I. Der Bescheid der Beklagten vom 08.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.01.2021 wird ab 09.05.2022 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin ab 09.05.2022 mit Cannabismedikamenten entsprechend dem Arztfragebogen vom 03.08.2020 zu versorgen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
T a t b e s t a n d :
Die Beteiligten streiten über eine Versorgung der Klägerin mit Cannabis-Medikamenten.
Die am xx.xx.xxxx geborene - aktuell 83 Jahre alte - Klägerin stellte unter Vorlage des Arztfragebogens zu Cannabinoiden, ausgefüllt von Herrn Dr. med. B. am 03.08.2020, einen Antrag auf Kostenübernahme für Cannabis in Form von Tabletten oder Tropfen. Nach Angaben des Arztes sollen durch die Einnahme von Cannabis (Dronabinol) die chronischen Schmerzen, das LWS-Syndrom, der Bandscheibenvorfall sowie die Coxarthrose rechts sowie der Zustand nach TEP (Totalendoprothese) der rechten Hüfte behandelt werden. Behandlungsziele seien die Schmerzreduktion sowie die Verbesserung der Lebensqualität.
Die Beklagte legte die Angelegenheit den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) zur Beurteilung vor. Der MDK teilte mit Gutachten vom 02.09.2020 mit, dass aus gutachterlicher Sicht allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen als Alternative, selbst unter Beachtung des Alters der Antragstellerin und der vorliegenden Funktionseinschränkungen, verschiedene Co-Analgetika sowie nicht medikamentöse Therapien wie regelmäßige, bereits im Rahmen der stationären Schmerztherapie erfolgreich eingesetzte Heilmittelanwendung und schmerzpsychotherapeutische Begleittherapie zur Verfügung stünden. Außerdem sei die bewilligte Schmerzrehabilitationsmaßnahme, die aufgrund der bestehenden Corona-Pandemie bisher nicht angetreten werden konnte, abzuwarten. Die Vorstellung beim Schmerztherapeuten werde auch empfohlen. Dem MDK lagen zur Beurteilung der Begutachtungsauftrag der Krankenkasse vom 18.08.2020 inklusive Leistungsübersicht, der Arztfragebogen zu Cannabinoiden vom 03.08.2020, das nervenärztliche Attest der Neurologie am L.- Platz
A-Stadt vorn 26.03.2020, der geriatrisch-internistischer Krankenhausentlassungsbericht des Klinikums A-Stadt betreffend den stationären Krankenhausaufenthalt vom 28.02.2019 bis 25.03.2019 sowie das Gutachten des MDK Bayern zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 27.06.2018 vor.
Die Beklagte schloss sich der Beurteilung des MDK an und lehnte den Antrag auf
Kostenübernahme für Cannabis (Dronabinol) mit Bescheid vom 08.09.2020 ab.
Gegen den Bescheid erhob die Klägerin mit Schreiben vom 21.09.2021 Widerspruch. Der Widerspruch wurde unterstützt durch ein ärztliches Attest durch den Hausarzt der Klägerin Dr. B. vom 30.09.2020 (Blatt 29 der Akten der Beklagten).
Die Beklagte beauftragte erneut den MDK mit der Begutachtung. Der MDK teilte mit Gutachten vom 28.10.2020 mit, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung nicht erfüllt seien. Unstreitig leide die Klägerin an einer schwerwiegenden, die Lebensqualität deutlich beeinträchtigenden Erkrankung. Es stünden jedoch weitere Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, die der Klägerin zumutbar, aber bisher nicht genutzt worden seien. Die Mitbehandlung durch einen speziellen Schmerztherapeuten zur Einleitung einer multimodalen Schmerztherapie sei zu empfehlen. Der MDK kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass die sozialmedizinischen Voraussetzungen für die Kostenübernahme nicht gegeben seien.
Mit Widerspruchsbescheid vom 26.01.2021 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Auf die Begründung des Widerspruchsbescheides nimmt das Gericht Bezug.
Die Klägerin hat mit Schreiben vom 20.02.2021, das beim Sozialgericht Nürnberg am 22.02.2021 eingegangen ist, Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 26.01.2021 erhoben (registriert unter dem Aktenzeichen S 5 KR 95/21) zugleich aber einen "Eilantrag aus gesundheitlichen Gründen" gestellt (registriert unter dem Aktenzeichen S 5 KR 84/21 ER). Es gehe um die Kostenübernahme für das Medikament Dronabinol. Sie sei Rentnerin und könne die Kosten dafür nicht aufbringen. Sie leide seit Jahren an extremen chronischen Schmerzen im Bereich Wirbelsäule (Arthrose), Bandscheibe und Hüfte. Schon 2015 habe sie dreimal die Notaufnahme aufsuchen müssen. 2018 habe eine Operation an der Hüfte stattgefunden, danach Reha, Therapien und immer wieder neue Tabletten (Fentanyl, Dramabol, Tilidin, Palexia u. a.) wegen starker Schmerzen. Eine bereits genehmigte Kur in der S.-Klinik (mit Schmerztherapie) sei abgesagt worden wegen des Coronahygienekonzepts. Sie habe nach einer einem halben Jahr einen Termin bei einem Schmerztherapeuten bekommen. Mittlerweile seien die Schmerzen höllisch geworden und sie könne ihren Haushalt nur schlecht und nur mit Hilfe versorgen. Medikamente könne sie wegen der Nebenwirkungen (Übelkeit, Magenbeschwerden, Erbrechen, Nierenbeschwerden, Schwindel, starke Krämpfe) nicht mehr einnehmen; eine weitere Einnahme würde sie in Lebensgefahr bringen. Sie habe die Vorgaben für die Verordnung von Cannabis erfüllt. Die einzige Alternative sei für sie medizinisches Cannabis. Die Absage für das Schmerzmittel beruhe hauptsächlich auf dem Gutachten des MDK. Der MDK habe ihr keinen Termin für ein persönliches Gespräch oder einen Besuch genannt. Er könne die aktuelle Situation überhaupt nicht beurteilen. Der MDK sei zuletzt bei ihr im Juni 2019 wegen einer Pflegestufe gewesen. Der MDK rate, einem Schmerztherapeuten aufzusuchen, was sie schon längst getan habe. Sie solle ferner die bewilligte Schmerzrehabilitationsmaßnahme abwarten. Die Klinik sei jedoch wegen Corona geschlossen. Sie erkenne darin eine Hinhaltetaktik.
Die Klägerin hat mit einem am 22.03.2021 eingegangenen Schreiben (im Verfahren S 5 KR 84/21) Stellung genommen. Das Schreiben der Beklagten vom 25.02.2021 sei fast identisch mit dem Widerspruchsbescheid. Sie auf die bewilligte Schmerzrehabilitation zu verweisen, klinge wie Hohn in ihren Ohren; denn sie sei 82 Jahre alt und benötige wegen unerträgliche Schmerzen das Medikament schnellstmöglich. Auf Anfrage habe die Schmerzklinik mitgeteilt, die Wartezeit für eine schmerztherapeutische Rehabilitationsmaßnahme könne bis zu zwei Jahren betragen. Auf die übrigen Ausführungen betreffend Schmerztherapeuten, Medikamente und den MDK nimmt das Gericht Bezug.
Die Beklagte hat unter dem zwei 05.02.2021 ablehnend Stellung genommen und die Verwaltungsakten (Blatt 1 bis 56) vorgelegt. Der MDK habe in seinem Gutachten vom 02.09.2020 mitgeteilt, dass aus gutachterlicher Sicht allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechen Leistungen als Alternative - selbst unter Beachtung des hohen Alters und der vorliegenden Funktionseinschränkungen - zur Verfügung stünden, nämlich verschiedene Co-Analgetika sowie als nichtmedikamentöse Therapie die regelmäßige, bereits im Rahmen der stationären Schmerztherapie erfolgreich eingesetzte, Heilmittelanwendung und schmerzpsychotherapeutische Begleittherapie. Außerdem sei die bewilligte Schmerzrehabilitationsmaßnahme, die aufgrund der bestehenden Coronapandemie bisher nicht habe angetreten werden können, abzuwarten. Dem MDK hätten zur Beurteilung die Leistungsübersicht, der Arztfragenbogen zu Cannabinoiden vom 03.08.2020, das nervenärztliche Attest der Neurologie am L.-Platz A-Stadt vom 26.03.2020, der geriatrisch-internistische Krankenhausentlassungsbericht des Klinikums A-Stadt über den stationären Aufenthalt vom 28.02.2019 bis 25.03 2019 sowie das Gutachten des MDK Bayern zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 27.06.2018 vorgelegen. Zwar liege bei der Klägerin aufgrund der chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren unstreitig eine schwerwiegende Erkrankung vor, jedoch stünden für die Behandlung die vom MDK genannten allgemein anerkannten, den medizinischen Standard entsprechenden Leistungen zur Verfügung. Auch sollte die mit Behandlung durch einen speziellen Schmerztherapeuten zur Einleitung einer multimodalen Schmerztherapie erfolgen.
Das Gericht hat mit Beschluss vom 23.03.2021 (S 5 KR 84/21 ER) den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 22.02.2021 abgelehnt. Der -- auch aus Sicht des Gerichts - bedauerliche Umstand, dass die bereits genehmigte Rehabilitationsmaßnahme zur Schmerzreduktion Coronapandemie-bedingt aktuell nicht durchgeführt werden könne, führt nicht zu einer vorläufigen Verpflichtung der Beklagten zur Versorgung der Antragstellerin mit Cannabisarzneimitteln. Diese Rehabilitationsmaßnahme müsse - ebenso wie eine multimodale Schmerztherapie, die bisher noch nicht durchgeführt wurde (der einmalige Besuch eines Schmerztherapeuten sei nicht ausreichend) - noch durchgeführt werden, um die Frage beantworten zu können, ob eine allgemein anerkannte, den medizinischen Standard entsprechende Leistung für die Antragstellerin tatsächlich nicht zur Verfügung steht. Auf die weiteren Gründe des Beschlusses wird Bezug genommen.
Die von der Klägerin dagegen erhobene Beschwerde hat das Bayerische Landessozialgericht mit Beschluss vom 10.06.2021 (L 20 KR 165/21 B ER) zurückgewiesen. Auch auf die Begründung dieses Beschlusses das Gericht Bezug.
Das Gericht die behandelnden Ärzte der Klägerin eingeschaltet. Der Allgemeinmediziner Dr. B. hat unter dem 23.06.2021 mitgeteilt, der Allgemeinzustand der Klägerin verschlechtere sich, die Schmerzen verstärkten sich, sie könne nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Die Selbstversorgung sei bereits eingeschränkt, Medikamente würden nicht mehr ausreichend helfen. Der Facharzt für Orthopädie Dr. C. hat unter dem 09.06.2021 u.a. das chronische Schmerzsyndrom bestätig.
Das Gericht hat den Dr. F. (Zusatzbezeichnung Akupunktur, interdisziplinäre Schmerztherapie, psychosomatische Grundversorgung, Master of Health Business Administation) gutachterlich gehöret. Dieser ärztliche Sachverständige ist in seinem Gutachten vom 05.12.2021 nach einer Untersuchung der Klägerin am 27.10.2021 zu folgenden Ergebnissen gekommen: Die Klägerin habe bisher Cannabis in keiner erhältlichen Darreichungsform versucht. Dennoch müsse die Frage nach einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome - aufgrund der einschlägigen Fachliteratur - bejaht werden. Der Klägerin stünden zwar (theoretisch) therapeutische Optionen zur Verfügung, die noch nicht genutzt worden seien, nämlich:
- Ambulante Schmerztherapie
- stationäre oder tagesklinische Schmerztherapie
- Einsatz von Antikonvulsiva (Pregabalin/Gabapentin)
- Einsatz von Antidepressiva
- Einsatz von hochpotenten Opiaten
- Fortführen ambulanter krankengymnastischer Maßnahmen
- psychotherapeutische Begleitung
- fachärztliche schmerztherapeutische/psychiatrische/neurologische Begleitung
- Akupunkturbehandlung.
Der ärztliche Sachverständige hat diese Behandlungsmöglichkeiten gutachterlich bewertet; auf die diesbezüglichen gutachterlichen Aussagen und Einschätzungen (Bl. 27 bis 29 des Gutachtens) nimmt das Gericht vollumfänglich Bezug.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 29.12.2021 mitgeteilt, im Ergebnis komme auch der Sachverständige Dr. F. zum Ergebnis, dass alternative Therapiemöglichkeiten für die Klägerin zur Verfügung stünden, bevor die Klägerin Cannabis auf Kosten der Beklagten erhalte. Auf die Ausführungen in dem Schriftsatz der Beklagten wird Bezug genommen. Der Gutachter sehe bei der Klägerin aufgrund verschiedener Gründe lediglich Antidepressiva zur Schmerzdistanzierung als infrage kommend an. Dabei kämen vornehmlich Amitriptylin und Duloxetin in Betracht. Darüber hinaus sei auch die Akupunkturbehandlung als vielversprechend anzusehen, jedoch trete diese deutlich zu den therapeutischen Möglichkeiten der Antidepressiva zurück. Weiterhin sei eine regelmäßige ärztliche Begleitung (schmerztherapeutisch oder besser neurologisch) erforderlich sowie auch eine regelmäßige krankengymnastische Beübung zu Hause, hochfrequent mit 2 - 3 Anwendungen pro Woche. Damit seien die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V weiterhin nicht erfüllt. Da eine anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung für die Klägerin zur Verfügung stehe.
Die Klägerin hat mit Schreiben vom 06.01.2022 gebeten, die Beklagte zur Gewährung des Medikaments Dronabinol zu verpflichten.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 08.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbe--
scheides vom 26.01.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie mit
Cannabis gemäß dem ärztlichen Fragebogen vom 03.08.2020 zu versorgen,
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin eine Erprobung von Cannabis-
medikamenten für 6 Monate zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Dem Gericht lagen die Akten der Beklagten vor. Das Gericht hat die Behindertenakte der Klägerin vom Zentrum Bayern Familie und Soziales - Region Mittelfranken - beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Gerichts- und beigezogenen Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage erweist sich (im Sinne des Urteilstenors) als begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 08.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.01.2021 hält - ab 09.05.2022 - einer gerichtlichen Prüfung nicht stand. Die Beklagte ist verpflichtet, die Klägerin ab 09.05.2022 (Tag der mündlichen Verhandlung) mit Cannabismedikamenten entsprechend dem Arztfragebogen vom 03.08.2020 zu versorgen.
Die den Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung zustehende Krankenbehandlung umfasst u.a. die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch - SGB V -). Gemäß § 31 Abs. 6 SGB V kann davon auch die Versorgung mit Medizinalcannabis unter bestimmten Voraussetzungen umfasst sein.
§ 31 Abs. 6 Satz 1 und 2 SGB V lauten:
Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn
1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin o-der des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
Bei der Klägerin liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der vorbezeichneten gesetzlichen Vorschrift vor. Dass die Klägerin unter einer schwerwiegenden Erkrankung - chronischen Schmerzen - leidet, ist unter den Beteiligten nicht streitig. Das wird auch durch das ärztliche Sachverständigengutachten von Dr. F. vom 05.12.2021 ausdrücklich bestätigt. Er hat auch die Frage nach einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome - aufgrund der einschlägigen Fachliteratur - bejaht. Das Gericht hält diese Einschätzungen für nachvollziehbar und überzeugend und legt sie dementsprechend seiner Entscheidung zugrunde.
Schließlich ist das Gericht aufgrund der gutachterlichen Aussagen von Dr. F., denen das Gericht ohne Vorbehalt folgt, auch zu dem Ergebnis gekommen, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im besonders gelagerten Fall der Klägerin nach der begründeten Einschätzung der ärztlichen Sachverständigen, die insoweit die Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes ersetzt, unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der Klägerin nicht zur Anwendung kommen kann. Der ärztliche Sachverständige hat überzeugend und vollständig die - theoretisch der Klägerin zur Verfügung stehenden - Behandlungsmöglichkeiten benannt. Es sind dies: ambulante Schmerztherapie, stationäre oder tagesklinische Schmerztherapie, Einsatz von Antikonvulsiva (Pregabalin/Gabapentin), Einsatz von Antidepressiva, Einsatz von hochpotenten Opiaten, Fortführen ambulanter krankengymnastischer Maßnahmen, psychotherapeutische Begleitung, fachärztliche schmerztherapeutische/psychiatrische/
neurologische Begleitung und Akupunkturbehandlung. Der Gutachter hat dann aufgrund des aktuellen Gesundheitszustands der Klägerin jedoch eine Fülle dieser theoretisch zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten für die Klägerin ausgeschlossen und zwar: eine tagesklinische schmerztherapeutische Behandlung, da die Klägerin, "wie dargelegt, nicht über genügend Mobilität verfügt, als dass ihr ein Aufsuchen einer ambulanten Schmerztherapie über Wochen aus medizinischer Sicht zuzumuten sei". Dies erklärt sich auch für das Gericht durch die Gangstörung, von der sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung selbst überzeugen konnte, und die chronischen Schmerzen. Damit kommt die (vom Gutachter nachvollziehbar geschilderte und) auf drei Hauptsäulen beruhende ambulante und stationäre Schmerztherapie (Einsatz von Schmerzmitteln [vornehmlich Opiaten], physikalische Maßnahmen, Psychoedukation und Psychotherapie) nicht in Betracht. Da nach - für das Gericht glaubhaften - Angaben der Klägerin bereits in der Vergangenheit hochpotente Opiate in Form von Fentanyl und Bupropion erfolglos zum Einsatz gekommen (erfolglos im Sinne eines Nichtansprechens) sind, braucht sich die Klägerin auf einen - vom Gesamtkonzept der Schmerztherapie nicht trennbaren - Teil der ambulanten oder stationären Schmerztherapie nicht verweisen lassen, zumal der Gutachter beschreibt, dass "insbesondere hochpotente Opiate, auch in retardierter Form, zu Nebenwirkungen führen können, wie beispielsweise Obstipation, Verwirrung und Zunahme von Sturzneigung, insbesondere auch bei älteren Patienten". Nachdem die Gangstörung der Klägerin ausgeprägt ist und ein unsystematischer chronischer Schwindel besteht, hält der Gutachter aus medizinischer Sicht den Einsatz von Opiaten nicht für ratsam. Die Klägerin kann daher nicht auf die Einnahme von Opiaten verwiesen werden. Nach Dafürhalten des Gutachters scheiden diese medikamentösen Optionen aus; dieser Einschätzung folgt das Gericht. Krankengymnastische Maßnahmen wären, ambulant oder im Rahmen einer Schmerztherapie (ambulant und stationär), wären zwar theoretisch denkbar, eine relevante Besserung ist jedoch aufgrund des hohen Alters und der Chronizität der Beschwerden der Kläger nach Einschätzung des Gutachters nicht zu erwarten; diese therapeutische Option ist also nicht vielversprechend und scheidet nach Dafürhalten des Gutachters aus. Dem folgt das Gericht, so dass die Klägerin - entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht auf eine hochfrequente Inanspruchnahme von krankengymnastischen Einheiten verwiesen werden kann.
Zwar hält der Gutachter eine psychotherapeutische Begleitung prinzipiell für sinnvoll und sie könnte zum Verständnis der Klägerin für die chronischen Schmerzen bzw. zur Schmerzverarbeitung beitragen; doch ist auch nach Auffassung des Gerichts die Inanspruchnahme wenig erfolgversprechend. Mit dem Gutachter kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die wesentlichen Elemente einer Schmerztherapie im konkreten Fall wenig erfolgversprechend sind. Das Gericht hält daher an seiner im Beschluss vom 23.03.2021 (S 5 KR 84/21 ER) vertretenen Auffassung nicht mehr fest.
Gleiches gilt nach Dafürhalten des Gutachters, dem sich das Gericht anschließt, für eine psychiatrische fachärztliche Begleitung, da die Klägerin "dies als demütigend empfinden würde und sie nach ihrem Verständnis nicht psychisch krank ist". Auf eine neurologische fachärztliche Begleitung, die sie "unter Umständen besser" annehmen könnte, braucht sich die Klägerin - bei ungewissem Besserungserfolg - nicht verweisen lassen.
An medikamentösen Optionen scheiden Gabapentin und Pregabalin nach Dafürhalten
des Gutachters aus; dem schließt sich das Gericht an. Der Gutachter hat dazu nachvollziehbar ausgeführt: "Diese sind zwar Co-Analgetika, die in der Schmerztherapie gerne
eingesetzt werden, im vorliegenden Fall liegt aber keine neuropathische Komponente
vor und die Schwindelsymptomatik könnte sich unter dieser Medikation verstärken.
Nach Dafürhalten des Gutachters sind diese keine aussichtsreiche therapeutische
Alternative oder Ergänzung".
Schließlich braucht sich die Klägerin auch nicht auf die Einnahme von Antidepressiva verweisen lassen, die allenfalls eine Möglichkeit der "Schmerzdistanzierung" beinhalten, die gleichzeitig auch (nach Einschätzung des Gutachters) die chronische depressive Symptomatik der Klägerin bessern könnten. Hier kämen nach Einschätzung des Gutachters vornehmlich Amitriptylin und Duloxetin in Betracht. Diese hätten zwar auch ein eher
ungünstiges Nebenwirkungsspektrum, könnten aber niedrigdosiert bereits zu einer Schmerzreduktion beitragen und erschienen unter entsprechender fachärztlicher Begleitung und ggf. Dosisadaptation tatsächlich aussichtsreich für die Klägerin. Dem folgt die Kammer nicht; die Klägerin braucht sich nicht auf nebenwirkungsreiche Antidepressiva verweisen lassen, die keine Behandlung der Schmerzsymptomatik zum Ziel haben, sondern vorrangig die "Schmerzdistanzierung". Die Berücksichtigung von Nebenwirkungen sieht § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b SGB V ausdrücklich vor.
Regelmäßige Akupunkturbehandlungen kommen wegen der fehlenden bzw. nicht ausreichenden Möglichkeit der Klägerin zu regelmäßigen Praxisbesuchen nicht in Betracht.
Damit steht zur Überzeugung des Gerichts im Ergebnis fest, dass im konkreten Einzelfall der Klägerin nach der begründeten Einschätzung des ärztlichen Sachverständigen unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der Klägerin eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht mehr zur Anwendung kommen kann Das hat zur Folge, dass die Klägerin Anspruch auf Versorgung mit Cannabis-Medikamenten hat. Hier ist allerdings eine konkrete ärztliche Verordnung noch nachzuholen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 192 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG); sie orientiert sich an dem (teilweisen) Klageerfolg der Klägerin.
Zur Rechtsmittelbelehrung siehe nächste Seite.