. Diese Änderung tritt kraft gesetzlicher Anordnung durch § 41a
Abs. 5 Satz 1 SGB II ein und wird nicht durch Verwaltungsakt bewirkt. Zusammenfassend erledigt sich gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i. V. m. § 39 Abs. 2 SGB X grundsätzlich der vorläufige Bescheid, während der fingierte abschließende Bescheid seinerseits als Rechtsgrund für das Behaltendürfen der vorläufig gewährten Leistungen wirksam bleibt.
Diesbezüglich lässt § 39 Abs. 2 SGB X ("solange und soweit") den (Teil-)erhalt der ursprünglich insgesamt angefochtenen vorläufigen Bewilligungsentscheidung zu (BSG, Urteil vom 18.05.2022 – B 7/14 AS 1/21 R –, juris, Rn. 26). Eine endgültige Festsetzung nach § 41a Abs. 3 Satz 1 SGB II setzt voraus, dass zum Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung noch eine vorläufige Bewilligung besteht, die ersetzt werden kann. Dies war aber hier nicht der Fall, weil die vorläufig bewilligten Leistungen zu diesem Zeitpunkt bereits als abschließend festgesetzt galten (§ 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II). Aus diesem Grund kann der Beklagte auch keine Erstattung der Leistungen gemäß § 41a Abs. 6 Satz 3 SGB II verlangen. Anderes ergibt sich auch nicht aus der Gesetzesbegründung zur Übergangsvorschrift des § 80 SGB II.

 

4.

a.

Nach Auffassung des Senats sind auf Fälle, in denen der strittige Leistungszeitraum vor dem 01.08.2016 beendet war, außer der Regelung der Fiktionswirkung in § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II nämlich keine anderen Teile des § 41a SGB II anwendbar. Der Übergangsvorschrift des § 80 Abs. 2 SGB II sind über den Wortlaut von Nr. 1 und Nr. 2 hinaus keine weiteren Übergangsregelungen zu entnehmen. Darauf verweist das BSG in seinem Urteil vom 12. 09. 2018 – B 4 AS 39/17 R juris, Rn. 27) zu Recht. Die Gesetzesbegründung zur Übergangsvorschrift des § 80 SGB II ist zwar nicht eindeutig und lautet:

 

(vgl. BT-Drucks 18/8041 S 62)

"Soweit nach bisherigem Recht vorläufig entschieden wurde und die Bewilligungszeiträume vor Inkrafttreten dieses Gesetzes beendet waren, sind häufig noch keine abschließenden Entscheidungen getroffen worden. § 41a soll auch für diese Entscheidungen angewandt werden. Die für die Jobcenter geltende Jahresfrist für die abschließende Entscheidung beginnt mit Inkrafttreten dieses Gesetzes, weil die vorläufigen Entscheidungen, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes länger als ein Jahr zurückliegen, sonst automatisch bereits als abschließend festgestellt gelten würden. Den Jobcentern bleibt so ausreichend Zeit, die bisherigen vorläufigen Entscheidungen zu prüfen. Für Bewilligungszeiträume, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begonnen haben, aber nach dem Inkrafttreten enden, wird klargestellt, dass § 41a anzuwenden ist."

 

Unüberbrückbare Zweifel an der Normklarheit und dem Regelungsbereich von § 80 Abs. 2 SGB II (vgl. zum Streitstand in der Literatur: Kemper in Eicher/Luik, SGB II, 5. Aufl. 2017, § 80 RdNr 10, m.w.N. m.w.N.) bestehen aber nach Meinung des Senates nicht. Gemäß dem Geltungszeitraumprinzip ist auf vor dem 01.08.2016 abgeschlossene Leistungszeiträume nur die Frist aus § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II mit der aus § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II vorgesehenen Modifikation anzuwenden. Denn selbst wenn aus der Gesetzesbegründung ein weitergehender Anwendungsbereich des § 41a SGB II auf vor dem 01.08.2016 abgeschlossene Leistungszeiträume entnommen werden könnte, hat die Vorschrift des          § 80 Abs. 2 SGB II jedenfalls inhaltlich keine Fassung erhalten, die eine Auslegung in diese Richtung zuließe (BSG, Urteil vom 12. September 2018 – B 4 AS 39/17 R –, juris, Rn. 27). Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung des BSG an. Die durch den Wortlaut in     § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II gezogene Auslegungsgrenze (…gilt § 41a Abs. 5 Satz 1 ………mit der Maßgabe) steht einer anderen Auslegung hin zur Anwendung des gesamten § 41a Abs. 5 SGB II oder weiteren Teilen dieser Vorschrift auf vor dem 01.08.2016 abgeschlossene Leistungszeiträume unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsmaterialien entgegen. Zwar ist der Wille des Gesetzgebers für die Normauslegung von maßgeblicher Bedeutung; ihm kommt zumindest eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. Ein entgegenstehender gesetzgeberischer Wille bildet – ebenso wie der Normwortlaut – aber eine Auslegungsgrenze. Denn Bindung der Gerichte an das "Gesetz" bedeutet eine Bindung an die im Normtext zum Ausdruck gebrachte demokratische Entscheidung des Gesetzgebers, dessen Erwägungen zumindest teilweise in den Materialien dokumentiert sind. Zwar wird die Begründung des Gesetzentwurfes regelmäßig nicht von Abgeordneten verfasst, sondern von Ministerialbeamten, aber der Gesetzgeber muss sie sich grundsätzlich zurechnen lassen, wenn die Norm in ihrer Entwurfsfassung auch verabschiedet wird und keine gegenteiligen Zweckbestimmungen oder Auslegungsintentionen dokumentiert werden. Allerdings ist der dokumentierte Wille des Gesetzgebers nur dann verbindlich, wenn er im Normwortlaut einen Anknüpfungspunkt gefunden hat (BSG, Urteil vom 3. November 2021 – B 11 AL 2/21 R –, juris, Rn. 19 – 20, m.w.N. auf die st. Rspr. des Bundesverfassungsgerichtes zum Thema der Gesetzesauslegung). Die später Gesetzeswortlaut gewordene Reglung in § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, die auf vor dem 01.08.2016 liegende Bewilligungszeiträume nur § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II mit der zeitlichen Modifikation der Jahresfrist anwendet, findet sich in dieser Deutlichkeit zwar nicht in der Gesetzesbegründung, lässt sich aber doch im Rahmen einer teleologischen und systematischen Interpretation der Vorschrift und auch aus der Gesetzesbegründung herausarbeiten. Hätte § 41a SGB II in seiner Gesamtheit auf erst nach dem und zusätzlich auf vor dem 01.08.2016 abgeschlossene Leistungszeiträume Anwendung finden sollen, hätte es einer unterschiedlichen Übergangsvorschrift für beide Sachverhalte nicht bedurft. Im Übrigen wird gerade in der Gesetzesbegründung auf die Fristproblematik und damit die Jahresfrist des § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II als gesetzgeberischer Hintergrund der Übergangsvorschrift für vor dem 01.08.2016 abgeschlossene Leistungszeiträume abgestellt. Es bleibt also dabei, dass im vorliegenden Fall weder eine Rechtsgrundlage für die vorgenommene endgültige Festsetzung auf "Null" für den Leistungszeitraum vom 01.07.2015 bis 31.12.2015 bestand, noch eine Rechtsgrundlage für die Rückforderung der Leistungen i.S.v. § 41a Abs. 6 S. 4 SGB II.

 

b.

Der Beklagte hätte mithin im vorliegenden Fall nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine Schätzung der Einkommenssituation des Klägers vornehmen müssen (§§ 40 Abs.2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 SGB III i.V.m. § 3 Abs. 6 Alg II- VO). Denn der Erlass eines endgültigen Bescheides ist kein taugliches Instrumentarium in Fällen, in denen objektiv nur die Möglichkeit einer prospektiven Schätzung insbesondere der Einkommenssituation besteht. Dies ist Folge der grundsätzlichen Verpflichtung der Verwaltung, vor Erlass eines Bescheides die Sachlage vollständig aufzuklären, um die objektiven Verhältnisse festzustellen. Erlässt die Verwaltung dennoch einen endgültigen Bescheid auf Grundlage eines nicht endgültig aufgeklärten Sachverhalts und stellt sich später heraus, dass der Bescheid bereits im Zeitpunkt des Erlasses objektiv rechtswidrig war, könnte sie nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) vorgehen. Dies gilt unabhängig davon, zu welchen Ermittlungen sich die Verwaltung aufgrund der Angaben des Antragstellers vor Erlass des Ausgangsverwaltungsakts gedrängt sehen musste (vgl. BSG, Urteil vom 29.04.2015 – B 14 AS 31/14 R –, juris, Rn. 19 m.w.N.).

 

5.

Der Beklagte kann sich für Fälle, in denen Bewilligungszeiträume vor dem 01.08.2016 beendet waren und die Fiktionswirkung bereits eingetreten ist, grundsätzlich nach dem unter 4. a. Gesagten nicht darauf berufen, dass eine Ausnahme vom Eintritt der Fiktionswirkung i.S.v. § 41a Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 SGB II und deren Rechtsfolgen vorliegt. Soweit es Telefonvermerke bzw. E-Mail-Verkehr zwischen dem Kläger und der Leistungs- oder Vermittlungsabteilung des Beklagten gegeben hat, kann deren Inhalt nicht die Qualität eines Antrages auf Festsetzung der endgültigen Leistung für den strittigen Leistungszeitraum 01.07.2015 bis 31.12.2015 entnommen werden. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass, wenn dem so gewesen wäre, den Beklagten als Behörde mit umfassenden rechtlichen und tatsächlichen Kenntnisse bezüglich der individuellen Verhältnisse des Klägers eine Beratungspflicht im Hinblick auf mögliche günstigere Folgen einer endgültigen Festsetzung oder den Eintritt der Fiktionswirkung getroffen hätte (Kemper in Eichler/Luik, SGB II, 14. Auflage, § 41a Rn. 66 m.w.N.).

 

6.

Andere – gesetzlich nicht ausdrücklich geregelte – Gründe hindern den Eintritt der Fiktionswirkung ebenfalls nicht. Es kommt insbesondere im Hinblick auf den Eintritt der Fiktion nicht darauf an, ob das Jobcenter sich um die vollständige Aufklärung des leistungserheblichen Sachverhalts hinreichend bemüht oder die leistungsberechtigte Person die fehlende Aufklärung verschuldet hat. Verletzt die leistungsberechtigte Person ihre Auskunfts- und Nachweispflichten hat das Jobcenter den Leistungsanspruch für diejenigen Kalendermonate trotzdem, aber nur in der Höhe abschließend festzusetzen, in welcher seine Voraussetzungen ganz oder teilweise nachgewiesen wurden und stellt dann im Übrigen fest, dass ein Leistungsanspruch nicht bestand (BSG, Urteil vom 29.11.2022 – B 4 AS 64/21 R – SozR 4-4200 § 41a Nr. 7 RdNr. 15 ff). Erfolgt dies nicht innerhalb der Jahresfrist, gelten die vorläufig bewilligten Leistungen gleichwohl als abschließend festgesetzt (BSG Urteil vom 27.09.2023 – B 7 AS 17/22 R, BeckRS 2023, 41153 Rn. 25, beck-online), mit den oben beschriebenen Folgen.

 

7.

Eine Auslegung oder Umdeutung der vom Beklagten mit Bescheiden vom 20.02.2018 getroffenen abschließenden Festsetzung und Erstattung in eine Rücknahme- oder Aufhebungsentscheidung nach §§ 45, 48 SGB X ist nicht möglich (BSG, Urteil vom 27.09.2023- B 7 AS 17/22 R – juris, RdNr. 26-29), weil die Institute auf unterschiedliche Rechtsfolgen gerichtet sind und dem Beklagten im vorliegenden Fall (erkennbar) gerade nicht bewusst war, dass die ursprünglich vorläufige Bewilligung im Entscheidungszeitpunkt (20.02.2018) bereits als abschließend festgesetzt galt.

 

Der Beklagte hat bis zum 31.07.2017 keine abschließende Festsetzung getroffen. Damit bildet die eingetretene Fiktionswirkung für den Kläger einen Rechtsgrund für das Behaltendürfen der vorläufig gewährten Leistungen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 SGG. Sie berücksichtigt Anlass, Verlauf und Ergebnis des Rechtsstreits.

 

Gründe, die Revision zuzulassen liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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