L 6 AS 357/23

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 1 AS 580/21 (verbunden mit S 1 AS 174/22)
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 357/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze


Zur Auslegung des Klagebegehrens unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes und dessen Grenzen bei eindeutigen Erklärungen.


I.    Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 26. Juli 2023 wird zurückgewiesen.

II.    Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

III.    Die Revision wird nicht zugelassen.


Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Februar 2020 bis 28. Februar 2021, die entsprechende Erstattungsforderung in Höhe von insgesamt 4.061,16 Euro und deren Aufrechnung in einem Umfang von monatlich 133,80 Euro gegen die ihm zustehenden laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) ab 1. Juni 2021.

Der im Jahr 1986 geborene Kläger leidet unter anderem an einer Polyneuropathie, die linksseitig neuropathische Schmerzen und eine Fußheberparese verursacht. Mit Bescheid vom 1. November 2011 stellte das Hessische Amt für Versorgung und Soziales Darmstadt – Versorgungsamt – beim Kläger wegen eines erworbenen Immunmangelsyndroms, einer depressiven Störung und einer Fußheber-/-senkehrlähmung einen Grad der Behinderung in Höhe von 100 sowie die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ fest. Die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ lehnte das Versorgungsamt hingegen ab. 

Soweit für das hiesige Verfahren maßgeblich, bewilligte der Beklagte dem Kläger auf entsprechenden Fortzahlungsantrag durch Bescheid vom 25. November 2019 laufende Leistungen zum Lebensunterhalt für den Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Dezember 2020 in Höhe von monatlich 876,45 Euro. Hierbei berücksichtigte er die Bedarfe für Unterkunft und Heizung in ihrer tatsächlichen Höhe von monatlich 444,45 Euro und den Regelbedarf von monatlich jeweils 432,00 Euro. (Wegen der Einzelheiten wird auf den Bescheid, Bl. 24 ff. der elektronisch vorliegenden Leistungsakte des Beklagten – LA –, Bezug genommen; Gleiches gilt für die im Folgenden unter Angabe der Aktenfundstelle aufgeführten Unterlagen.) 
Aufgrund der Berücksichtigung eines entsprechenden Guthabens des Klägers aus der Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2019 änderte der Beklagte durch Bescheid vom 4. Juni 2020 die Leistungsgewährung für Juli 2020 auf 859,89 Euro (LA Bl. 46 ff.). Unter dem 2. Juli 2020 erließ er einen weiteren Änderungsbescheid, mit dem er die Leistungen für die Zeit ab 1. September 2020 wegen einer entsprechenden Erhöhung der Grundmiete Leistungen auf monatlich 891,29 Euro festsetzte (LA Bl. 55 ff.). Mit Bescheid vom 27. Oktober 2020 korrigierte der Beklagte die Leistungsbewilligung erneut und gewährte wegen eines reduzierten Heizkostenabschlags und der Berücksichtigung eines Guthabens aus einer Heizkostenabrechnung für November 2020 Leistungen in Höhe von 894,29 Euro und für Dezember 2020 in Höhe von 876,- Euro (LA Bl. 75 ff.).

Auf Fortzahlungsantrag des Klägers vom 13. November 2020 bewilligte der Beklagte dem Kläger durch Bescheid vom 4. Dezember 2020 vorläufig Leistungen für die Zeit vom 1. Januar 2021 bis zum 30. Juni 2021 in Höhe von monatlich 908,29 Euro (LA Bl. 171 ff.). 

Bereits zuvor hatte der Kläger am 10. September 2020 einen Motorroller der Firma Sym, Typ Mask 50, zum Preis von 1.467,24 Euro erworben. Zudem kaufte er Zubehör zu diesem und schloss einen Ausbildungsvertrag zum Erwerb eines KFZ-Führerscheins ab. Im Zusammenhang mit der Weiterbewilligung legte der Kläger dem Beklagten unter anderem Kontoauszüge seines Kontos bei der Volksbank A-Stadt für die Zeit vom 1. Juli bis zum 31. Oktober 2020 vor. Daraus waren insbesondere folgende Gutschriften ersichtlich (wobei wegen der Einzelheiten auf LA Bl. 117 ff. Bezug genommen wird): 
•    für Juli 2020: Paypal 316,11 Euro, Respondi 20,- Euro; 
•    für August 2020: Paypal 130,82 Euro, GapFish 15,50 Euro; 
•    für September 2020: Paypal 23,38 Euro, Bilendi 15,- Euro, Norstat 20,- Euro, Respondi 20,- Euro, B. C. 2.000,- Euro; 
•    für Oktober 2020: Paypal 167,28 Euro, Bilendi 17,40 Euro, GapFish 10,- Euro, Omi Quest 20,- Euro.

Auf entsprechende Aufforderung des Beklagten erläuterte der Kläger in einer E-Mail vom 3. Dezember 2020, bei den Gutschriften in Höhe von 311,80 Euro [richtig: 316,11 Euro] und von 130,82 Euro handele es sich um Zuwendungen seiner Mutter, Frau B. C., für den Erwerb von Zubehör für den Motorroller, bei dem Betrag in Höhe von 2.000,- Euro für den Kauf des Motorrollers selbst und bei dem Betrag in Höhe von 167,28 Euro für Inspektionskosten. Bei den Gutschriften von Respondi, Gap-Fish, Bilendi und Norstat handele es sich um Zeitaufwandsentschädigungen, die er in unregelmäßigen Abständen für das Ausfüllen von Online-Umfragen erhalte und zum Ausgleich von Zinsschulden verwende. Nachdem der Kläger auf entsprechende Aufforderung des Beklagten seine Kontoauszüge für das gesamte Jahr 2020 vorgelegte hatte, bat dieser den Kläger, ergänzend zu folgenden Kontovorgängen auf dem Bankkonto bei der Volksbank A-Stadt Stellung zu nehmen: 250,- Euro PayPal Gutschrift am 28. Juli 2020, 29,70 Euro PayPal Gutschrift am 30. Juli 2020, 158,40 Euro PayPal Gutschrift am 21. Oktober 2020, 400,- Euro PayPal Gutschrift am 21. Februar 2020 und 120,- Euro PayPal Gutschrift am 5. März 2020. Der Kläger führte hierzu in einer E-Mail vom 13. März 2021 aus, dass es sich bei den Gutschriften in Höhe von 250,- Euro, von 158,40 Euro und von 400,- Euro um Zuwendungen seiner Mutter für die Finanzierung des Führerscheins und der Inspektionskosten für den Motorroller handele. Bei den Beträgen in Höhe von 120,- Euro und 29,70 Euro habe er für seine Mutter Waren bestellt, weshalb sie ihm dieses Geld zurücküberwiesen habe.

Anschließend hörte der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 22. März 2021 (LA Bl. 268 ff.) zu einer teilweisen Leistungsaufhebung für den Zeitraum vom 1. Februar 2020 bis zum 28. Februar 2021 an. Der Kläger nahm dahin Stellung, gegen eine Anrechnung der Einnahmen als Einkommen spreche, dass er schwerbehindert und langzeitarbeitslos sei. Er könne wegen der Beeinträchtigung seines linken Fußes kein Fahrrad fahren und wegen der bestehenden Polyneuropathie nichts Schweres heben. Er habe die Geldschenkungen seiner Mutter für den Kauf des Scooters und für Inspektion, Sprit, Zubehör und die für den Führerschein angefallenen Kosten ausgegeben, die Geldeingänge aus den Umfragen für die Bezahlung von Zinsaufwendungen bei Banken (LA Bl. 287 ff.).

Der Beklagte hob mit Bescheid vom 1. April 2021 die Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 1. Februar 2020 bis zum 28. Februar 2021 teilweise auf und setzte einen entsprechenden Erstattungsbetrag in Höhe von insgesamt 4.061,16 Euro fest. Zudem erklärte er die Aufrechnung mit der Erstattungsforderung gegen die dem Kläger zustehenden Leistungen in einem Umfang von monatlich 133,80 Euro ab 1. Juni 2021. Die Schenkung in Höhe von 2.000,- Euro sei als einmalige Einnahme verteilt auf den Zeitraum vom 1. September 2020 bis zum 28. Februar 2021 in Höhe von monatlich 333,33 Euro auf seinen Leistungsanspruch anzurechnen. Des Weiteren seien im Zeitraum vom 1. Februar 2020 bis zum 31. Dezember 2020 einmalige Einnahmen von Seiten der Mutter, Bareinzahlungen und Überweisungen von Umfragefirmen in Höhe von insgesamt 2.241,18 Euro, bereinigt 2.061,16 Euro, als Einkommen auf den Leistungsanspruch anzurechnen. Der Bescheid enthielt die folgende Rechtsbehelfsbelehrung: „Gegen diesen Bescheid kann jeder Betroffene oder ein von diesem bevollmächtigter Dritter innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Widerspruch erheben. Für Minderjährige oder nicht geschäftsfähige Personen handelt deren gesetzlicher Vertreter. Der Widerspruch ist schriftlich oder zur Niederschrift bei der im Briefkopf genannten Stelle einzulegen. Soweit der Widerspruch durch eine/n bevollmächtigte/n Rechtsanwältin/Rechtsanwalt eingelegt wird, kann diese/r zur wirksamen Ersetzung der Schriftform den Widerspruch als elektronisches Dokument, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, auch über das besondere Anwaltspostfach (beA), übermitteln.“ Wegen der Einzelheiten wird auf LA Bl. 293 ff. Bezug genommen.

Der Kläger legte im April 2021 mit mehreren E-Mails nochmals Unterlagen, unter anderem ein Schreiben seiner Mutter zu den Zuwendungen, vor (LA Bl. 309 ff.). Mit einer weiteren einfachen E-Mail vom 1. Juni 2021 legte er dann Widerspruch gegen den Bescheid vom 1. April 2021 ein (LA Bl. 350 ff.). Die Geldbeträge, die ihm von seiner Mutter zugewendet worden seien, hätten nicht zur Finanzierung seines Lebensunterhaltes zur Verfügung gestanden, sondern der Finanzierung seines Motorrollers und seines Führerscheins gedient.

Der Beklagte verwarf den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 2021 (LA Bl. 392 ff.) als unzulässig, da der Widerspruch nicht fristgerecht erhoben worden sei. Das Vorbringen des Klägers werde als Überprüfungsantrag gewertet. Mit E-Mail vom 9. Juni 2021 stellte der Kläger zudem ausdrücklich einen Antrag auf Überprüfung des Bescheids vom 1. April 2021 (LA Bl. 430 f.).

Nachfolgend bewilligte der Beklagte auf entsprechenden Fortzahlungsantrag des Klägers mit Bescheid vom 6. Juli 2021 vorläufig Leistungen für die Zeit vom 1. Juli 2021 bis 31. Dezember 2021. Dabei wies er für den aus dem Bescheid vom 1. April 2021 herrührenden monatlichen Aufrechnungsbetrag von 133,80 Euro sich selbst als Zahlungsempfänger und einen entsprechend reduzierten Auszahlungsbetrag zu Gunsten des Klägers aus. Wegen der Einzelheiten wird auf LA Bl. 473 ff. Bezug genommen.

Der Kläger legte am 8. Juli 2021 unter Nennung des Bescheiddatums Widerspruch gegen diesen Bescheid ein. Auf LA Bl. 484 ff. wird wegen der Einzelheiten des Widerspruchsschreibens verwiesen. Da der Kläger den Bescheid in seinem Widerspruchsschreiben als „Aufhebungsbescheid“ bezeichnet hatte, bat der Beklagte ihn mit Schreiben vom 13. Juli 2021, den Gegenstand des Widerspruchs klarzustellen. Zu einem anschließend aus diesem Grund mit dem Kläger geführten Telefonat hielt der Beklagte fest, dass sich der Widerspruch tatsächlich auf den vorläufigen Bewilligungsbescheid vom 6. Juli 2021 beziehe.

Nachdem der Beklagte diesen Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 4. August 2021 (LA Bl. 593 ff.) zurückgewiesen hatte, hat der Kläger am 26. August 2021 eine erste Klage zum Sozialgericht Darmstadt – S 1 AS 580/21 – erhoben (Gerichtsakte des Sozialgerichts – GA SG – Bl. 1). Dabei hat er als Gegenstand seiner Klage ausdrücklich den Bescheid vom 6. Juli 2021 und den Widerspruchsbescheid vom 4. August 2021 bezeichnet. Die Geldgeschenke seiner Mutter dürften auf seinen Leistungsanspruch nicht angerechnet werden, denn seine Mutter habe ihm dieses Geld nur unter der Bedingung geschenkt, dass er sich damit einen Motorroller kaufe und seinen KFZ-Führerschein finanziere. Es sei für ihn unzumutbar, den Motorroller wieder zu verkaufen, da er auf diesen angewiesen sei, um seine Einkäufe erledigen zu können. Seine Mutter, die selbst auch keine vermögende Person sei, könne ihm nicht den Lebensunterhalt finanzieren. Daher seien die ab Juni 2021 vom Beklagten gekürzten Leistungen nachzuzahlen.

Anschließend lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 1. Dezember 2021 den Überprüfungsantrag gegen den Bescheid vom 1. April 2021 ab. Der dem Kläger geschenkte Motorroller mit einem Verkehrswert von 2.000,- Euro sei keine zweckbestimmte Einnahme und daher als Einkommen auf die Leistungsberechnung anzurechnen. Der Motorroller werde überwiegend privat genutzt. Bei den wöchentlichen Fahrten zu seinem Arbeitgeber sei es dem Kläger zuzumuten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Des Weiteren stelle sich die Frage, ob der Kläger aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen fahr- und verkehrstüchtig für das Führen eines Motorrollers sei. Der Bescheid enthielt nunmehr eine differenziert auf die Möglichkeiten der Widerspruchseinlegung – schriftlich, zur Niederschrift oder auf elektronischem Wege – eingehende Rechtsbehelfsbelehrung. Wegen der Einzelheiten wird auf LA Bl. 702 ff. Bezug genommen.

Mit einer einfachen E-Mail wandte sich der Kläger am 10. Dezember 2021 gegen diesen Bescheid (LA Bl. 711 ff.). Der Beklagte wies ihn vor diesem Hintergrund mit Schreiben vom 15. Dezember 2021 auf die Notwendigkeit hin, den Widerspruch bis zum 4. Januar 2022 in der erforderlichen Form nachzureichen oder seine Urheberschaft der E-Mail schriftlich zu bestätigen (LA Bl. 754). Der Kläger übersandte daraufhin am 27. Dezember 2021 erneut eine einfache E-Mail übersandt, der als Anhang ein Widerspruchsschreiben mit eingescannter Unterschrift beigefügt war. Auf LA Bl. 755 f. wird Bezug genommen.

Der Beklagte verwarf den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17. Februar 2022 als unzulässig, da eine E-Mail, auch wenn ihr ein Anhang mit einer eingescannten Unterschrift beigefügt werde, keinen formgerechten Widerspruch darstelle (LA Bl. 832 ff.).

Der Kläger hat daraufhin mit Schreiben vom 3. März 2022, eingegangen am 9. März 2022, beim Sozialgericht Darmstadt einen „Widerspruch zur Ablehnung des Widerspruchsbescheids vom 17.02.2022“ eingereicht. Das Gericht hat dies als Klage gegen den Überprüfungsbescheid des Beklagten vom 1. Dezember 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Februar 2022 ausgelegt und unter dem Aktenzeichen S 1 AS 174/22 geführt. Der Kläger hat geltend gemacht, ihm sei eine erneute Widerspruchsfrist einzuräumen. Bisher habe er den Widerspruch nicht formgerecht erheben können, da er nicht wisse, was eine qualifizierte elektronische Signatur sei. Auch habe er bereits zuvor beim Beklagten Widersprüche per E-Mail mit PDF-Anhang erhoben, welche vom Beklagten nicht beanstandet worden seien. Die Information, dass der Widerspruch mit der eingescannten Unterschrift ebenfalls unzulässig sei, habe er erst in der Begründung des Widerspruchsbescheids erhalten.

Der Beklagte hat das Schreiben vom 3. März 2022 als erneuten Widerspruch gegen den Überprüfungsbescheid ausgelegt und diesen mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 2022 als unzulässig verworfen. Das Vorverfahren sei durch Erlass des Widerspruchsbescheids vom 17. Februar 2022 bereits beendet.

Mit Beschluss vom 25. Januar 2023 hat das Sozialgericht die beiden anhängigen Verfahren unter dem Aktenzeichen S 1 AS 580/21 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 26. Juli 2023 hat der Kläger dann zu den verbundenen Verfahren „beantragt,
1.    den Bescheid des Beklagten vom 01. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02. Juni 2021 aufzuheben und
2.    den Bescheid des Beklagten vom 01. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02. Juni 2021 unter Aufhebung des Bescheids des Beklagten vom 01. Dezember 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Februar 2022 aufzuheben.“ (GA SG Bl. 271 ff.)

Das Sozialgericht hat die verbundenen Klagen durch Urteil vom 26. Juli 2023 abgewiesen (GA SG Bl. 276 ff.). Streitgegenstand sei der Bescheid vom 1. April 2021, mit dem der Beklagte die Leistungsgewährung für den Zeitraum vom 1. Februar 2020 bis zum 28. Februar 2021 teilweise aufgehoben, gegen den Kläger eine Erstattungsforderung in Höhe von insgesamt 4.061,16 Euro festgesetzt und die Aufrechnung dieses Erstattungsbetrags mit den dem Kläger zustehenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch in Höhe von monatlich 133,80 Euro erklärte habe. Das klägerische Vorbringen im Verfahren S 1 AS 580/21 richte sich nämlich gegen die durch den Beklagten im Bescheid vom 6. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. August 2021 vorgenommene Aufrechnung in Höhe von monatlich 133,80 Euro. Nach entsprechendem richterlichen Hinweis in der mündlichen Verhandlung vom 26. Juli 2023 habe der Kläger den Antrag im Verfahren S 1 AS 580/21 auch dementsprechend gestellt. Im Verfahren S 1 AS 580/21 sei somit der Bescheid des Beklagten vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juni 2021 [richtig: 2. Juni 2021] streitgegenständlich. Auch in dem verbundenen Verfahren S 1 AS 174/22 wehre sich der Kläger in der Sache gegen den Bescheid vom 1. April 2021, diesmal im Wege des Überprüfungsverfahrens. Streitgegenstand sei der Bescheid vom 1. Dezember 2021, mit dem der Beklagte eine Überprüfung des Bescheids vom 1. April 2021 abgelehnt habe. 

Maßgeblich für die rechtliche Bewertung der Klagen sei zunächst, ob der Kläger gegen den Bescheid vom 1. April 2021 form- und fristgerecht Widerspruch erhoben hat. Der Kläger habe gegen den Bescheid vom 1. April 2021 durch die im Verfahren S 1 AS 580/21 am 26. August 2021 schriftlich erhobene Klage wirksam Widerspruch erhoben. Der Beklagte habe im Bescheid vom 1. April 2021 zwar über die Möglichkeit der elektronischen Einlegung des Widerspruchs belehrt. Allerdings sei diese Belehrung unrichtig, da die Einlegung des Rechtsbehelfs auch durch eine andere Person mittels eines elektronischen, mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehenen Dokuments möglich sei. Daher sei für die Einlegung des Widerspruchs eine Jahresfrist maßgeblich gewesen. Die schriftliche Klage vom 26. August 2021 sei im Wege des Meistbegünstigungsprinzips auch als fristgerechter und den Formvorschriften entsprechender Widerspruch gegen den Bescheid vom 1. April 2021 auszulegen. 

Somit sei die Klage des Klägers vom 9. März 2022 gegen den Bescheid vom 1. Dezember 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Februar 2022, mit dem der Beklagte die Überprüfung des Bescheids vom 1. April 2021 abgelehnt habe, bereits wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unwirksam. Vorliegend könne die Aufhebung dieses Bescheids bereits im Wege des Klageverfahrens gegen diesen Bescheid gerichtlich geltend gemacht werden; die Durchführung eines Überprüfungsverfahrens sei nicht notwendig. 

Der unter Ziffer 1. genannte Klageantrag sei zwar als isolierte Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet. Rechtsgrundlage für den Erlass des Aufhebungsbescheids vom 1. April 2021 für den Leistungszeitraum vom 1. Februar 2020 bis zum 28. Februar 2021 sei § 40 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 48 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 SGB X und § 40 Abs. 2 SGB II, § 330 Abs. 3 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III). Die Einnahmen des Klägers aufgrund der Teilnahme an Online-Umfragen und die Zuwendungen seiner Mutter seien als Einkommen gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II leistungsmindernd zu berücksichtigen. Bei den Zuwendungen handele es sich insbesondere nicht um eine zweckgebundene Einnahme gemäß § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II, da diese nicht aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Vorschrift erfolgt seien und keine zweckgebundenen Mittel darstellten. Auch finde, wie das Sozialgericht näher ausgeführt hat, § 11a Abs. 5 SGB II keine Anwendung auf die geleisteten Zuwendungen; insbesondere stelle die Anrechnung auch unter Berücksichtigung der beim Kläger bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigungen keine unbillige Härte dar. Anhaltspunkte dafür, dass die Aufhebung der Leistungen der Höhe nach unzutreffend sei, bestünden ebenso wenig wie Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Erstattungs- und der Aufrechnungsverfügung.

Der Kläger hat nach Zustellung des Urteils am 22. September 2023 mit Eingang am 5. Oktober 2023 Berufung eingelegt, mit der er unter Wiederholung und Vertiefung seines bisherigen Vorbringens seine Ansprüche weiterverfolgt.

Er beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 26. Juli 2023 und den Bescheid des Beklagten vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2021 aufzuheben,
hilfsweise,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 26. Juli 2023 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 1. Dezember 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Februar 2022 zu verpflichten, seinen Bescheid vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2021 zurückzunehmen.

Nach einem präzisierenden Hinweis des Berichterstatters auf verfahrensrechtliche Probleme vom 3. Juli 2024 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erneut erklärt, der Beklagte mit Schreiben vom 4. Juli 2024, der Kläger mit Schreiben vom 11. Juli 2024.

Der Senat hat einen Erörterungstermin durchgeführt, in dem der Berichterstatter den Kläger ausführlich persönlich angehört hat.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der Gerichtsakten einschließlich der beigezogenen Akten des Versorgungsamtes sowie der den Kläger betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Der Senat kann durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten ihr Einverständnis hiermit – und zwar nach dem Hinweis des Berichterstatters vom 3. Juli 2024 erneut – erklärt haben.

Die zulässige Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 26. Juli 2023 muss ohne Erfolg bleiben; das Sozialgericht hat die beiden verbundenen Klagen im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

I.    Gegenstand des ursprünglichen Verfahrens S 1 AS 580/21 war zunächst der Bewilligungsbescheid des Beklagten vom 6. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2021. Der Kläger hat allerdings – offenbar auf Anraten des Sozialgerichts – in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung seine Klage geändert und diese gegen den Aufhebungs-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2021 gerichtet. Das Sozialgericht ist von der Sachdienlichkeit dieser Klageänderung ausgegangen und hat nur dieses Anfechtungsbegehren (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG) in der Sache beschieden. Hieran ist der Senat gebunden (vgl. § 99 Abs. 4 SGG; dazu BSG, Urteil vom 3. März 2009 – B 4 AS 37/08 R, SozR 4-4200 § 22 Nr. 15 = BeckRS 2009, 60196, Rn. 16; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/ Keller/B. Schmidt, SGG – Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 99 Rn. 15), ohne dass es darauf ankäme, ob diese Klageänderung dem Kläger tatsächlich zum Ziel verhelfen konnte. Dieses Anfechtungsbegehren ist nach Abweisung der diesbezüglichen Klage auch Gegenstand des Berufungsverfahrens.

Gegenstand des ursprünglichen Verfahrens S 1 AS 174/22 ist das auf § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II gestützte Überprüfungsbegehren hinsichtlich der teilweisen Aufhebung der Leistungsbewilligung und der daran geknüpften Erstattungsforderung sowie der Aufrechnungserklärung, also das im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und Alt. 2 SGG) verfolgte Begehren, den Beklagten unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides vom 1. Dezember 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Februar 2022 zu verpflichten, den Aufhebungs-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2021 zurückzunehmen. Nachdem es des Überprüfungsbegehrens nicht bedürfte, wenn der Kläger mit seiner unmittelbar gegen den Bescheid vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2021 gerichteten Anfechtungsklage Erfolg hätte, ist dieses Überprüfungsbegehren bei einer an den erkennbaren Interessen des Klägers orientierten Auslegung als (nur) hilfsweise gestellt anzusehen.

II. Die Berufung ist angesichts der Höhe der streitigen Summe von Gesetzes wegen statthaft (vgl. § 143, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) und auch im Übrigen zulässig, namentlich form- und fristgerecht eingelegt (vgl. hierzu § 151 Abs. 1 SGG).

III. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Der Kläger kann sowohl mit seinem Haupt- wie mit seinem Hilfsantrag keinen Erfolg haben.

1. Die unmittelbare Anfechtung des Bescheides vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2021 ist bereits unzulässig, weil der Kläger die hierauf gerichtete Klage nicht fristgerecht erhoben hat. 

Mit der Klage im Verfahren S 1 AS 580/21 hatte sich der Kläger bei Klageerhebung ausschließlich gegen den Bescheid vom 6. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2021 gewandt, mit dem der Beklagte ihm vorläufig Leistungen für die Zeit vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2021 bewilligt hatte. Dieser Bescheid bezog sich zwar nur insofern auf die in der Sache zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob und in welcher Höhe dem Kläger anrechenbares Einkommen zur Verfügung stand und daher die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. Februar 2020 bis 28. Februar 2021 zu korrigieren war, als der Beklagte in dem Bewilligungsbescheid einen Einbehalt ausgewiesen hatte, der auf der mit dem Bescheid vom 1. April 2021 erklärten Aufrechnung beruhte. Dennoch besteht kein Zweifel, dass sich zunächst der Widerspruch des Klägers vom 8. Juli 2021 wie auch die nachfolgend erhobene Klage gegen den Bewilligungsbescheid vom 6. Juli 2021 richtete: Das ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut des Widerspruchsschreibens, das sich wie später das Klageschreiben ausdrücklich und unter Benennung des Datums auf den Bescheid vom 6. Juli 2021 bezog, als auch aus dem zeitlichen Zusammenhang. Überdies hat der Beklagte sich – da der Kläger den angefochtenen Bescheid als „Aufhebungsbescheid“ bezeichnet hatte – nach Eingang des Widerspruchsschreibens um die Klärung von dessen Gegenstand bemüht und der Kläger bestätigt, dass der Widerspruch sich gegen den Bescheid vom 6. Juli 2021 richte. Der Beklagte hat vor diesem Hintergrund mit dem Widerspruchsbescheid vom 4. August 2021 auch nur einen auf den Bewilligungsbescheid bezogenen Widerspruch beschieden; der Wortlaut des Widerspruchbescheides lässt daran keinen Zweifel. Dementsprechend hat der Kläger seine Klage im Verfahren S 1 AS 580/21 bei deren Erhebung – erneut unter ausdrücklicher Nennung der Bescheiddaten – gegen den Bescheid vom 6. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2021 gerichtet. Er hat sich zur Begründung zwar auf die Frage der Anrechnung der Schenkungen seiner Mutter gestützt. Er hat dies allerdings auf die monatliche „Kürzung“ um 133,80 Euro bezogen, so dass durchaus auch ein inhaltlicher Bezug zu dem Bewilligungsbescheid vom 6. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2021 bestand, auch wenn bei rechtlicher Betrachtung nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Beklagte mit diesem Bescheid erneut über die Aufrechnung hätte entscheiden wollen. Zudem hatte der Kläger hinsichtlich des Bescheides vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2021 einen zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht beschiedenen Überprüfungsantrag gestellt. Das wäre zwar nicht zwingend notwendig gewesen, da, wie das Sozialgericht zu Recht ausgeführt hat, die Widerspruchsfrist gegen den Aufhebungs-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid wegen der unzutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung noch nicht abgelaufen war. Für das Verständnis des Klageantrags als Willenserklärung kommt es jedoch hierauf nicht entscheidend an; vielmehr ergibt sich aus diesem Zusammenhang ein weiterer, für deren Auslegung aus dem Empfängerhorizont maßgeblicher Hinweis auf den Willen des Klägers. Überdies hat auch der Beklagte die Klage (zutreffend) in diesem Sinne verstanden, wie sich aus der Klageerwiderung ergibt: Dort hat der Beklagte ganz ausdrücklich darauf verwiesen, streitig sei der Bescheid vom 6. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2021. Das Sozialgericht schließlich hat dies in seinem Hinweis vom 13. September 2021 (GA SG Bl. 59 f.) aufgenommen, ohne dass der Kläger dem entgegengetreten wäre.

Nach allem richtete sich die Klage im Verfahren S 1 AS 580/21 bei ihrer Erhebung gegen den Bescheid vom 6. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2021 und nur gegen diesen Bescheid. Das gilt auch unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes und dem durch § 123 SGG eröffneten Spielraum bei der Auslegung des Klagebegehrens: Danach ist bei der Auslegung des jeweiligen Klageantrags davon auszugehen, dass der Kläger den Antrag stellen will, der ihm am besten zum Ziel verhilft (vgl. für viele: BSG, Urteil vom 9. Februar 2011 – B 6 KA 5/10 R, BeckRS 2011, 72607, Rn. 12; BSG, Urteil vom 6. April 2011 – B 4 AS 119/10 R, BSGE 108, 86, Rn. 29; Hübschmann, in: Roos/Wahrendorf/Müller, beck-online.Grosskommentar, SGG, § 123 Rn. 18; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/B. Schmidt, SGG – Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 123 Rn. 3). Auch der Meistbegünstigungsgrundsatz lässt jedoch nach Auffassung des Senats keinen Raum, einen klar bezeichneten Klagegegenstand gegen einen anderen auszutauschen: Das folgt bereits daraus, dass die Auslegung einer Willenserklärung ganz allgemein dort ihre Grenze findet, wo kein Zweifel an deren Inhalt bestehen; eindeutigen Erklärungen darf nicht durch Auslegung ein anderer Sinn gegeben werden (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/B. Schmidt, SGG – Kommentar, 14. Aufl. 2023, Vor § 60 Rn. 11a). In besonderem Maße gilt dies für Prozesserklärungen, für die das Gebot der Rechtsklarheit zu beachten ist: Grenze der Auslegung eines Klagebegehrens ist dementsprechend der deutlich erklärte Wille eines Beteiligten; das gilt auch dann, wenn das ausdrücklich erklärte Klageziel nicht erfolgversprechend oder unzulässig ist (vgl. Hübschmann, in: Roos/ Wahrendorf/Müller, beck-online.Grosskommentar, SGG, § 123 Rn. 21).

Auch die nachfolgenden Äußerungen des Klägers im erstinstanzlichen Verfahren bis zur mündlichen Verhandlung liefern keinen Anhaltspunkt dafür, dass er seine Klage auf den Aufhebungs-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2021 hätte erstrecken wollen. Der Umstand, dass der Kläger in seinem Schreiben vom 11. Oktober 2021 (GA SG Bl. 64) den angegriffenen Bescheid als „Aufhebungsbescheid“ bezeichnet hat, ist insofern nicht aussagekräftig: Vielmehr hatte er auch in seinem Widerspruch und bei Klageerhebung den Bescheid vom 6. Juli 2021 als „Aufhebungsbescheid“ bezeichnet, wohl weil er die mit der Aufrechnung einhergehende Kürzung des Auszahlungsanspruchs als „Aufhebung“ einordnete. Anhaltspunkte dafür, dass er damit die Terminologie aus §§ 44 ff. SGB X hätte aufnehmen wollen, sind nicht ersichtlich, wie schon die Reaktion des Klägers auf das um Klärung des Widerspruchsbegehrens bemühte Schreiben des Beklagten vom 13. Juli 2021 zeigt. Überdies wird aus seinem späteren Schreiben vom 16. März 2022 (GA SG Bl. 99) nochmals deutlich, dass es ihm in dem Verfahren S 1 AS 580/21 um die nach seiner Auffassung nicht gerechtfertigte Reduzierung des Auszahlungsbetrags in der Zeit vom 1. Juli 2021 bis zur Aussetzung der Aufrechnung durch den Beklagten ging. Die Leistungsbewilligung für diesen Zeitraum ist aber in der Tat in dem Bescheid vom 6. Juli 2021 geregelt.

Dementsprechend ist der Bescheid vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2021 erst auf Grund der Klageänderung im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 26. Juli 2023 zum Gegenstand des Klageverfahrens S 1 AS 580/21 geworden. Zu diesem Zeitpunkt aber war die Klagefrist bereits abgelaufen. Diese betrug zwar nach § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG ein Jahr; insoweit wird auf der Grundlage von § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Bezug genommen. Die an die Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides anknüpfende Jahresfrist für die Klageerhebung ließ sich zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Jahr 2023 nicht mehr wahren. Denn ausweislich des auf dem Widerspruchsbescheid aufgebrachten automatisierten Absendvermerks vom 7. Juni 2021 wird man auf der Grundlage von § 37 Abs. 2 SGB X von einem Zugang am 10. Juni 2021 auszugehen haben. Überdies dokumentiert der Überprüfungsantrag vom 9. Juni 2021, dass der Kläger bereits zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von dem Widerspruchsbescheid hatte.

Die Klage unmittelbar gegen den Bescheid vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2021 war damit unzulässig. Der Umstand, dass das Sozialgericht die Klageänderung als sachdienlich angesehen hat, vermag daran nichts zu ändern: Dies führt nur dazu, dass die Klageänderung als solche als zulässig anzusehen ist, kann aber über fehlende Zulässigkeitsvoraussetzungen der geänderten Klage nicht hinweghelfen, wobei für die Einhaltung der Klagefrist auf den Zeitpunkt der Klageänderung abzustellen ist (vgl. nur BSG, Urteil vom 3. März 2009 – B 4 AS 37/08 R, SozR 4-4200 § 22 Nr. 15 = BeckRS 2009, 60196, Rn. 17; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/B. Schmidt, SGG – Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 99 Rn. 13a). Eine Prüfung des erstrangigen Klagebegehrens in der Sache ist dem Senat daher verschlossen.

2. Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger mit seiner Klage auch dann keinen Erfolg haben könnte, wenn man sie als weiterhin gegen den Bescheid vom 6. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2021 gerichtet und die vom Sozialgericht angeregte Klageänderung als unbeachtlich ansehen wollte, weil diese – wie ausgeführt – nach Auffassung des Senats über die Unzulässigkeit der Klage nicht hinweghelfen kann.

Gegenstand des Bescheides vom 6. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2021 war allein die (vorläufige) Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2021. Die Aufrechnung war für den Bescheid nur insofern bedeutsam, als sie die Grundlage für die vom Kläger beanstandeten Minderung des Auszahlungsbetrags darstellte. Es besteht jedoch kein Anhaltspunkt dafür, dass der Beklagte im Rahmen der Bewilligungsentscheidung über die Aufrechnung nochmals eine Sachentscheidung hätte treffen wollen, der Bescheid vom 6. Juli 2021 also insofern als Zweitbescheid zu verstehen wäre.

3. Auch mit seiner Klage zum ursprünglichen Aktenzeichen S 1 AS 174/22, welche die Überprüfung des Aufhebungs-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheides vom 1. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2021 auf der Grundlage von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II zum Gegenstand hat, kann der Kläger keinen Erfolg haben.

Allerdings fehlt es diesem Klagebegehren angesichts der Unzulässigkeit der unmittelbar gegen den Bescheid gerichteten Anfechtungsklage nicht am Rechtsschutzbedürfnis. Auch ist die Klagefrist gewahrt: Der Kläger hatte gegen den Widerspruchsbescheid vom 17. Februar 2022 mit einem an das Sozialgericht gerichteten Schreiben „Widerspruch“ eingelegt. Ein derartiger Widerspruch gegen einen Widerspruchsbescheid lässt sich jedenfalls bei nicht rechtskundig vertretenen Klägern auf der Grundlage des Meistbegünstigungsgrundsatzes regelmäßig und auch im konkreten Fall als Klageerhebung auslegen. Schließlich ist das notwendige Vorverfahren im Sinne von § 78 Abs. 1 SGG durchgeführt; die Verwerfung des Widerspruchs als unzulässig steht dem nicht entgegen.

Wegen der Unzulässigkeit des Widerspruchs war der Bescheid vom 1. Dezember 2021 jedoch mit Ablauf der Widerspruchsfrist bindend geworden (vgl. § 77 SGG). Der Beklagte hatte im Bescheid vom 1. Dezember 2021 – anders als noch im Bescheid vom 1. April 2021 – nunmehr zutreffend über die Möglichkeiten, formwirksam Widerspruch einzulegen, belehrt. Dennoch hat der Kläger mit einer einfachen E-Mail, die damit den Formerfordernissen für die schriftformersetzende elektronische Kommunikation aus § 36a Abs. 2 SGB I in der zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen Fassung nicht genügte, Widerspruch eingelegt (vgl. zu diesen Formerfordernissen ausführlich Wichner, in: Rolfs u.a. (Hrsg.), BeckOGK (Kasseler Kommentar), § 36a SGB I Rn. 40 ff.). Hierauf hatte der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 15. Dezember 2021 sogar nochmals hingewiesen. Der Kläger hat dies jedoch nicht zum Anlass genommen, seinen Widerspruch schriftlich, zur Niederschrift oder unter Beachtung der besonderen Formerfordernisse für die schriftformersetzende elektronische Kommunikation einzulegen, sondern hat nochmals eine einfache E-Mail übersandt, die als Anhang ein eingescanntes Schreiben mit Unterschrift enthielt. Das genügt den Formerfordernissen aus § 36a Abs. 2 SGB I wiederum nicht: Insbesondere handelt es sich bei einer eingescannten Unterschrift gerade nicht um eine qualifizierte elektronische Signatur im Sinne von § 36a Abs. 2 Satz 2 SGB I.

Ein Widerspruch durch einfache E-Mail ohne qualifizierte elektronische Signatur reicht deshalb auch dann nicht aus, wenn sie eine eingescannte Unterschrift des Widerspruchsführers enthält (vgl. H. Müller, in: Ory/Weth, jurisPK-ERV, Band 3, 2. Aufl., § 36a SGB I – 1. Überarbeitung; Stand: 14. Juni 2024 – Rn. 113). Daran könnte auch ein Ausdruck der E-Mail nichts ändern; die sogenannte Computerfax-Rechtsprechung ist auf das Widerspruchsverfahren nicht anwendbar (vgl. nochmals H. Müller, in: Ory/Weth, jurisPK-ERV, Band 3, 2. Aufl., § 36a SGB I – 1. Überarbeitung; Stand: 14. Juni 2024 – Rn. 113; in diese Richtung wohl auch BSG, Beschluss vom 7. Dezember 2022 – B 5 R 56/22 BH, juris, Rn. 8). Nachdem § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG für die Widerspruchseinlegung in elektronischer Form ausdrücklich und abschließend auf die Formerfordernisse aus § 36a Abs. 2 SGB I, sind diese als zwingend anzusehen; der Ausdruck des unterschriebenen E-Mail-Anhangs könnte den Formmangel daher nicht heilen. Der Senat musste daher der Frage nicht nachgehen, ob der Beklagte die E-Mail möglicherweise ausgedruckt hat – was im Übrigen angesichts der elektronischen Aktenführung des Beklagten fernliegt.

Die Widerspruchsfrist lief damit spätestens am Montag, den 10. Januar 2022 ab, nachdem der Kläger in seinem formunwirksamen Widerspruch mitgeteilt hat, der Bescheid sei ihm am 9. Dezember 2021 zugegangen. Selbst wenn man den bei Gericht eingereichten formwirksamen „Widerspruch zur Ablehnung des Widerspruchsbescheids“ nicht nur als Klage, sondern auch als Widerspruch wertet, kann dies am Fristversäumnis nichts mehr ändern, da dieser erst am 9. März 2022 bei Gericht und entsprechend später bei dem Beklagten eingegangen ist.

Dem Kläger kann auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) eingeräumt werden, weil er, wie er vorträgt, nicht gewusst habe, was eine qualifizierte elektronische Signatur ist. Der Beklagte hatte in dem Bescheid vom 1. Dezember 2021 zutreffend über die Möglichkeiten der elektronischen Widerspruchseinlegung informiert und dabei darauf hingewiesen, dass für eine E-Mail mit qualifizierter elektronischer Signatur eine Signaturkarte benötigt werde. Er war nach Auffassung des Senats nicht gehalten, noch nähere Einzelheiten hierzu auszuführen, schon weil eine ausführliche Darstellung aller mit dem elektronischen Rechtsverkehr einhergehenden Einzelheiten zu einer Überfrachtung der Rechtsmittelbelehrung führen müsste. Überdies hat der Beklagte den Kläger unverzüglich auf die Formunwirksamkeit des Widerspruchs hingewiesen. Da dieser dennoch seinen Widerspruch erneut nur mit einer einfachen E-Mail übermittelte, ist nach Auffassung des Senats eine Wiedereinsetzung ausgeschlossen, da der Kläger nicht ohne Verschulden an der Fristwahrung gehindert war.

Der Bescheid vom 1. Dezember 2021 ist damit bindend geworden. Eine Sachprüfung ist dem Senat daher auch hinsichtlich des Hilfsantrags nicht möglich.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei besteht auch unter Veranlassungsgesichtspunkten kein Grund, den Beklagten zu einer auch nur anteiligen Übernahme der dem Kläger entstandenen Rechtsverfolgungskosten zu verpflichten.

V. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der in § 160 Abs. 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe vorliegt.
 

Rechtskraft
Aus
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