L 4 KA 68/20

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 17 KA 542/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KA 68/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze


Der aus § 106 Abs. 5d SGB V in der bis 31. Dezember 2016 geltenden Fassung abgeleitete Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen ärztlichen Antrag auf Verhandlungen zum Abschluss einer individuellen Richtgrößenvereinbarung (vgl. BSG, Urteil vom 28. August 2013 – B 6 KA 46/12 R – juris Rn. 20 ff.) besteht auch dann, wenn in der Rechtsfolge andernfalls nicht ein Regress, sondern wegen der Erfüllung der Voraussetzungen des § 106 Abs. 5e SGB a.F. eine individuelle Beratung festzusetzen wäre. 


I.    Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 28. Oktober 2020 wird zurückgewiesen.

II.    Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen zu erstatten. Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.

III.    Die Revision wird nicht zugelassen.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer individuellen Beratung nach § 106 Abs. 5e Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung – in der bis zum 31. Dezember 2016 gültigen Fassung (SGB V a.F.) im Rahmen der Arznei- und Verbandmittel-Richtgrößenprüfung für das Jahr 2014. 

Die Klägerin ist seit dem 1. Oktober 2013 in einer Einzelpraxis als vollzugelassene Ärztin für Allgemeinmedizin in A-Stadt niedergelassen und nimmt seit diesem Zeitraum an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Die Klägerin verfügt außerdem über die Zusatzbezeichnung ,,Palliativmedizin".

Die Praxis wies (nach der Anzahl- und Summenstatistik) im Jahr 2014 eine Fallzahl (FZ) von (insgesamt) 2.781 auf. Dies entspricht einer im Verhältnis zur Vergleichsgruppe/Fachgruppe (im Folgenden: FG) der vollzugelassenen Ärzte für Allgemeinmedizin deutlich unterdurchschnittlichen FZ. In dieser FG waren in Hessen im Jahre 2014 (von Quartal zu Quartal schwankend) zwischen 2.663 und 2.692 Praxen zugelassen. 

Die Beigeladenen haben für das Jahr 2014 Richtgrößen für Arzneimittel vereinbart, die für die FG der Klägerin für Mitglieder (M) sowie Familienangehörige (F-Mitglieder) einen Betrag in Höhe von 50,37 € bzw. 144,33 € für Rentner (R) vorsahen. Diese Werte waren von den Vertragspartnern aus dem Jahr 2013 fortgeschrieben worden. Die entsprechenden Richtgrößenwerte wurden den Ärzten erst in info.pharm der Beigeladenen zu 1) im April 2014 bekannt gegeben. 

Bei den zugrunde gelegten Bruttoverordnungskosten der Klägerin in Höhe von 430.719,52 € wies sie gegenüber dem errechneten und für sie maßgeblichen Richtgrößenvolumen in Höhe von 226.710,09 € im Jahr 2014 eine Überschreitung in Höhe von insgesamt 204.009,43 € auf, was einer Überschreitung um +89,99% entspricht.

Mit Schreiben vom 1. Juni 2016 teilte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen in Hessen (PS) der Klägerin die Einleitung eines Prüfverfahrens der arztbezogenen Richtgrößen hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit der verordneten Leistungen von Arzneimitteln für das Jahr 2014
 mit und forderte zur Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten (PB) auf.
In ihrer folgenden Stellungnahme vom 15. Juli 2016 bezweifelte die Klägerin die vorhandenen Daten. Diese enthielten insbesondere keine Mitteilung über die Rabattverträge. Auch seien die Richtgrößenwerte für 2014 unrechtmäßig vereinbart worden. Ferner sei zu bedenken, dass ihre FG sehr inhomogen sei und somit keine Durchschnittswerte abbildbar seien. Da die spezielle Praxisausrichtung in der Schmerztherapie liege, seien die Verordnungskosten in diesem Bereich, auch durch Altenheimpatienten, Patienten mit Polyneuropathie, Diabetes mellitus Typ 2-Patienten, Schmerzpatienten und Palliativpatienten, höher als bei der FG. Neben den Analgetikaverordnungen kämen auch Magenschutzpräparate zum Einsatz. Auch habe sie im Bereich der Blutverdünnungspräparate notwendige Verordnungen vornehmen müssen. Dies sei bei Patienten mit Vorhofflimmern, künstlicher Herzklappe und Aortenklappenersatz erfolgt. Die Verordnungen für Xarelto hätten bereits vor der Prüfung als PB abgezogen werden müssen. Darüber hinaus nehme sie auch an DMP-Programmen aus den Bereichen Koronare-Herz-Krankheiten (KHK), Asthma und Chronische Atemwegserkrankungen (COPD) teil. Ferner würde die Verordnung von Eisenpräparaten eine Praxisbesonderheit darstellen, denn Verordnungen von Ferinject seien dann erfolgt, wenn Ferro Sanol Tabletten unwirksam gewesen waren. 

Hilfsweise beantragte die Klägerin die Vorbereitung einer regressablösenden Individualvereinbarung, falls der Überschreitungsbetrag nicht vollständig durch Praxisbesonderheiten erklärt werden könne. 

Nach Anerkennung von verordnungsbedingten Praxisbesonderheiten in Höhe von insgesamt 126.039,00 € ermittelte die PS für das Jahr 2014 noch eine Restüberschreitung des für die Klägerin maßgeblichen Richtgrößenvolumens um +34,39% und setzte mit Bescheid vom 8. November 2016 eine individuelle Beratung gem. § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. fest. Den Antrag auf Aufnahme von Verhandlungen über die Vereinbarung einer individuellen Richtgröße lehnte sie ab. Ein Anspruch auf Aufnahme von Verhandlungen über eine Vereinbarung einer individuellen Richtgröße bestehe nicht, da es an einem zu erstattenden Mehraufwand fehle. 

Mit Schreiben vom 21. November 2016 legte die Klägerin Widerspruch ein, zu dessen Begründung sie vortrug, dass die PS auf verschiedene PB nicht eingegangen sei und bei der Berechnung der anerkannten PB deren Kosten nicht vollständig anerkannt worden seien. 

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Beschluss vom 27. Juli 2017 zurück. Die Rabatte und Zuzahlungen seien arztindividuell anerkannt worden. Ausgehend von der von den Kostenträgern gelieferten Summe der Zuzahlungen und Rabatte würde der arztindividuelle prozentuale Anteil errechnet. Eine Berücksichtigung der Rabatte und Zuzahlungen sei somit erfolgt. Auch die Anerkennung von Praxisbesonderheiten sei in hinreichendem Ausmaß erfolgt. Anerkannt worden seien Besonderheiten, die in der Beschlussbegründung im Einzelnen aufgezählt und gewürdigt wurden.

Gegen diesen Beschluss hat die Klägerin am 3. August 2017 Klage zum Sozialgericht Marburg erhoben. 

Die Klägerin hat erstinstanzlich ihre Einwände gegen die Bildung der Richtgröße und die hinreichende Berücksichtigung von individuellen Rabattverträgen sowie die aus ihrer Sicht fehlende Herausrechnung von AMNOG-Präparaten wiederholt. Darüber hinaus hat sie gerügt, der Beklagte habe ihren Antrag auf Verhandlung über eine regressablösende Individualvereinbarung ignoriert. § 106 Abs. 5d SGB V a.F. sehe vor, dass im Falle einer Regressfestsetzung von einer solchen abgesehen werden könne, sofern sich die Beteiligten über eine individuelle Richtgröße einigten. Verhandlungen darüber seien ihr zu Unrecht verwehrt worden. Sogar für den Fall, dass man davon ausgehen würde, dass die Beratung gemäß § 106 Abs. 5e SGB V a.F. gleichrangig neben der individuellen Richtgrößenvereinbarung nach § 106 Abs. 5d SGB V a.F. stünde, obliege es allein dem Arzt, hierunter auszuwählen. In dem Moment, in welchem dieser sich für den Antrag auf eine individuelle Richtgröße entscheide, müsse der Beklagte in Verhandlungen eintreten. Er könne nicht eigenmächtig hierüber weggehen und Zwangsberatungen aussprechen. Es sei zudem nicht erkennbar, dass der Beklagte eine intellektuelle Prüfung durchgeführt habe und dabei die von der Klägerin ausführlich dargelegten PB hinreichend geprüft habe. 

Der Beklagte hat über die Ausführungen in seinem Beschluss hinaus dargelegt, dass die Rabattbeträge arztindividuell ermittelt worden seien und im Falle der Klägerin 12,63% betragen hätten. Er hat zur Nichtanerkennung der PB ergänzend vorgetragen. 

Das Sozialgericht hat durch Urteil am 28. Oktober 2020 ohne mündliche Verhandlung den Bescheid des Beklagten vom 27. Juli 2017 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die zulässige Klage sei begründet. Die verspätete Bekanntmachung der Richtgrößen als eine die Rechtsposition der Klägerin nicht verschlechternde Fortschreibung sei nicht zu beanstanden. Im Falle einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % sei eine individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e S. 1 SGB V a.F. durchzuführen (Beratung vor Regress). Diese Regelung sei durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz zum 1. Januar 2012 in das SGB V aufgenommen worden. Nach dieser Maßgabe sei der Beklagte vorliegend auch verfahren. Er habe jedoch den Antrag der Klägerin auf Verhandlung über eine IRV nicht berücksichtigt. Dies habe zur Rechtswidrigkeit des Beschlusses des Beklagten geführt. Anders als im Fall des § 106 Abs. 5a Satz 4 SGB V (Hinweis auf BSG, Urteil vom 15. Juli 2015 – B 6 KA 30/14 R) bestehe zwar keine Verpflichtung der Prüfgremien, auf den Abschluss einer IRV hinzuwirken. Wenn der geprüfte Arzt jedoch von sich aus Interesse am Abschluss einer IRV bekunde oder – wie hier – den Abschluss einer IRV beantrage, seien die Prüfgremien verpflichtet, in Verhandlungen über den Abschluss einer IRV einzutreten und dürften den Abschluss einer IRV nicht aus sachfremden Gründen vereiteln. In diesen Fällen bestehe eine "Verhandlungspflicht" der PS bzw. des Beklagten. Die Prüfgremien seien nicht unter allen Umständen verpflichtet, eine IRV abzuschließen; ein unbedingter „Anspruch" des Arztes auf Abschluss einer IRV bestehe nicht (Hinweis auf BSG, Urteil vom 28. August 2013 – B 6 KA 46/12 R). Da es sich um eine Vereinbarung in Form eines öffentlich-rechtlichen Vertrages handele, setze die IRV eine Willensübereinstimmung voraus. Werde zwischen den Prüfgremien und dem zu prüfenden Arzt keine Übereinstimmung über den Inhalt der Vereinbarung – insbesondere über die Höhe der zu vereinbarenden Richtgröße – erzielt, seien die Verhandlungen gescheitert (Hinweis auf BSG, Urteil vom 28. August 2013, B 6 KA 46/12 R; LSG NRW, Urteil vom 23. Dezember 2015, L 11 KA 94/12).

Die Klägerin habe bereits im Verwaltungsverfahren ausführlich vorgetragen und auf ihre PB hingewiesen. Dem Vorbringen sei zu entnehmen, dass es ihr vorrangig darum gegangen sei, den prozentualen Überschreitungssatz unter den Grenzwert von 25% zu drücken. Hilfsweise habe sie Verhandlungen über eine regressablösende Individualvereinbarung beantragt. Die PS habe diesen Antrag zur Kenntnis genommen und im Bescheid vom 8. November 2016 abgelehnt. Verhandlungen hätten nicht stattgefunden.  

Entgegen der Auffassung des Beklagten sei jedoch nach Sinn und Zweck des Gesetzes auch bereits im Stadium der individuellen Beratung auf Antrag des Arztes über den Antrag auf eine individuelle Richtgröße zu verhandeln. Unter Berücksichtigung der historischen Gesetzesentwicklung und insbesondere von Sinn und Zweck der IRV überzeuge die isoliert am Wortlaut orientierte Interpretation des Beklagten die Kammer nicht. § 106 Abs. 5e SGB V a.F. und damit auch die individuelle Beratung seien erst im Jahr 2012 – und damit nach § 106 Abs. 5d SGB V a.F. – in das Gesetz aufgenommen worden. Die Gesetzesbegründung gebe keinen Aufschluss über das Verhältnis dieser Anträge. Festzuhalten sei jedoch, dass es sich bei dem Antrag auf Verhandlung über eine IRV um ein „Mehr“ gegenüber dem Antrag auf Anerkennung von PB handele. Die Praxisbesonderheiten seien im solchermaßen vorgegebenen Verhandlungsprogramm nur eine beispielhafte, wenngleich hervorgehobene Facette („unter Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten“). Die Richtgröße werde jedoch auch durch andere Faktoren bestimmt (hierzu § 1 ff. der RgV 2006). All das sei ggf. Verhandlungsgegenstand (Hinweis auf LSG NRW, Urteil vom 23. Dezember 2015 –  L 11 KA 94/12).

Gesetzessystematisch seien zwei Varianten einer Auslegung denkbar. Zunächst könnte man die Absätze 5d) und 5e) – wie der Beklagte – isoliert betrachten und damit feststellen, dass bei Festsetzung einer individuellen Beratung nur ein Antrag auf Anerkennung von Praxisbesonderheiten gestellt werden könne. Die regressablösende Individualvereinbarung könnte dann nur auf der zweiten Stufe, d.h. nach Festsetzung eines Regresses in Betracht kommen. Eine derartige Interpretation widerspräche zur Überzeugung der Kammer jedoch fundamental dem Sinn und Zweck der Wirtschaftlichkeitsprüfung, insbesondere der Richtgrößenprüfung, der darin bestehe, das Verordnungsverhalten der Ärzte einerseits zu begrenzen, andererseits aber auch zu steuern. Wolle man einen möglichst guten Steuerungseffekt herbeiführen, setze dies ein möglichst frühzeitiges Eingreifen voraus. Darüber hinaus biete eine IRV eine Rechtssicherheit auf Seiten des Arztes, der damit seinen individuellen Verordnungsrahmen kenne und – aufgrund der beiderseitig notwendigen Willensübereinstimmung – auch akzeptiere. § 106 Abs. 5d Satz 1 SGB V a.F. setze voraus, dass die individuelle Richtgröße einerseits eine wirtschaftliche Verordnungsweise, andererseits die Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten gewährleiste. Zudem habe eine IRV für den Vertragsarzt deutlich weitergehende Folgen als eine Beratung, weil sie den Vertragsarzt zukünftig an eine individuelle Richtgröße binde und ihm im Falle der Überschreitung dieser Richtgröße die Möglichkeit nehme, diese nachträglich in Zweifel zu ziehen; auch die nachträgliche Geltendmachung von Praxisbesonderheiten sei ausgeschlossen (Hinweis auf BSG, Urteil vom 28. August 2013, B 6 KA 46/12 R m.w.N.). Auch ziehe ein Verstoß gegen die individuelle Richtgröße härtere Sanktionen nach sich als eine Überschreitung der regulären Richtgrößen. Bei einer Überschreitung der individuellen Richtgröße sei der komplette Mehraufwand zu erstatten. Einen „Toleranzbereich" wie in § 106 Abs. 5a Satz 1 und 3 SGB V a.F. – mit einer erst bei einer Überschreitung von mehr als 25 v.H. eingreifenden Erstattungspflicht – gebe es insoweit nicht. Hinzu komme, dass die Vereinbarung einer individuellen Richtgröße eine „Feinjustierung“ der speziellen Situation der Arztpraxis beinhalte, sodass es eines Toleranzbereiches wie bei der – vergröbernden – arztgruppenspezifischen Richtgröße nicht bedürfe (BSG, Urteil vom 28. August 2013, B 6 KA 46/12 R). So könne zukünftigem Fehlverhalten wirksam vorgebeugt werden, indem durch die Vereinbarung einer individuellen Richtgröße – anstelle einer auf die Vergangenheit gerichteten Beratung oder Ausgleichspflicht – eine auf die Zukunft gerichtete Begrenzung des Verordnungsvolumens der Arztpraxis unter Berücksichtigung seiner Praxisstruktur gewährleistet werde (FraktE-GMG, BT-Drucks 15/1525 S 117 zu Nr. 82 <§ 106> Buchst. k).

Die Auffassung des Beklagten würde hingegen dazu führen, dass ein Arzt, der erstmalig im Rahmen der Richtgrößenprüfung auffalle, den Grenzwert von 25% überschreite und eine Beratung erhalte, zunächst in einem weiteren Prüfzeitraum eine Überschreitung provozieren müsse, um überhaupt mit den Prüfgremien in ein Gespräch über eine individuelle Sondersituation kommen zu können. Dies widerspräche fundamental dem Zweck der Steuerung des Verordnungsverhaltens. Die Steuerungsfunktion der Wirtschaftlichkeitsprüfung gebiete es, dass sich die Prüfgremien – auf Antrag eines Arztes – mit diesem über eine individuelle Richtgröße austauschen, um so zukünftig weiteren Probleme im Verordnungsverhalten zu begegnen und dem Arzt auch eine Sicherheit über seine Grenzwerte zu vermitteln. In diesem Sinne sei auch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu verstehen (Hinweis auf Urteil vom 28. August 2013 – B 6 KA 46/12 R). Eine individuelle Richtgröße könne solange vereinbart werden, solange es noch nicht zur Festsetzung eines Regresses gekommen sei.

Das Urteil ist dem Beklagten am 13. November 2020 zugestellt worden. 

Die dagegen gerichtete Berufung des Beklagten ist am 4. Dezember 2020 bei dem Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingegangen.

Der Beklagte trägt vor, entgegen der Ansicht des Sozialgerichts sei nicht bereits im Stadium der individuellen Beratung über den Antrag des Arztes auf Vereinbarung einer individuellen Richtgröße zu verhandeln. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 106 Abs. 5d S. 1 SGB V a.F. könne eine individuelle Richtgröße nur vereinbart werden, wenn ein Regressbetrag und keine individuelle Beratung festgesetzt worden sei. In § 106 Abs. 5e Satz 4 SGB V a.F. sei für die individuelle Beratung allein geregelt, dass im Rahmen der Beratung die Vertragsärzte in begründeten Fällen eine Festsetzung der Prüfstelle über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten beantragen könnten. Die Ansicht des Sozialgerichts zur Gesetzesbegründung überzeuge nicht. Dort werde ausschließlich die regressersetzende Wirkung der individuellen Richtgrößenvereinbarung erwähnt. Der Gesetzesbegründung sei zu entnehmen, dass mit dem Abschluss einer individuellen Richtgrößenvereinbarung die Festsetzung eines Regresses vermieden werden solle. Aus der Begründung gehe nicht hervor, dass eine individuelle Beratung ersetzt werden solle. Demgegenüber erwähne die Gesetzesbegründung zu § 106 Abs. 5e SGB V a.F. die Möglichkeit des Antrages über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten. Die Tatsache, dass § 106 Abs. 5e SGB V a.F. erst am 1. Januar 2012 und somit nach § 106 Abs. 5e SGB V a.F. in Kraft getreten sei, spreche gerade dafür, dass der Gesetzgeber bei entsprechender Intention eine ausdrückliche Klarstellung im Sinne der Rechtsansicht des Sozialgerichts in das Gesetz aufgenommen hätte. Ferner ergänze § 106 Abs. 5d SGB V a.F. die Regelung des § 106 Abs. 5a Satz 4 SGB V a.F. – „Vertrag vor Verwaltungsakt“ –, der ebenfalls eine einvernehmliche Regelung hinsichtlich einer Minderung des Erstattungsbetrages vorsehe. Wie diese Regelung solle auch die freiwillige individuelle Vereinbarung Vorrang vor einer Regressfestsetzung haben. Diese wortlautorientierte Auslegung widerspräche auch nicht dem Sinn und Zweck der Wirtschaftlichkeitsprüfung in Gestalt der Richtgrößenprüfung. Durch die mögliche Feststellung und Anerkennung von Praxisbesonderheiten bleibe das wirtschaftliche Risiko infolge einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens kalkulierbar und es werde Rechtssicherheit hergestellt. Im Urteil des Bundessozialgerichts vom 28. August 2013 – B 6 KA 46/12 R – werde ebenfalls gefordert, dass es sich um einen vom Vertragsarzt zu erstattenden Mehraufwand handeln müsse. Im Urteil werde ausschließlich die Begrifflichkeit „Mehraufwand“ (das heißt: Regress) verwendet. Im dortigen Rechtsstreit habe das Bundessozialgericht entgegen der Rechtsauffassung des dortigen Landessozialgerichts festgestellt, dass bei Anfechtung eines Regressbescheides die Entscheidung offen sei und dann Raum für Verhandlungen über eine individuelle Richtgrößenvereinbarung bestehe. Es könne daher nicht – wie vom Sozialgericht– geschlussfolgert werden, dass eine individuelle Richtgrößenvereinbarung auch bei angefochtener Festsetzung einer individuellen Beratung abgeschlossen werden könne. Die individuelle Richtgrößenvereinbarung habe ausschließlich eine regressersetzende Wirkung. Durch die Regelung solle nach den Gesetzgebungsmaterialien anstelle einer auf die Vergangenheit gerichteten Ausgleichspflicht eine für die Zukunft wirksame Begrenzung des Verordnungsvolumens der Arztpraxis gewährleistet werden. Die Regelung ermögliche es, eine Prüfmaßnahme – die Festsetzung eines Mehrbetrages – vollständig durch den Abschluss einer auf die Zukunft bezogenen individuellen Richtgrößenvereinbarung zu ersetzen. Nach dem Sinn und Zweck bestehe im Stadium der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzung für eine individuelle Beratung keine Verpflichtung, in Verhandlung über eine regressablösende Individualvereinbarung zu treten. Aus der Gesetzesentwicklung ergebe sich, dass der Gesetzgeber nicht über den Wortlaut des § 106 Abs. 5e SGB V hinaus Ärzten die Möglichkeit habe geben wollen, einen Antrag auf eine individuelle Richtgrößenvereinbarung zu stellen. Davon sei aufgrund der dargestellten zeitlichen Abfolge auszugehen.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 28. Oktober 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Die Beigeladenen stellen keine Anträge.

Die Klägerin trägt vor, dass der Vertragsarzt im Rahmen einer Wirtschaftlichkeitsprüfung ein Antrag auf Vereinbarung einer individuellen Richtgrößenvereinbarung für den Fall der Feststellung einer unwirtschaftlichen Verordnungsweise stellen könne. Dies verpflichte die Prüfungsstelle bzw. Beschwerdeausschuss, in Verhandlung über eine solche einzutreten. Nachweislich habe der Beklagte dies unterlassen. Ein Stufenverhältnis zwischen dem Anspruch auf Verhandlung über eine individuelle Richtgröße zu dem Anspruch auf regressablösende Beratung bestehe nicht. Beiden sei gemeinsam, dass sie erst dann zur Anwendung kämen, sofern die Prüfgremien eine unwirtschaftliche Verordnungsweise festgestellt hätten. Es sei daher nicht nachvollziehbar, was der Beklagte meine, dass im Stadium einer individuellen Beratung nicht über einen Antrag über eine individuelle Richtgröße zu verhandeln sei. Im Falle der erstmaligen Unwirtschaftlichkeit sei eine Umwandlung des Regresses in eine Beratung zwingend durch § 106 Abs. 5e SGB V vorgeschrieben. Gleichfalls sehe das Gesetz in § 106 Abs. 5d Satz 1 SGB V zwingend vor, ist die Prüfungsstelle bzw. Beschwerdeausschuss in Verhandlungen über eine individuelle Richtgrößenvereinbarung treten müsse.

Nach dem Wortlaut des § 106 Abs. 5d SGB V müsse ein zu erstattender Mehraufwand vorhanden sein, bevor überhaupt über eine individuelle Richtgröße nachgedacht werden könne. Der Rückschluss des Beklagten, dass es für den Fall der individuellen Beratung auf die individuelle Richtgröße nicht ankommen könne, sei schon allein deshalb falsch, da die Beratung-vor-Regress-Regel erst nach § 106 Abs. 5d SGB V überhaupt eingeführt worden sei. Sofern die Rechtsfolge, dass immer zunächst eine regressablösende Beratung zu erfolgen habe und nicht in einem solchen Fall über eine individuelle Richtgröße diskutiert werden solle, gewollt gewesen wäre, wäre dies bei Einführung von § 106 Abs. 5e SGB V ausdrücklich niedergeschrieben worden.

Hinsichtlich des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung vom 24. April 2024 wird auf das Protokoll (Bl. 188 ff. d.A.) verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die zulässige Klage zu Recht als begründet angesehen.

Soweit das Sozialgerichts verfahrensfehlerhaft entgegen § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, obwohl nur die Zustimmungen der Klägerin, des Beklagten und der Beigeladenen zu 1. und 7., nicht aber die Zustimmungen der Beigeladenen zu 2. bis 6. vorgelegen haben, war der Senat nicht an einer Entscheidung in der Sache gehindert. Die mündliche Verhandlung in der Berufungsinstanz vor dem Senat heilt einen etwaigen Gehörsverstoß (vgl. BeckOK Grundgesetz/Radtke <Stand:15.8.2023>, Art. 103 Rn. 17 m.w.N.) und genügt dem Erfordernis der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach Art. 6 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung nach § 159 SGG haben nicht vorgelegen.

Der Beschluss des Beklagten vom 27. Juli 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Der Beklagte muss über den Widerspruch der Klägerin gegen die Entscheidung der PS neu entscheiden und mit der Klägerin insbesondere in Verhandlungen über den Abschluss einer individuellen Richtgrößenvereinbarung (IRV) treten.

Die Rechtmäßigkeit der Richtgrößenprüfung als solche unterliegt keinen Zweifeln, insoweit nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen in der angegriffenen Entscheidung, S. 8 oben (§ 153 Abs. 2 SGG).

Die Anforderungen an die Festsetzung einer individuellen Beratung als Rechtsfolge einer Wirtschaftlichkeitsprüfung in Gestalt einer Richtgrößenprüfung ergaben sich im maßgeblichen Zeitraum, der hinsichtlich der materiellen Vorschriften der Prüfzeitraum war (vgl. BSG, Urt. v. 28. Oktober 2015 – B 6 KA 45/14 R, MedR 2016, 735 = juris Rn. 23; Rademacker, GuP 2020, 49 <54 f.>), aus § 106 Abs. 1, Abs. 1a, Abs. 5a, Abs. 5d und Abs. 5e SGB V in der vom 26. Oktober 2012 bis 31. Dezember 2016 geltenden Fassung (seinerzeit zuletzt geändert durch das Zweite Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 19. Oktober 2012, BGBl. I, S. 2192; im Weiteren: SGB V a.F.).

Die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen – über ihre Prüfgremien gemäß § 106 Abs. 4 SGB V a.F. – überwachen nach § 106 Abs. 1 SGB V a.F. die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung durch Beratungen und Prüfungen. In erforderlichen Fällen berät die in Absatz 4 genannte Prüfungsstelle die Vertragsärzte auf der Grundlage von Übersichten über die von ihnen im Zeitraum eines Jahres oder in einem kürzeren Zeitraum erbrachten, verordneten oder veranlassten Leistungen über Fragen der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung (§ 106 Abs. 1a SGB V a.F.).

Beratungen nach Absatz 1a bei Überschreitung der Richtgrößenvolumen nach § 84 Abs. 6 und Abs. 8 SGB V a.F. werden gemäß § 106 Abs. 5a Satz 1 SGB V a.F. durchgeführt, wenn das Verordnungsvolumen eines Arztes in einem Kalenderjahr das Richtgrößenvolumen um mehr als 15 vom Hundert übersteigt und auf Grund der vorliegenden Daten die Prüfungsstelle nicht davon ausgeht, dass die Überschreitung in vollem Umfang durch Praxisbesonderheiten begründet ist (Vorab-Prüfung). Bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 vom Hundert hat nach § 106 Abs. 5a Satz 3 SGB V a.F. der Vertragsarzt nach Feststellung durch die Prüfungsstelle den sich daraus ergebenden Mehraufwand den Krankenkassen zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist. Die Prüfungsstelle soll vor ihren Entscheidungen und Festsetzungen auf eine entsprechende Vereinbarung mit dem Vertragsarzt hinwirken, die eine Minderung des Erstattungsbetrages um bis zu einem Fünftel zum Inhalt haben kann (Abs. 5a Satz 4). 

Nach § 106 Abs. 5d Satz 1 SGB V a.F. wird ein vom Vertragsarzt zu erstattender Mehraufwand abweichend von Absatz 5a Satz 3 nicht festgesetzt, soweit die Prüfungsstelle mit dem Arzt eine individuelle Richtgröße vereinbart, die eine wirtschaftliche Verordnungsweise des Arztes unter Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten gewährleistet. In dieser Vereinbarung muss sich der Arzt verpflichten, ab dem Quartal, das auf die Vereinbarung folgt, jeweils den sich aus einer Überschreitung dieser Richtgröße ergebenden Mehraufwand den Krankenkassen zu erstatten (Abs. 5d Satz 2). Die Richtgröße ist für den Zeitraum von vier Quartalen zu vereinbaren und für den folgenden Zeitraum zu überprüfen, soweit hierzu nichts anderes vereinbart ist (Abs. 5d Satz 3).

Gemäß § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. erfolgt abweichend von Absatz 5a Satz 3 bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent eine individuelle Beratung nach Absatz 5a Satz 1. Ein Erstattungsbetrag kann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeitraum nach der Beratung festgesetzt werden. Dies gilt entsprechend, wenn ein Vertragsarzt die ihm angebotene Beratung abgelehnt hat. Im Rahmen der Beratung nach Satz 1 können Vertragsärzte in begründeten Fällen eine Feststellung der Prüfungsstelle über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten beantragen.

Das Sozialgericht ist von einer zutreffenden Binnensystematik der o.g. Rechtsnormen zueinander ausgegangen, nach der die Handlungsvarianten der Absätze 5d und 5e des § 106 SGB V a.F. gleichermaßen für Beratung und Regress gelten (1). Dies führt dazu, dass der vom Bundessozialgericht aus der Binnensystematik des Absatz 5d abgeleitete Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über Verhandlungen zum Abschluss einer IRV auch dann greift, wenn in der Rechtsfolge andernfalls nicht ein Regress, sondern wegen Absatz 5e eine individuelle Beratung festzusetzen wäre (2). In gleicher Weise wie beim Regress führt die ermessensfehlerhafte Ablehnung von Verhandlungen zur Rechtswidrigkeit der Festsetzung der Beratung, mit der Folge, dass der Beklagte zur Neubescheidung nach einer Entscheidung über Verhandlungen zum Abschluss einer IRV zu verurteilen war (3).

(1) Der Abschluss einer individuelle Richtgrößenvereinbarung steht nicht nur der Festsetzung der Erstattung eines Mehraufwandes entgegen; im Falle einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % gilt dies auch für die individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e S. 1 SGB V a.F. Dies folgt insbesondere aus der Binnensystematik der Vorschriften unter Beachtung von Sinn und Zweck der Regelungen und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

Nur eine isolierte Wortlautbetrachtung der einzelnen Rechtssätze in § 106 Abs. 5d und Abs. 5e SGB V a.F. lässt sich als Argument für die vom Beklagten favorisierte Auslegung anführen: Denn die IRV ist allein in § 106 Abs. 5d SGB V a.F. erwähnt. Demgegenüber sieht § 106 Abs. 5e Satz 2 SGB V keine IRV vor, sondern allein einen Antrag auf die Anerkennung von Praxisbesonderheiten, der wiederum beim Regress zwar nicht in Abs. 5d genannt wird, allerdings sind Praxisbesonderheiten bereits in den allgemeinen Vorschriften über die Richtgrößenprüfung in Abs. 5a genannt und hiernach zu berücksichtigen. Bereits dieses Zusammenspiel der Absätze 5a, 5d und 5e legt es aber nahe, die Absätze 5d und 5e nicht jeweils als isoliert zu betrachtende Ausnahmevorschriften zu Absatz 5a auszulegen, sondern als einen Verbund von Ausnahme- und Konkretisierungsvorschriften, die die bereits aus Absatz 5a folgenden oder zumindest vorgezeichneten Grundsätze „Vertrag vor Verwaltungsakt“ und „Beratung vor Regress“ näher konkretisieren. Aufgrund dieser Gesamtsystematik mit Absatz 5a, die im Wortlaut dadurch zum Ausdruck kommt, dass im jeweiligen Satz 1 die Formulierung „abweichend von Absatz 5a Satz 3“, können die Regelungen der Absätzen 5d und 5e auch untereinander als voneinander getrennt und abgeschlossen angesehen werden. Dagegen spricht auch der Regelungsinhalt, denn letztlich regelt Absatz 5e einen Unterfall des Absatzes 5d: Den von beiden Absätzen erfassten Fällen ist gemeinsam, dass im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung eine Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 vom Hundert und ein daraus resultierender, grundsätzlich zu erstattender Mehraufwand ermittelt wurde. Der in Absatz 5e geregelte Unterfall ist eine erstmalige Überschreitung, die dazu führt, dass der nach Absatz 5a Satz 3 festgestellte Erstattungsbetrag nicht festgesetzt wird. Konsequent wurden seinerzeit in der Kommentarliteratur (vgl. Scholz, in: Becker/Kingreen, 4. Aufl. 2014, § 106 Rn. 9) der Antrag auf Anerkennung von Praxisbesonderheiten und der Antrag auf Vereinbarung einer individuellen Richtgrößenvereinbarung als nebeneinander stehende Alternativen angesehen.

Die Gesetzgebungsgeschichte erweist sich als wenig ergiebig für das Auslegungsproblem; allein aus der zeitlichen Abfolge der Aufnahme der beiden Absätze in § 106 SGB V (Abs. 5d vor dem erst 2012 in Kraft getretenen Abs. 5e) könnte einerseits gefolgert werden, der Gesetzgeber habe allein einen weiteren Unterfall der verhältnismäßigen Abmilderung der Sanktionsfolgen regeln wollen, was für die Rechtsauffassung des Sozialgerichts und der Klägerin spräche, andererseits hätte es dann nahegelegen, dies in Abs. 5d selbst zu regeln, um die hier diskutierte Unklarheit erst gar nicht aufkommen zu lassen. Allerdings ist auch festzustellen, dass im Rahmen der Einführung des Absatzes 5e andernorts zwingend gebotene normsystematische Überlegungen nicht angestellt wurden: In § 106 Abs. 5c Satz 7 SGB V a.F. wurde eine frühere und nunmehr widersprechende Rechtsfolge der erstmaligen Überschreitung – Begrenzung der Mehrkosten auf 25.000 € – nicht gestrichen (vgl. Seifert, in: Eichenhofer/Wenner, SGB V, 2. Aufl. 2016, § 106 Rn. 23: „kuriose Situation“). Diese ältere Regelung einer Rechtsfolgenbegrenzung außerhalb von Absatz 5d spricht allerdings dafür, dass man dem Umstand, dass einzelne Rechtssätze in einem eigenen Absatz geregelt wurden, sei es in Absatz 5d oder in Absatz 5e, gerade keine abgrenzende Bedeutung entnehmen kann. Es gibt jedenfalls kein durchgreifendes entstehungsgeschichtliches Argument, das der Sichtweise entgegensteht, Absatz 5e regele einen Unterfall des Absatz 5d und ergänze die dortigen Regelungen.

Der Zweck der IRV und ihre Stellung im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung sprechen für die Möglichkeit der Vereinbarung einer individuellen Richtgröße bereits bei der erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 vom Hundert. Nach Auffassung des Bundessozialgerichts ist in § 106 Abs. 5d Satz 1 SGB V eine Ermächtigung der Prüfgremien zu sehen, von den – ansonsten zwingenden – gesetzlichen Vorgaben über die Festsetzung der Mehrbedarfe abzuweichen; es gibt ihnen ein entsprechendes Initiativrecht, aber ohne Antrag des geprüften Arztes (dazu sogleich) auch keine Pflicht, auf den Abschluss einer IRV hinzuwirken, obwohl nach dem Willen des Gesetzgebers (FraktE-GMG, BT-Drucks. 15/1525 S 116 zu Nr. 82 <§ 106> Buchst. j Doppelbuchst. dd) der Abschluss einer IRV Vorrang vor einer Regressfestsetzung haben soll (BSG, Urteil vom 28. August 2013 – B 6 KA 46/12 R – juris Rn. 19). Diese Sichtweise im Sinne einer Option zur Feinsteuerung entspricht es, dass das Bundessozialgericht zutreffend davon ausgeht, eine individuelle Richtgrößenvereinbarung könne auch nach Festsetzung eines Regresses durch die Prüfungsstelle im Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss geschlossen werden (vgl. ausf. BSG, Urteil vom 28. August 2013 – B 6 KA 46/12 R – juris Rn. 21 ff.). Insbesondere eine zeitliche Begrenzung der Möglichkeit, eine IRV abzuschließen, lehnt der 6. Senat ab (Rn. 28): „Durch die Vereinbarung einer individuellen Richtgröße soll – anstelle einer auf die Vergangenheit gerichteten Ausgleichspflicht – eine auf die Zukunft gerichtete Begrenzung des Verordnungsvolumens der Arztpraxis gewährleistet werden (FraktE-GMG, BT-Drucks 15/1525 S 117 zu Nr. 82 <§ 106> Buchst. k). Dieses Ziel wird durch die Möglichkeit, auch noch vor dem Beschwerdeausschuss eine individuelle Richtgröße zu vereinbaren, nicht wesentlich beeinträchtigt. Zwar wäre denkbar, dass ein Arzt, dem bewusst ist, dass er fortlaufend die Richtgrößen überschreitet und dies auch weiterhin tun wird, die Möglichkeit nutzen könnte, um über einen längeren Zeitraum der Festsetzung eines Regresses zu entgehen, indem er erst unmittelbar vor (oder in) der Verhandlung vor dem Beschwerdeausschuss den Abschluss einer IRV beantragt. Dies führte aber allein dazu, dass der Arzt erst ab einem späteren Zeitpunkt an die (ggf.) vereinbarte Richtgröße gebunden wäre, weil die Wirkungen der IRV nach § 106 Abs. 5d Satz 2 SGB V erst in dem der Vereinbarung nachfolgenden Quartal eintreten. Auf die regressersetzende Wirkung der IRV wirkte sich diese Verzögerung nicht aus: Unabhängig davon, wann die IRV abgeschlossen wird, bewirkt sie nur, dass für das konkret geprüfte Jahr keine Regressfestsetzung mehr erfolgen dürfte, stünde aber einer Regressfestsetzung für spätere Prüfzeiträume in (ggf.) nachfolgenden Prüfverfahren nicht entgegen.“ Es ist nicht erkennbar, warum dieses Instrument den Prüfgremien nicht bereits bei der erstmaligen Überschreitung zur Verfügung stehen sollte.

Mit dem Sozialgericht ist hervorzuheben, dass die Steuerungsfunktion der Norm verstärkt wird, wenn ein möglichst frühzeitiges Eingreifen ermöglicht wird. Auch die Vorzüge der IRV, eine Rechts- und Planungssicherheit auf Seiten des Arztes zu schaffen, in dem er seinen individuellen Verordnungsrahmen kennt und – aufgrund der beiderseitig notwendigen Willensübereinstimmung – auch akzeptiert, verstärkt die praktische Wirksamkeit des Sanktionsinstrumentariums der Richtgrößenprüfung.

Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten wäre es nicht konsistent, im Falle einer erstmaligen und damit vom Gesetzgeber als weniger schwerwiegend eingestuften Überschreitung die besonders privilegierende Rechtsfolge in Gestalt der Möglichkeit der IRV nicht zu eröffnen, wenn sie bei einem schwerwiegenderen, da wiederholten Verstoß eröffnet wird.

(2) Der vom Bundessozialgericht in der vom Sozialgericht zitierten Entscheidung vom 28. August 2013 – B 6 KA 46/12 R – juris Rn. 20, dargestellte Anspruch auf Verhandlungen, sobald der geprüfte Arzt einen Antrag auf Abschluss einer IRV beantragt, besteht konsequent auch bei der erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 vom Hundert. Die Prüfgremien sind dann verpflichtet, in Verhandlungen über den Abschluss einer IRV einzutreten und dürfen den Abschluss einer IRV nicht aus sachfremden Gründen vereiteln (Seifert, in: Eichenhofer/Wenner, SGB V, 2. Aufl. 2016, § 106 Rn. 23; BSG a.a.O.).

Die unter (1) genannten Erwägungen sprechen gleichermaßen für die Übertragung des Anspruchs auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über Verhandlungen auch auf den Unterfall des § 106 Abs. 5e SGB V. Wie das Sozialgericht zu Recht hervorgehoben hat, würde anderenfalls die Steuerungswirkung der die IRV regelnden Normen geschwächt: Die Auffassung des Beklagten würde dazu führen, dass ein Arzt, der erstmalig im Rahmen der Richtgrößenprüfung auffällt, den Grenzwert von 25% überschreitet und eine Beratung erhält, zunächst in einem weiteren Prüfzeitraum eine Überschreitung provozieren müsste, um überhaupt mit den Prüfgremien in ein Gespräch über seine individuelle Sondersituation kommen zu können. Dies widerspräche fundamental dem Zweck der Steuerung des Verordnungsverhaltens (Urteil des Sozialgerichts, S. 10). Diese Problematik wird auch von den Befürwortern der Rechtsauffassung der Beklagten in der rechtswissenschaftlichen Literatur gesehen, ohne aber daraus Konsequenzen zu ziehen (Engelhart, in: Hauck/Noftz, SGB V <Stand: 11. Erg.lfg. 2017>, § 106 Rn 219a): „Die Bestimmung hat ungeachtet des durch § 106 Abs. 5e vorgegebenen Vorrangs der Beratung (siehe Rz 212 ff.) weiterhin Bedeutung, wenn auch nunmehr erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung.“ Einer solchen „zeitlichen Verzögerung“ im Sinne einer Sanktionsstufung fehlt ein sachlicher Grund bzw. – wie oben unter (1) am Ende ausgeführt – die Konsistenz der Stufung.

(3) Aus der Stellung der Verhandlung über die IRV im Verfahren der Richtgrößenprüfung folgt, dass die Prüfgremien an der Festsetzung eines Regresses oder einer Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V gehindert sind, wenn es zum Abschluss einer Vereinbarung kommt. Dies gilt – wie oben entsprechend dem Bundesozialgericht ausgeführt – auch im fortgeschrittenen Verfahren: Wird der Regressbescheid der Prüfungsstelle angefochten, ist die Entscheidung in der Sache wieder offen und damit auch Raum für Verhandlungen über eine IRV. Kommt es sodann zur Vereinbarung einer individuellen Richtgröße im Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss, ist nunmehr dieser gehindert, einen Regress festzusetzen (BSG a.a.O. Rn. 26 f.). Hieraus hat das Bundessozialgericht den Schluss gezogen, dass die Verweigerung bzw. die sachfremde Verweigerung von Verhandlung auf die Rechtmäßigkeit des betreffenden Bescheides – dort: den Regressbescheid – durchschlägt. Dem schließt sich der Senat aufgrund der verfahrensrechtlichen Stellung der Verhandlung über eine IRV an.

Vorliegend hat die Klägerin bereits mit Schreiben vom 15. Juli 2016 – eingegangen bei der Prüfungsstelle am 18. Juli 2016 – Verhandlungen über einer IRV beantragt. Die Prüfungsstelle hat nach der Begründung in ihrem Bescheid auf S. 12 (Bl. 79 der Verwaltungsakte) allein aus den von ihr auch im gerichtlichen Verfahren angestellten Überlegungen zu Wortlaut und Systematik der Norm die Möglichkeit für Verhandlungen im Falle der Variante des Absatzes 5e nicht eröffnet gesehen und damit ihre Ermessensgrenzen für die Aufnahme von Verhandlungen unterschritten. Der Bescheid der Beklagten weist keine diesbezügliche Begründung auf, mithin perpetuierte sich der Ermessensfehler, wie auch der Vortrag der Beklagten im gerichtlichen Verfahren zeigt.

Der Beklagte ist aufgrund des Bescheidungsurteils gehalten, mit der Klägerin deren Wunsch nach Abschluss einer IRV zu erörtern und je nach Ausgang der Verhandlungen neu zu entscheiden. Das Verhandlungsmandat über die IRV im gestuften Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung liegt in diesem Stadium bei dem Beklagten und nicht etwa bei der PS (BSG a.a.O. Rn. 27). Der Begriff der „Festsetzung“ in § 106 Abs. 5d Satz 1 SGB V ist so zu lesen, dass sich die regressersetzende Wirkung einer IRV auf die jeweilige Verwaltungsinstanz bezieht. Es wäre – wie auch das Bundessozialgericht betont – wenig plausibel, dem Beschwerdeausschuss grundsätzlich dieselben Kompetenzen einzuräumen wie der PS, ihm jedoch den Abschluss einer IRV zu versagen. Etwas anderes folgt auch nicht aus der auf den streitgegenständlichen Zeitraum in Hessen anzuwendenden Prüfvereinbarung nach § 106 Abs. 3 SGB V a.F.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen waren insbesondere mangels Antragstellung nicht zu erstatten (§ 197a SGG i.V.m. § 162 Abs. 3 VwGO).

Revisionszulassungsgründe sind nicht ersichtlich; die Rechtsfragen bezüglich des Verhältnisses zwischen § 106 Abs. 5d und § 106 Abs. 5 SGB V a.F. betreffen außer Kraft getretenes Recht. Bei Rechtsfragen zu bereits außer Kraft getretenem Recht muss für eine grundsätzliche Bedeutung entweder noch eine erhebliche Zahl von Fällen auf der Grundlage des ausgelaufenen Rechts zu entscheiden sein, oder die Überprüfung der Rechtsnorm bzw. ihrer Auslegung muss aus anderen Gründen fortwirkende allgemeine Bedeutung haben (BSG, Beschluss vom 19. Juli 2012 – B 1 KR 65/11 B –, juris Rn. 10 m.w.N.). Solche Umstände sind hier weder vorgetragen noch sonst erkennbar.
 

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