L 20 KR 275/22

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 KR 95/21
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 KR 275/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Eine Standardtherapie steht gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1a) SGB V nicht zur Verfügung, wenn es sie generell nicht gibt, sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen oder sie trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist (Anschluss an BSG, Urteile vom 10.11.2022 B 1 KR 28/21 R juris, Rn. 22; B 1 KR 9/22 R juris, Rn. 22; und B 1 KR 19/22 R juris, Rn. 18).

Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt zwar eine Einschätzungsprärogative zu, an die begründete Einschätzung sind indes hohe Anforderungen zu stellen (Anschluss an BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris, Rn 24 ff.).

Krankenkassen und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind, und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist (Anschluss an BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris, Rn 37).

 

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 09.05.2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Die Klägerin begehrt die Versorgung mit medizinischem Cannabis zur Behandlung von Schmerzen.

Mit Bescheid vom 12.06.2019 stellte das Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) bei der 1938 geborenen und bei der beklagten Krankenkasse versicherten Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G fest. Die Gesundheitsstörungen wurden dabei wie folgt beschrieben: Gleichgewichtsstörung mit Gangunsicherheit (Einzel-GdB: 30), Somatoforme Schmerzstörung (Einzel-GdB: 30), Krampfadern, Funktionsbehinderung des Hüftgelenkes rechts mit künstlichem Gelenkersatz der Hüfte (Einzel-GdB: 30), Schwerhörigkeit beidseits mit Schwindel (Einzel-GdB: 20), Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen (Einzel-GdB: 20) und Fingerpolyarthrose (Einzel-GdB: 10).

Mittels Arztfragebogens zu Cannabinoiden ihres Hausarztes, des Facharztes für Allgemeinmedizin P vom 03.08.2020 beantragte die Klägerin im August 2020 die Übernahme der Kosten für eine Versorgung mit Cannabis zur Behandlung chronischer Schmerzen, eines LWS-Syndroms, eines Bandscheibenvorfalls, einer Coxarthrose re sowie eines Z.n. TEP re der Hüfte. Zu Wirkstoff, Handelsnamen und Dosis machte der Mediziner dabei keine Angaben. Cannabis solle als Tabletten oder Tropfen verordnet werden. Behandlungsziele seien Schmerzreduktion sowie die Verbesserung der Lebensqualität.

Der von der Beklagten mit einer gutachterlichen Stellungnahme beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) - über die Beauftragung wurde die Klägerin mit Schreiben vom 18.08.2020 informiert - teilte unter dem 02.09.2020 mit, es sei zwar von einer schwerwiegenden Erkrankung auszugehen. Auch wenn auf Grund des hohen Alters und der vorliegenden Funktionsstörungen der Einsatz hochpotenter Opiate nicht empfehlenswert erscheine und damit auf weitere Analgetika nach WHO-Stufenschema nicht verwiesen werden solle, stünden doch verschiedene Co-Analgetika (z.B. Antikonvulsiva wie Pregabalin/Gabapentin, Antidepressiva wie Amitriptylin und Muskelrelaxanzien wie Ortoton) sowie nicht medikamentöse Therapien wie regelmäßige, bereits im Rahmen der stationären Schmerztherapie erfolgreich eingesetzte Heilmittelanwendung und schmerzpsychotherapeutische Begleittherapie zur Verfügung. Ebenfalls sei eine bewilligte Schmerzrehabilitationsmaßnahme den Unterlagen zu entnehmen, deren Erfolg abzuwarten bleibe. Die Vorstellung beim Schmerztherapeuten werde empfohlen.

Gestützt auf diese Einschätzung lehnte die Beklagte die Kostenübernahme mit Bescheid vom 08.09.2020 ab.

Deswegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Es liege eine schwerwiegende Erkrankung vor, die ein menschenwürdiges Lebens nicht mehr möglich mache. Sie habe seit Monaten unerträgliche Schmerzen, die chronisch geworden seien. Medikamente würden nicht mehr helfen bzw. hätten Nebenwirkungen. Sie sei nicht mehr in der Lage, Therapien durchzuführen. Der Begründung fügte sie u.a. ein ärztliches Attest von P vom 30.09.2020 bei, wonach er den Widerspruch unterstütze, da Cannabis unter ärztlicher Behandlung hier eine Verbesserung des Krankheitsbildes beeinflussen könne. Die Klägerin befinde sich seit kurzem in seiner hausärztlichen Behandlung. Das Recht der Klägerin auf Rezeptieren von Cannabispräparaten werde unterstützt.

Der MDK bestätigte in einem Gutachten vom 28.10.2020 seine Einschätzung, wonach noch Therapieoptionen bestünden. Aus den übermittelten Unterlagen sei die Einnahme diverser Analgetika seit 2015 zu entnehmen. Schmerzdistanzierende Arzneimittel gelangten nicht erkennbar zum Einsatz. Außer einer tagesklinischen Behandlung im Jahr 2019 sei keine schmerztherapeutische Mitbehandlung dokumentiert. Dokumentiert sei in den Unterlagen der Beklagten eine regelmäßige Physiotherapie von Januar 2018 bis Februar 2019. Seitdem seien keine Heilmittelanwendungen mehr nachgewiesen. Die im September 2019 bewilligte stationäre Reha-Behandlung zur Behandlung einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren habe die Kläerin nicht angetreten. Eine psychotherapeutische Mitbehandlung sei ebenfalls nicht dokumentiert.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.01.2021 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.

Dagegen hat die Klägerin beim Sozialgericht Nürnberg (SG) am 22.02.2021 Klage erhoben. Es gehe um das Medikament Dronabiol. Als Rentnerin könne sie die Kosten hierfür nicht aufbringen. Sie leide seit Jahren an extremen chronischen Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule (Arthrose), Bandscheiben und Hüfte. Im Jahr 2015 habe sie dreimal die Notaufnahme aufsuchen müssen. Im Jahr 2018 habe sie trotz extremer Angst eine Operation an der Hüfte durchführen lassen. Im Anschluss habe sie eine Reha durchlaufen, Therapien durchführen und immer wieder neue Tabletten nehmen müssen. Eine genehmigte "Kur" in der S Klinik mit Schmerztherapie sei wegen des Corona-Hygiene-Konzeptes abgesagt worden. Sie habe einen Schmerztherapeuten aufgesucht. Eine Terminvergabe sei nach einem halben Jahr erfolgt. Die Schmerzen seien höllisch, Medikamente könne sie wegen der Nebenwirkungen (Übelkeit, Magenbeschwerden, Erbrechen, Nierenbeschwerden, Schwindel, starke Krämpfe) nicht mehr einnehmen. Die weitere Einnahme brächte sie in Lebensgefahr. Die einzige Alternative sei medizinisches Cannabis. Sie wolle kein Pflegefall werden. In dem beigefügten ärztlichen Attest von P vom 26.04.2021 weist dieser auf die ökonomischen Aspekte einer Genehmigung von Cannabis im Hinblick auf das hohe Alter der Klägerin hin.

Das SG hat Beweis erhoben und die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen schriftlich angehört. Der behandelnde Facharzt für Orthopädie G hat unter dem 09.06.2021 mitgeteilt, er behandele die Klägerin seit 08.03.2021 wegen deren Rückenbeschwerden. Er habe eine medicophysikalische und krankengymnastische Therapie eingeleitet. P hat mit Schreiben vom 23.06.2021 geäußert, Medikamente würden nicht mehr ausreichend helfen. Rehabilitationsaufenthalte und Klinikbesuche sowie fachärztliche Untersuchungen hätten stattgefunden. Die Klägerin habe alle Unterlagen. Die Klägerin sei seit 2018 unregelmäßig bei ihm in Behandlung. Nach dem von P angefügten nervenärztlichen Attest von Z vom 26.03.2020 leide die Klägerin an einer chronischen Schmerzstörung. Es bestünde eine kritische Haltung gegenüber Medikamenten und apparativer Untersuchungen. Im März 2019 habe eine geriatrische Behandlung stattgefunden in der ausdrücklich eine psychosomatische Aufnahme empfohlen worden sei.

Daneben hat das SG den Facharzt für Neurologie Z1 zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstellung eines schriftlichen Gutachtens über die Klägerin nach einer ambulanten Untersuchung beauftragt. Nach seiner Einschätzung im Gutachten vom 05.12.2021 stünden der Klägerin noch eine Vielzahl therapeutischer Optionen zur Verfügung. Von den genannten Optionen sei - so der Sachverständige - zumindest eine neurologische fachärztliche Begleitung, die Gabe von Antidepressiva zur Schmerzlinderung sowie Akkupunkturbehandlungen sinnvoll. Eine psychotherapeutische Begleitung oder eine psychiatrische fachärztliche Begleitung erscheine hingegen wegen der ablehnenden Haltung der Klägerin wenig erfolgversprechend. Andere medikamentöse Therapien wie Opiate erschienen wegen der Gangstörung und dem Schwindel wenig ratsam, wenngleich diese nicht streng kontraindiziert seien. Der bisherige Einsatz von Opiaten in der Vergangenheit lasse sich nicht nachvollziehen.

Bereits unter dem 23.03.2021 hatte das SG den Antrag der Klägerin auf einstweiligen Rechtsschutz vom 22.02.2021 abgelehnt (Az. S 5 KR 84/21 ER), mit welchem die Klägerin erreichen wollte, die Beklagte zur vorläufigen Versorgung mit Cannabis zu verpflichten. Die dagegen eingelegte Beschwerde hat das LSG mit Beschluss vom 10.06.2021 zurückgewiesen (Az. L 20 KR 165/21 B ER), da nicht glaubhaft sei, es bestünden keine Behandlungsalternativen. Ferner fehle es an einer begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes.

Mit Urteil vom 09.05.2022 hat das SG die Beklagte verpflichtet, die Klägerin ab dem 09.05.2022 mit Cannabismedikamenten entsprechend dem Arztfragebogen vom 03.08.2020 zu versorgen. Die Klägerin leide an einer schwerwiegenden Erkrankung (chronische Schmerzen) für welche nur theoretisch Behandlungsmöglichkeiten bestünden. Auf die Inanspruchnahme der vom Sachverständigen prinzipiell für sinnvoll erachteten Behandlungsmaßnahmen brauche sich die Klägerin nicht verweisen zu lassen.

Dagegen hat die Beklagte Berufung beim Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Versorgung mit Cannabismedikamenten. Das eingeholte Sachverständigengutachten des Z1 vom 05.12.2021 habe ausführlich zu den alternativen Therapiemöglichkeiten für die Klägerin Ausführungen getätigt.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 09.05.2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.

Das LSG hat Beweis erhoben und die Akten des ZBFS beigezogen sowie den Hausarzt P schriftlich angehört. In dessen Schreiben vom 25.04.2023 hat er im Wesentlichen mitgeteilt, dass die betagte Klägerin aufgrund ihrer multiplen Beschwerden in der Vergangenheit - laut ihrer Aussage und dem letzten Befund des Z1 - in der Vergangenheit versucht habe, mehrere Neuroleptika und Medikamente auszuprobieren. Nach mehreren Versuchen habe sie nun die Genehmigung zur Rezeptur von Cannabisprodukten bekommen und fühle sich damit gut versorgt.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz und die Akten des ZBFS Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) und begründet. Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Der Bescheid vom 08.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.01.2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

1.
Das klägerische Begehren (§ 123 SGG) ist bei sachdienlicher Auslegung auf die Erteilung einer Genehmigung für die vertragsärztliche Verordnung von Cannabisblüten nach § 31 Abs. 6 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) gerichtet. Hierfür ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) die statthafte Klageart.

Der Senat lässt zugunsten der Klägerin ungeprüft, ob die Antragstellung im August 2020 mittels Arztfragebogen ohne Angabe des Wirkstoffs, des Handelsnamens, der Dosis und der konkreten Darreichungsform dem Bestimmtheitsgrundsatz genügt, da insbesondere bei Cannabis eine Konkretisierung des Begehrens wegen der damit verbundenen unterschiedlichen medizinischen Indikationen verlangt wird (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 18.11.2020 - L 4 KR 490/19 - juris, Rn. 24 mwN).

2.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Erteilung einer Genehmigung für die vertragsärztliche Verordnung von Cannabis nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V.

a.
Nach § 31 Abs. 6 Sätze 1 und 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon (nachfolgend zusammengefasst Cannabis), wenn sie an einer schwerwiegenden Erkrankung leiden (Satz 1), eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder nach einer begründeten ärztlichen Einschätzung nicht zur Anwendung kommen kann (Satz 1 Nr. 1), eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (Satz 1 Nr. 2) und bei der ersten Verordnung vor Beginn der Leistung eine Genehmigung der Krankenkasse vorlag, die nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnen ist (Satz 2).

Die Klägerin erfüllt diese Anspruchsvoraussetzungen nicht. Dabei kann der Senat offenlassen, ob die Klägerin an einer schwerwiegenden Erkrankung iSd § 31 Abs. 6 SGB V leidet (dazu aa.). Denn nach den Feststellungen des Senats stehen zur Behandlung ihrer Erkrankungen noch weitere, dem medizinischen Standard entsprechende Methoden zur Verfügung (dazu bb.). Es fehlt zudem an der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese nicht zur Anwendung kommen können (dazu cc.).

aa.
Der Anspruch auf Versorgung mit Cannabis besteht nur zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung (§ 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V). Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer, dh mindestens (voraussichtlich) für sechs Monate, nachhaltig beeinträchtigt. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität ergibt sich nicht aus der gestellten Diagnose, sondern aus den konkreten Auswirkungen der Erkrankung. Diese müssen den Betroffenen überdurchschnittlich schwer beeinträchtigen, wofür die Grad der Schädigungsfolgen(GdS)-Tabelle aus Teil B der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) als Anhaltspunkt dienen kann (vgl. BSG, Urteil vom 29.08.2023 - B 1 KR 26/22 R - juris, Rn. 11 f. mwN).

Ob bei der Klägerin eine in diesem Sinne schwerwiegende Erkrankung vorliegt, kann offenbleiben. Denn der geltend gemachte Anspruch auf Genehmigung einer Cannabis-Verordnung scheitert hier bereits am Fehlen der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes P, dass die zur Verfügung stehende, dem medizinischen Standard entsprechende Therapie nicht zur Anwendung kommen kann.

bb.
Eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung steht vorliegend zur Verfügung.

Eine Standardtherapie steht gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1a) SGB V nicht zur Verfügung, wenn es sie generell nicht gibt, sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen oder sie trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist (vgl. BSG, Urteile vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris, Rn. 22; B 1 KR 9/22 R - juris, Rn. 22; und B 1 KR 19/22 R - juris, Rn. 18).

Nach den Ausführungen des Sachverständigen Z1 vom 05.12.2021, der sozialmedizinischen Stellungnahme des MDK vom 02.09.2020 sowie dem Gutachten nach Aktenlage durch den MDK vom 28.10.2020 stehen für die Klägerin grundsätzlich noch Standardtherapien in Gestalt einer ambulanten Schmerztherapie, einer stationären oder tagesklinischen Schmerztherapie, des Einsatzes von Antikonvulsiva, des Einsatzes von Antidepressiva, des Einsatzes von hochpotenten Opiaten, dem Fortführen ambulanter krankengymnastischer Maßnahmen, einer psychotherapeutischen Begleitung, einer fachärztlichen schmerztherapeutischen/psychiatrischen/neurologischen Begleitung und einer Akupunkturbehandlung zur Verfügung. Die bisherige Durchführung der genannten Therapien wurde weder von der Klägerin oder ihrem behandelnden Vertragsarzt behauptet noch ist sie sonst ersichtlich. Der Senat folgt insofern den übereinstimmenden Ausführungen des Sachverständigen Z1 und des MDK zur Verfügbarkeit von Standardtherapien.

cc.
Stehen - wie hier - für die Behandlung der Erkrankungen Methoden zur Verfügung, die dem medizinischen Standard entsprechen, bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese Methoden unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen können (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst b SGB V). Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt zwar eine Einschätzungsprärogative zu, an die begründete Einschätzung sind indes hohe Anforderungen zu stellen (im Einzelnen dazu BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris, Rn 24 ff.). Diese muss enthalten:
* die Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte;
* die Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen, ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels;
* bereits angewendete Standardtherapien, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen; die noch verfügbaren Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei auftretende Nebenwirkungen;
* die Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis; in die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen.

Die Genehmigung der Verordnung kann gemäß § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V nur in begründeten Ausnahmefällen abgelehnt werden. Ein begründeter Ausnahmefall setzt voraus, dass über die Anspruchsvoraussetzungen nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V hinausgehende, besondere Umstände vorliegen. Jegliche Umstände, die bereits in die Abwägung des Vertragsarztes zur Abgabe der begründeten Einschätzung (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst b SGB V) einzustellen sind, sind nicht geeignet, als begründeter Ausnahmefall eine Ablehnung der Genehmigung zu rechtfertigen. Auch die Frage, ob ein bereits festgestelltes Abhängigkeitssyndrom oder ein Vorkonsum eine Kontraindikation für die Behandlung mit Cannabis darstellen, obliegt danach der Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes (hierzu ausführlich BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 19/22 R - juris, Rn 22). Allein das Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms oder eines Vorkonsums stellt keinen begründeten Ausnahmefall für die KK dar, die Genehmigung abzulehnen. Sollte der Vertragsarzt die notwendige Abwägung nicht auf vollständiger und zutreffender Tatsachengrundlage unter Berücksichtigung der Gründe, die einer Therapie mit Cannabis entgegenstehen können, vorgenommen haben, scheitert der Genehmigungsanspruch bereits an der unzureichend begründeten Einschätzung (vgl. dazu BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris, Rn. 38).

Die begründete Einschätzung des Vertragsarztes ist tatbestandliche Voraussetzung des Versorgungs- und Genehmigungsanspruchs. Die Versicherten haben sie daher beizubringen. Insoweit besteht keine Verpflichtung des Gerichts (§ 103 SGG), beim behandelnden Vertragsarzt eine begründete Einschätzung oder ihre Ergänzung um bisher nicht berücksichtigte Umstände anzufordern. Die begründete Einschätzung dokumentiert die Abwägung des Vertragsarztes, die als Ergebnis seines Entscheidungsprozesses keine Tatsache darstellt, die durch das Gericht mit den zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln erforscht werden könnte (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris, Rn. 39).

Krankenkassen und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind, und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative schließt eine weitergehende Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit aus. Insbesondere steht es Krankenkassen und Gerichten nicht zu, die Anwendbarkeit einer verfügbaren Standardtherapie selbst zu beurteilen und diese Beurteilung an die Stelle der Abwägung des Vertragsarztes zu setzen (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris, Rn. 37).

Vorliegend fehlt es an einer diesen Anforderungen genügenden begründeten Einschätzung zur Nichtanwendbarkeit einer Standardtherapie. Der behandelnde Vertragsarzt P hat nicht begründet, warum eine ambulanten Schmerztherapie, eine stationäre oder tagesklinische Schmerztherapie, der Einsatz von Antikonvulsiva oder von Antidepressiva oder von hochpotenten Opiaten, das Fortführen ambulanter krankengymnastischer Maßnahmen, eine psychotherapeutische Begleitung, eine fachärztliche schmerztherapeutische/psychiatrische/neurologische Begleitung und eine Akupunkturbehandlung bei der Klägerin nicht zur Anwendung kommen können.

Die Stellungnahme enthält ferner bereits keine genügende Darstellung der in die Abwägung einzustellenden Tatsachen. So fehlt es bereits an einer vollständigen Darstellung des Krankheitszustandes der Klägerin. Zudem stellt P weder die eingesetzten Medikamente, die genaue Therapie, die Dosierung samt Dosierungsanpassung noch den jeweiligen Zeitraum der Einnahme unter Darstellung der übrigen Medikation bzw. der jeweils aufgetretenen Nebenwirkungen dar. Der tatsächliche Einsatz dieser Medikamente ist daher aus der Sicht des Senates nicht hinreichend dokumentiert, zumal nicht klar ist, wann und über welchen Zeitraum welche Medikamente von der Klägerin tatsächlich in welcher Dosis eingenommen worden sind. Die vorliegenden Ausführungen des Mediziners erschöpfen sich in dem pauschalen Hinweis auf Nebenwirkungen. Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung angenommen haben, sind weder näher benannt noch in ausreichendem Umfang dargestellt. Die pauschale Angabe, die Klägerin sei "austherapiert", genügt den dargestellten Anforderungen nicht (BSG, Urteil vom 29.08.2023 - B 1 KR 26/22 R - juris, Rn. 19). Ebenfalls genügt es nicht auf die Ausführungen der Klägerin und bei der Klägerin vorhandene Unterlagen und andere Arztberichte pauschal zu verweisen, wie es P tut. Dadurch ist es objektiv nicht nachvollziehbar, ob sich der Vertragsarzt überhaupt mit dem Inhalt im Sinne einer Abwägung auseinandergesetzt hat. Eine konkrete Darstellung und hinreichende Abwägung lässt sich durch einen bloßen Verweis jedenfalls nicht ableiten (BSG, Urteil vom 20.03.2024 - B 1 KR 24/22 R - Terminsbericht). Ungeachtet dessen lassen sich auch aus den von P vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und den persönlichen Ausführungen der Klägerin die bereits angewendeten Standardtherapien nicht nachvollziehen.

Auch lässt P nicht hinreichend erkennen, ob er sich mit den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis auseinandergesetzt hat.

Letztlich lässt sich anhand der Unterlagen nicht nachvollziehen, ob die Verordnung von Cannabisblüten unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebot (vgl. § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V) erfolgt ist. Bei voraussichtlich gleicher Geeignetheit von Cannabisblüten, Cannabisextrakten und Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Dronabinol und Nabilon besteht nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (zB Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris, Rn. 54) nur ein Anspruch auf Versorgung mit dem kostengünstigsten Mittel. Insoweit wäre zu begründen, weshalb, wie von der Klägerin gefordert Dronabiol und nicht in andere Darreichungsformen von Cannabisprodukten zur Anwendung kommen sollen.

Die wirtschaftlichen Überlegungen von P im Hinblick auf das Alter der Klägerin rechtfertigen keine andere rechtliche Bewertung.

Eine (neue) den oben genannten Anforderungen entsprechende, begründete vertragsärztliche Einschätzung hat die Klägerin bis zum Ende der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht vorgelegt.

b.
Weitere Anspruchsgrundlagen führen zu keinem anderen Ergebnis:

Ein Anspruch aus § 13 Abs. 3a SGB V scheitert, da die dort geregelten Fristen zwischen Antragstellung und Verwaltungsentscheidung - bei Einschaltung des MDK fünf Wochen - eingehalten sind (Antrag mit Arztfragebogen vom 03.08.2020, Mitteilung der Beklagten über die Anhörung des MDK mit Schreiben vom 18.08.2020, ablehnender Bescheid vom 08.09.2020).

Anhaltspunkte für ein Systemversagen oder einen Seltenheitsfall sind nicht ersichtlich.

Ein Anspruch nach § 2 Abs. 1a SGB V scheidet aus, da - wie aufgezeigt - allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung stehen.

3.
Die Berufung der Beklagten ist nach alledem begründet und die stattgebende erstinstanzliche Entscheidung ist aufzuheben.

4.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

5.
Gründe dafür, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG), liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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