Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 8. September 2022 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 384 774,37 Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
I
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Die Beteiligten streiten (noch) um die Erstattung von Kosten iHv 384 774,37 Euro, die in der Zeit vom 28.2.1999 bis 31.7.2008 für eine am 24.7.1989 geborene Leistungsempfängerin (L) aufgewandt worden sind. Der klagende Landkreis, der diese Aufwendungen als Träger der Jugendhilfe der Stadt W erstatten musste, verlangt seinerseits Kostenerstattung von dem beklagten überörtlichen Sozialhilfeträger.
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L war seit dem 2.1.1995 in einer Einrichtung untergebracht; die Stadt W, in deren Zuständigkeitsbereich die Mutter von L lebte, übernahm die Kosten als Hilfe zur Erziehung in Form stationärer Unterbringung bis zum 24.7.2008 (Bescheid vom 26.1.1995) und über den Eintritt der Volljährigkeit hinaus bis zum 31.7.2008 als Hilfe für junge Volljährige (Bescheid vom 1.10.2007). Bei L bestanden deutliche Entwicklungsdefizite im motorischen und sprachlichen Bereich sowie im emotional-sozialen Bereich (spezielle Ängste, geringes Selbstvertrauen, unterentwickelte soziale Kompetenz) und eine körperliche Vernachlässigung (obere Zahnreihe abgefault). Seit Januar 1997 war erstmals auch eine geistige Behinderung dokumentiert; 2000 ist eine leichte Intelligenzminderung bzw eine leichtgradige geistige Behinderung diagnostiziert worden. L war seit April 1998 wegen eines "Entwicklungsrückstands" schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 80 unter Feststellung der Merkzeichen G und B (Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung W - Versorgungsamt - vom 28.4.1998).
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Am 28.2.1999 zog die seit Ende 1997 allein sorgeberechtigte Mutter ins Kreisgebiet des Klägers. Der Aufforderung der Stadt vom 19.4.1999, den Jugendhilfefall als nun örtlich zuständiger Jugendhilfeträger zu übernehmen und die ab dem Zuzug der Mutter entstandenen Kosten der Jugendhilfe zu erstatten, kam der Kläger unter Hinweis auf die Zuständigkeit des Beklagten für die vorrangige Eingliederungshilfe für geistig behinderte junge Menschen wiederholt nicht nach. Erst nach rechtskräftiger Verurteilung zur Erstattung der Kosten der Jugendhilfe (für die Zeit ab 28.2.1999) und zur zukünftigen Fallübernahme in eigener örtlicher Zuständigkeit (Urteil des Verwaltungsgerichts <VG> Stade vom 26.5.2004; Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts <OVG> vom 25.7.2007; Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts <BVerwG> vom 22.5.2008) erstattete der Kläger der Stadt die bis zum 31.7.2008 angefallenen Kosten und übernahm die vom 1. bis 14.8.2008 angefallenen Heimkosten iHv 1359,17 Euro in eigener Zuständigkeit. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren war der Beklagte notwendig beigeladen.
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Spätestens am 23.6.2008 machte der Kläger einen Erstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten geltend, den der Beklagte ablehnte. Die Klage beim Sozialgericht (SG) Stade hat keinen Erfolg gehabt (Urteil vom 21.3.2018). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat das Urteil abgeändert und den Beklagten verurteilt, dem Kläger 1359,17 Euro zu zahlen. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 8.9.2022). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, für die Zeit vom 1.8.2008 bis 14.8.2008 lägen die Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch auf Grundlage von § 104 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsrecht und Sozialdatenschutz - (SGB X) vor. Der Kläger habe für diesen Zeitraum selbst rechtmäßig Sozialleistungen iS des § 104 SGB X, nämlich Leistungen der Jugendhilfe erbracht; diese seien nachrangig gegenüber den Leistungen der Eingliederungshilfe für den gleichen Zeitraum, für die der Beklagte leistungspflichtig sei. Demgegenüber betreffe der Erstattungsanspruch wegen der vom 28.2.1999 bis 31.7.2008 erbrachten Aufwendungen keine Sozialleistungen. In diesem Zeitraum habe der Kläger nicht selbst die Leistungen der Heimerziehung erbracht, sondern die entsprechenden Aufwendungen der Stadt aufgrund einer fortdauernden oder vorläufigen Leistungsverpflichtung iS des § 86c Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII) nach § 89c SGB VIII erstattet. Diese Erstattungsleistung sei kein tauglicher Gegenstand eines (weiteren) Erstattungsverfahrens nach § 104 SGB X.
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Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er rügt eine Verletzung von § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X iVm §§ 86c, 89c SGB VIII und § 10 Abs 4 Satz 2 SGB VIII. Zwischen ihm und der Stadt habe unter Anwendung des § 86c Abs 1 SGB VIII ein gesetzliches Auftragsverhältnis bestanden, sodass die von der Stadt gewährten Jugendhilfeleistungen ihm wie eigene zuzurechnen seien und das Tatbestandmerkmal der "Sozialleistung" iS des § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X erfüllt sei. Nur so könne ein Vorrang-Nachrang-Verhältnis iS des § 10 Abs 4 SGB VIII hergestellt werden. § 86c SGB VIII regele zwar nicht den Wechsel der Zuständigkeit, setze diesen Wechsel jedoch voraus und manifestiere eine gesetzliche (Weiter-)Leistungspflicht des bisherigen Trägers für den neuen Träger. Dabei handele es sich um ein klassisches Auftragsverhältnis, bei dem einem - zuständigen - Leistungsträger das Handeln eines anderen - nicht mehr zuständigen - Leistungsträgers wie ein eigenes Handeln zugerechnet werde. Darüber hinaus würde eine streng grammatikalische Auslegung der "Sozialleistungen" im § 104 Abs 1 Satz1 SGB X zu einem unbilligen Ergebnis führen, weil in der Jugendhilfe eine Weiterleistung im Rahmen des § 86c SGB VIII für einen gewissen Zeitraum eher den Regel- als den Ausnahmefall bilde. Bei einem Fall der Erstattung von im Rahmen des § 86c Abs 1 SGB VIII erbrachter Leistungen gemäß § 89c SGB VIII sei diese als eigene Leistung des Erstattenden anzusehen. Im Übrigen läge der Gedanke der Drittschadensliquidation nahe.
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Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 8. September 2022 zu ändern und das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 21. März 2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, weitere 384 774,37 Euro an ihn zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8
Er hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
II
9
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Zu Recht haben die Vorinstanzen die Klage auf Erstattung von Kosten abgewiesen, soweit diese die Zeit vom 28.2.1999 bis 31.7.2008 betrifft.
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Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch auf Kostenerstattung iHv 384 774,37 Euro, den der Kläger statthaft im Wege der allgemeinen Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG) verfolgt. Nicht mehr Gegenstand ist die Erstattungsforderung für die Zeit vom 1.8.2008 bis 14.8.2008, für die das LSG den Anspruch bejaht und den Beklagten zur Zahlung von 1359,17 Euro verurteilt hat. Der Beklagte hat hiergegen keine Revision eingelegt.
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Von Amts wegen zu beachtende Verfahrensfehler liegen nicht vor. Weder die Hilfeempfängerin noch die Stadt W noch das Diakonische Werk W als Träger der Einrichtung waren gemäß § 75 Abs 2 1. Alt SGG notwendig zum Verfahren beizuladen. Deren Positionen werden weder verfahrens- noch materiellrechtlich durch den Erstattungsstreit der Träger beeinträchtigt (vgl dazu nur BSG vom 25.4.2013 - B 8 SO 6/12 R - RdNr 10 mwN).
12
Als Anspruchsgrundlage kommt nur § 104 SGB X (idF des Gesetzes zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Änderung anderer Vorschriften vom 21.12.2000, BGBl I 1983) in Betracht. § 14 Abs 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (<SGB IX>; hier in der bis 31.12.2017 maßgeblichen Normfassung des Gesetzes zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen vom 23.4.2004, BGBl I 606) scheidet hier als Anspruchsgrundlage aus. Eine zuständigkeitsbegründende Weiterleitung eines Antrages nach § 14 SGB IX liegt nicht vor. Eine Prüfung der Zuständigkeit nach § 14 SGB IX und entsprechende Übergabe des Leistungsfalles seitens der Stadt W, die als örtlicher Träger der Jugend- und der Sozialhilfe zugleich Rehabilitationsträger iS des § 6 Abs 1 Nr 6 und 7 SGB IX gewesen ist, hat mit Inkrafttreten des § 14 SGB IX zum 1.7.2001 nicht stattgefunden (vgl zur Anwendbarkeit des § 14 SGB IX aF auch auf Rehabilitationsverfahren, die vor dem 1.7.2001 begonnen haben: Bundessozialgericht <BSG> vom 13.7.2017 - B 8 SO 1/16 R - BSGE 124, 10 = SozR 43250 § 14 Nr 26, RdNr 20). Zudem ist auf Grundlage der bindenden Feststellungen des LSG mit Eintritt der Volljährigkeit der L keine Zäsur im Leistungsgeschehen eingetreten. Der Heimaufenthalt der L stellt ein einheitliches Rehabilitationsgeschehen dar (dazu BSG vom 19.5.2022 - B 8 SO 9/20 R - SozR 43250 § 14 Nr 31 RdNr 13).
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Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs 1 SGB X vorliegen, ist nach § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Zu Recht hat das LSG ausgeführt, dass für den streitgegenständlichen Zeitraum die Voraussetzungen für einen Anspruch danach nicht erfüllt sind, weil der Erstattungsanspruch nach § 89c SGB VIII (in der insoweit unverändert gebliebenen Fassung, die die Norm mit dem 1. Gesetz zur Änderung des SGB VIII vom 16.2.1993 - BGBl I 239 - erhalten hat), der den geltend gemachten Aufwendungen zugrunde liegt, keine "Sozialleistung" im Sinne der Erstattungsvorschriften der §§ 102 SGB X ff darstellt.
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Der Begriff der Sozialleistung ist - für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs verbindlich (vgl § 37 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - <SGB I>) - in § 11 SGB I definiert. Gegenstand der sozialen Rechte sind danach die in diesem Gesetzbuch vorgesehenen Dienst, Sach- und Geldleistungen (Sozialleistungen). Sozialleistungen sind also solche Leistungen, die der Verwirklichung eines der in §§ 3 bis 10 SGB I genannten sozialen Rechte dienen, im Sozialgesetzbuch geregelt sind und die dem Träger der sozialen Rechte dadurch zugutekommen, dass bei ihm eine vorteilhafte Rechtsposition begründet wird (BSG vom 24.3.1983 - 1 RJ 92/81 - BSGE 55, 40, 44 = SozR 2100 § 27 Nr 2 S 5 f). Erstattungsansprüche der Sozialleistungsträger untereinander rechnen deshalb nach der Rechtsprechung des BSG nicht zu den Sozialleistungen iS des § 11 SGB I, da sie nicht der Verwirklichung sozialer Rechte des Einzelnen dienen, sondern der Wiederherstellung eines rechtmäßigen Zustandes (vgl BSG vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R - BSGE 102, 10 = SozR 42500 § 264 Nr 2, RdNr 19; BSG vom 18.12.1979 - 2 RU 3/79 - BSGE 49, 227, 228 = SozR 1200 § 44 Nr 2 S 8; BSG vom 24.3.1983 - 1 RJ 92/81 - BSGE 55, 40, 44 = SozR 2100 § 27 Nr 2 S 6).
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Um einen Erstattungsanspruch in diesem Sinne und nicht um eine Sozialleistung nach § 11 SGB I handelt es sich auch bei dem spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch aus § 89c Abs 1 Satz 1 SGB VIII. Soweit ein Träger der Jugendhilfe einen solchen Anspruch gegenüber einem anderen Träger der Jugendhilfe erfüllt, kommt dem nicht die Qualität als Sozialleistung zu.
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Der Erstattungsanspruch in § 89c Abs 1 Satz 1 SGB VIII schließt an § 86c Abs 1 SGB VIII (idF des Gesetzes vom 16.2.1993) an, der für den Fall des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit für eine Leistung der Jugendhilfe bestimmt, dass der bisher zuständige örtliche Träger so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet bleibt, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Die Kosten, die der örtliche Träger im Rahmen dieser Verpflichtung aufgewendet hat, sind nach § 89c Abs 1 Satz 1 SGB VIII von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist.
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Diesen Regelungen kann entgegen der Auffassung des Klägers nicht entnommen werden, die Gewährung von Leistungen der Stadt an die Leistungsberechtigte sei ihm - dem Kläger - über ein Auftragsverhältnis wie eigenes Handeln und damit als Sozialleistung zuzurechnen. Es ist zwar anerkannt, dass Sozialleistungen dem Leistungsberechtigten nicht in jedem Falle unmittelbar durch den jeweiligen Träger der Sozialleistungen erbracht werden müssen. Der Leistungsträger kann die Leistungen nicht nur durch Leistungserbringer, sondern gerade auch durch andere Leistungsträger im Rechtssinne selbst erbringen. Voraussetzung dafür ist, dass dem Leistungsträger das Handeln eines anderen Leistungsträgers wie eigenes Handeln zugerechnet werden kann (vgl BSG vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R - BSGE 102, 10 = SozR 42500 § 264 Nr 2, RdNr 22-24; BSG vom 25.4.1989 - 4/11a RK 4/87 - BSGE 65, 31, 33 f = SozR 1300 § 111 Nr 6).
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Notwendige Voraussetzung ist dafür aber, dass der eigentlich leistende Sozialleistungsträger zu dem Leistungsträger, dem das Handeln zugerechnet werden soll, in einem Vertretungs- bzw Auftragsverhältnis steht. Ein solches Auftragsverhältnis kann kraft individueller oder genereller rechtsgeschäftlicher Vereinbarung zwischen Sozialleistungsträgern (vgl § 88 SGB X) oder kraft Gesetzes (vgl § 93 SGB X) bestehen, wobei von einem gesetzlichen Auftragsverhältnis grundsätzlich dann auszugehen ist, wenn einem Leistungsträger (Beauftragten) durch Rechtsvorschrift die Erfüllung von Aufgaben eines anderen Leistungsträgers übertragen wird (Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 93 RdNr 4). Ein solches - zurechenbarkeitsbegründendes - Auftragsverhältnis wird etwa für das Verhältnis zwischen Verwaltungsbehörde und Krankenkasse bezogen auf die in § 18c Abs 1 Satz 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) genannten Leistungen angenommen (BSG vom 25.4.1989 - 4/11a RK 4/87 - BSGE 65, 31, 33 f = SozR 1300 § 111 Nr 6).
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Für die Annahme eines gesetzlichen Auftrages - eine rechtsgeschäftliche Beauftragung scheidet nach den Feststellungen des LSG von vorneherein aus - genügt es, dass das Gesetz die Aufgabe eines Trägers öffentlicher Verwaltung einem anderen Verwaltungsträger überträgt und hierbei die Verpflichtung des ursprünglichen Trägers dem Grunde nach fortbesteht; dabei ist es Sache des Gesetzgebers, das Auftragsverhältnis im Einzelnen auszugestalten (vgl BSG vom 17.6.2008 - B 1 KR 30/07 R - BSGE 101, 42 = SozR 42500 § 264 Nr 1, RdNr 11; BSG vom 21.7.2009 - B 7 AL 49/07 R - BSGE 104, 76 = SozR 44300 § 22 Nr 2, RdNr 22). Wesentliches Kriterium für die Annahme eines gesetzlichen Auftragsverhältnisses ist, dass es sich um ein Tätigwerden in fremdem Interesse, also um die Wahrnehmung einer trotz des Auftrages nach wie vor fremden Angelegenheit handelt.
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Ein solches Auftragsverhältnis liegt bei der Konstellation des § 86c SGB VIII aber nicht vor. Vielmehr erfolgt nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck des § 86c Abs 1 Satz 1 SGB VIII die fortdauernde Leistung alleine als eigene, dem bislang örtlich zuständigen Jugendhilfeträger bis zur tatsächlichen Fallübernahme durch den nunmehr örtlich zuständigen Jugendhilfeträger gesetzlich zugeordnete Aufgabe. Damit ist der aus der Wahrnehmung dieser eigenen Aufgabe folgende Erstattungsanspruch, den der eigentlich örtlich zuständige Träger erfüllt, keine Sozialleistung. Vielmehr sind die Kosten, die ein anderer Träger (wenngleich ohne eigentlich örtlich zuständig zu sein) "im Rahmen seiner Verpflichtung" als Sozialleistung aufgewendet hat, zu erstatten.
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Bei § 86c SGB VIII handelt es sich schon nach dem Wortlaut und der amtlichen Normüberschrift der Ursprungsfassung wie auch der mit Wirkung vom 1.1.2012 in Kraft getretenen Neufassung (vgl insoweit das Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen - Bundeskinderschutzgesetz <BKiSchG> vom 22.12.2011, BGBl I 2975, 2980) aber auch nach Sinn und Zweck der Norm um eine Regelung der fortdauernden Leistungsverpflichtung beim Zuständigkeitswechsel. Mit der Einfügung von § 86c SGB VIII wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass durch einen Zuständigkeitswechsel die Gewährung einer Leistung nicht unterbrochen wird (vgl Beschlussempfehlung des Ausschusses für Frauen und Familie, BT-Drucks 12/3711 S 45). Es soll die Kontinuität der Hilfegewährung für den Leistungsberechtigten im Falle des Zuständigkeitswechsels gewährleisten werden. Die Vorschrift des § 86c Abs 1 Satz 1 SGB VIII entspricht dabei weitgehend § 2 Abs 3 SGB X, weil dieser nach der in der Begründung zum SGB X dargestellten Auffassung im Bereich der Sozial- und Jugendhilfe keine Anwendung findet (BT-Drucks 8/4022 S 80). § 86c Abs 1 Satz 1 SGB VIII enthält keine Zuständigkeitsregelung, sondern setzt sie voraus und ergänzt sie bis zur Fallübernahme durch den nunmehr zuständigen Jugendhilfeträger um eine (Weiter-)Leistungsverpflichtung. Dessen (neue) Zuständigkeit für die Leistungsgewährung nach einem Zuständigkeitswechsel gemäß §§ 86-86b SGB VIII bleibt dabei dem Grunde nach unberührt (vgl BVerwG vom 29.1.2004 - 5 C 9/03 - BVerwGE 120, 116, 118 = Buchholz 436.511 § 86 KJHG/SGB VIII Nr 2).
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§ 86c Abs 1 Satz 1 SGB VIII hat damit die Funktion einer eigenständigen Leistungsverpflichtung des unzuständig gewordenen Leistungsträgers für den Fall, dass der Wechsel in der örtlichen Zuständigkeit nicht nahtlos vollzogen werden kann. Der Leistungsempfänger kann sich bis zur Fallübernahme alleine an den bisher zuständigen Leistungsträger wenden, der ihn nicht an den örtlich zuständigen Leistungsträger verweisen darf. Durch die Anordnung einer fortdauernden Leistungspflicht des bislang zuständigen örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe wird der Leistungsempfänger in verfahrensrechtlicher Hinsicht vor einer Unterbrechung oder Verzögerung der Jugendhilfeleistung bewahrt (BVerwG vom 22.6.2017 - 5 C 3/16 - RdNr 29; Streichsbier in jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl 2022, § 89c RdNr 6). Dabei setzt die Verpflichtung zur Leistung aus § 86c SGB VIII die Kenntnis des bisher zuständigen Trägers vom Zuständigkeitswechsel nicht voraus (BVerwG vom 14.11.2002 - 5 C 51/01 - RdNr 13). Jedenfalls in den Fällen eines den Trägern unbekannten Zuständigkeitswechsels (zB wegen eines nicht mitgeteilten Umzugs der sorgeberechtigten Eltern) fehlt es damit schon an einem "Fremdgeschäftsführungswillen"; auch das spricht gegen ein gesetzliches Auftragsverhältnis, das nicht von der Kenntnis des Zuständigkeitswechsels abhängen kann.
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§ 89c Abs 1 Satz 1 SGB VIII als spezialgesetzlich geregelte Kostenerstattungsverpflichtung folgt diesem Verständnis einer eigenständigen Leistungspflicht des bislang örtlich zuständig gewesenen Trägers. In Ergänzung zu § 86c Abs 1 Satz 1 SGB VIII soll § 89c Abs 1 Satz 1 SGB VIII zum einen bezwecken, den zur fortdauernden Leistung verpflichteten örtlichen Träger, der unzuständig geworden ist, nachträglich von der Kostentragung zu entlasten, und zum anderen den zuständig gewordenen örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe davon abzuhalten, Leistungen aus fiskalischen Gründen nicht oder nur verzögert zu erbringen. Um als unbillig empfundenen Belastungen des seiner Weiterleistungspflicht nachkommenden Trägers der öffentlichen Jugendhilfe entgegenzuwirken, soll derjenige Zustand hergestellt werden, der eingetreten wäre, wenn der zuständig gewordene Jugendhilfeträger den Zuständigkeitswechsel vollzogen hätte. Das gilt gerade auch in Ansehung der vorliegenden Konstellation: Hätte der örtlich zuständig gewordene Jugendhilfeträger den Leistungsfall mit Eintritt seiner Zuständigkeit übernommen, so hätte es von vornherein in seiner Verantwortung gestanden, etwaig vorrangige Erstattungsansprüche gegenüber dem zuständigen Sozialhilfeträger geltend zu machen und gegebenenfalls insoweit den Rechtsweg zu beschreiten. Entscheidet sich der nunmehr zuständige Träger gegen eine Übernahme des Falles und damit gegen die Erfüllung der ihm obliegenden Wahrnehmungskompetenz, so soll das mit der Geltendmachung von Erstattungsansprüchen gegenüber dem Sozialhilfeträger verbundene Prozessrisiko grundsätzlich nicht dem infolge dieser Entscheidung zur Weitergewährung verpflichteten Träger zufallen (zum Ganzen bereits BVerwG vom 22.6.2017 - 5 C 3/16 - Buchholz 436.511 § 89c SGB VIII Nr 4; ebenso Gutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht eV vom 28.5.2021, JAmt 2021, 459 ff). Diese Risikozuweisung macht auch § 89c Abs 2 SGB VIII deutlich, wonach bei pflichtwidrigem Handeln des zuständig gewordenen Trägers zusätzlich ein Betrag in Höhe eines Drittels der Kosten, mindestens jedoch 50 Euro, zu erstatten ist.
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Dem örtlich zuständig gewordenen Träger der Jugendhilfe verbleibt dabei die Befugnis in eigener Zuständigkeit zu prüfen und zu entscheiden, ob und in welchem Umfang nach dem anzuwendenden materiellen Recht (weiterhin) Jugendhilfeleistungen zu gewähren sind. Der Wechsel der örtlichen Zuständigkeit ist damit nicht als Eintritt in ein fremdes Rechtsverhältnis nach Art einer Vertragsübernahme zu bewerten, sondern es wird eine eigene Wahrnehmungskompetenz bewirkt (BVerwG vom 9.12.2004 - 5 B 80/04 - RdNr 6; BVerwG vom 14.11.2002 - 5 C 51/01 - BVerwGE 117, 179, 183 = Buchholz 436.511 § 89c KJHG/SGB VIII Nr 2; Bohnert in Hauck/Noftz SGB VIII, § 86c RdNr 5). Auch das spricht gegen ein gesetzliches Auftragsverhältnis vor tatsächlicher Fallübernahme, weil nicht die Jugendhilfeaufgabe als solche auf einen neuen Rechtsträger übergeht, sondern nur die Befugnis und Verpflichtung zur Wahrnehmung dieser Aufgabe ab dem Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels. Die Leistungen auf Grundlage von § 86c Abs 1 Satz 1 SGB VIII liegen dem entsprechend ausschließlich in der Verantwortung des bisher örtlich zuständigen Trägers; es handelt sich insbesondere nicht um "vorläufige" Leistungen (vgl Lange in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 86c SGB VIII RdNr 23). Erst mit der Übernahme der Fallverantwortung geht der neu zuständige Jugendhilfeträger ggf unmittelbare rechtliche Verpflichtungen gegenüber der leistungsberechtigten Person und ggf einem beteiligten (dritten) Leistungsempfänger und Leistungserbringer ein.
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Eine analoge Anwendung des § 104 Satz 1 SGB X oder der übrigen Erstattungsvorschriften des SGB X unter Annahme eines auftragsähnlichen Rechtsverhältnisses kommt nicht in Betracht. Hierfür besteht kein Bedürfnis. Der Grundsatz, nach dem der materiell-rechtlich eigentlich zuständige Träger die Aufwendungen der Maßnahme zu tragen hat, gebietet keine vom Gesetzeswortlaut abweichende Auslegung des § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X bzw der übrigen Erstattungsvorschriften. Übernimmt der zuständig gewordene Träger den Jugendhilfefall nicht, um einen aus seiner Sicht bestehenden Vorrang der Sozialhilfe durchzusetzen, obwohl er nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit in eigener Zuständigkeit über die Hilfegewährung zu befinden und daher auch über die erforderlichen Maßnahmen gegenüber dem Sozialhilfeträger entscheiden kann, kann er sich im Erstattungsrechtsverhältnis gegenüber dem fortdauernd leistungsverpflichteten Jugendhilfeträger nicht darauf berufen, dass dieser nach Maßgabe der Rechtsauffassung des örtlich zuständig gewordenen Jugendhilfeträgers gegenüber dem Sozialhilfeträger hätte tätig werden können oder müssen (BVerwG vom 22.5.2008 - 5 B 203/07 - RdNr 3). Er hat es selbst in der Hand, durch eine sofortige Übernahme des Falles ab Kenntnis des Zuständigkeitswechsels seine Erstattungsansprüche durchzusetzen. Andererseits steht es dem örtlich zuständig gewesenen Jugendhilfeträger, der vom Wegfall seiner Zuständigkeit Kenntnis hat, ohne den neu zuständig gewordenen Träger bestimmen zu können, frei, Ansprüche gegen den Sozialhilfeträger geltend zu machen, um sein Risiko zu minimieren, einen neu zuständig gewordenen Träger überhaupt ermitteln zu können. Auch dieses Ergebnis entspricht der oben dargestellten Risikoverteilung zwischen den Jugendhilfeträgern, die § 86 c SGB VIII in Bezug auf die örtliche Zuständigkeit vorgibt.
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Eine Erstattungspflicht ergibt sich schließlich auch nicht aus einer öffentlich-rechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) oder auf der Grundlage eines öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs. Schon die Grundvoraussetzungen einer GoA liegen in Ansehung der vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen unter keinen denkbaren Umständen vor. Der Kläger hat bereits kein fremdes Geschäft geführt, sondern ist durch die Erstattung der Aufwendungen der Stadt W (objektiv und subjektiv) seiner eigenen Verpflichtung als örtlich zuständiger Jugendhilfeträger nachgekommen (vgl auch BSG vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R - BSGE 102, 10 = SozR 42500 § 264 Nr 2, RdNr 26). Ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch (vgl BVerwG vom 12.3.1985 - 7 C 48/82 - BVerwGE 71, 85, 88 = Buchholz 442.041 PostG Nr 6; BVerwG vom 30.11.1990 - 7 A 1/90 - BVerwGE 87, 169, 172 = Buchholz 445.5 § 1 WaStrG Nr 4; BVerwG vom 18.1.2001 - 3 C 7/00 - BVerwGE 112, 351, 353 f = Buchholz 115 Sonst Wiedervereinigungsrecht Nr 36) scheidet schon deshalb aus, weil mit § 86c SGB VIII ein speziellerer Leistungsgrund existiert und der Kläger nicht ohne Rechtsgrund an die Stadt W gezahlt hat. Nach den bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG hat er auf die Erstattungsforderung der Stadt W gezahlt, weil er eine bestehende (rechtskräftig festgestellte) eigene Leistungsverpflichtung erfüllen musste.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 SGG iVm § 154 Abs 1, § 162 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1, § 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Gerichtskostengesetz (GKG).