Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 28. November 2023 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.
Der 1968 geborene Kläger ohne abgeschlossene Ausbildung war von Oktober 1993 bis Juni 2015 als selbstständiger Einzelhändler ohne Beitragszahlungen zur gesetzlichen Rentenversicherung tätig. Vom 4. bis 25. April 2017 absolvierte der Kläger eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in der A1klinik in I1 (Fachgebiet Orthopädie). Als Diagnosen wurden genannt: Sonstige näher bezeichnete entzündliche Spondylopathien (mehrere Lokalisationen der Wirbelsäule), chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, mittelgradige depressive Episode, Bandscheibenschaden. Dem Entlassungsbericht vom 25. April 2017 zufolge wurde das Leistungsvermögen für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Einzelhändler sowie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit mindestens sechs Stunden täglich festgestellt. Zur Begründung wurde angegeben, von psychologischer Seite bei mittelgradiger depressiver Episode sowie chronischer Schmerzstörung werde der Kläger weiterhin arbeitsunfähig entlassen; eine neue Beurteilung von psychiatrischer/psychosomatischer Seite sei erforderlich. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe eine Leistungsfähigkeit entsprechend dem positiven und negativen Leistungsbild für leichte bis mittelschwere Berufstätigkeiten in zeitweise gehenden und stehenden sowie im Wechsel sitzenden Tätigkeiten in der Tagesschicht sowie Früh-/Spätschicht unter Berücksichtigung bewegungsbezogener Funktionseinschränkungen und unter Berücksichtigung der psychomentalen Funktionseinschränkungen bei mittelgradiger depressiver Episode und chronischer Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Ein GdB von 60 ab 26. Juni 2015 ist festgestellt (Bescheid des Versorgungsamtes vom 8. März 2018).
Der Kläger beantragte bei der Beklagten am 9. Juli 2020 die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.
Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 24. August 2020 ab. Der Kläger erfülle für die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dieser Rente nicht. Nach den ärztlichen Feststellungen (sozialmedizinische Stellungnahme des G1 vom 17. August 2020) sei der Kläger seit dem 26. Juli 2017 befristet voll erwerbsgemindert. Eine Rente wegen Erwerbsminderung könne jedoch nur bezogen werden, wenn weitere Voraussetzungen vorlägen. Es sei eine Mindestzahl von Pflichtbeiträgen erforderlich. Diese versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien gegeben, wenn das Versicherungskonto innerhalb der letzten fünf Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens 36 Monate Pflichtbeiträge enthalte. Das Versicherungskonto des Klägers enthalte Zeiten, die den Zeitraum von fünf Jahren verlängerten. Unter Berücksichtigung dieser Zeiten müsse das Versicherungskonto des Klägers im Zeitraum vom 1. Juni 2010 bis 25. Juli 2017 die Mindestzahl von 36 Monaten Pflichtbeiträgen enthalten. In diesem Zeitraum habe der Kläger jedoch nur einen Monat mit Pflichtbeiträgen belegt.
Hiergegen erhob der Kläger am 24. September 2020 Widerspruch. Nach der Rehamaßnahme 2017 sei er zur Beratung im Regionalzentrum U1 der Beklagten aufgrund einer beabsichtigten Antragstellung auf Rente wegen Erwerbsminderung gewesen. Die beratende Stelle habe ihm die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erklärt und dem Kläger sei geraten worden, drei Jahre versicherungspflichtig zu arbeiten, um die Voraussetzungen zu erfüllen. Daraufhin sei er vom 1. Juli 2017 bis 30. Juni 2020 geringfügig beschäftigt gewesen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 9. November 2020 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Nach den Feststellungen des Sozialmedizinischen Dienstes sei der Kläger nur noch in der Lage, leichte Arbeiten unter drei Stunden täglich zu verrichten. Diese Einschränkung bestünde seit 26. Juli 2017. Es ergäben sich keine Hinweise darauf, dass der Leistungsfall zu einem anderen Zeitpunkt eingetreten sei. Der Kläger erfülle die allgemeine Wartezeit. Im maßgeblichen Zeitraum vom 1. Juni 2010 bis 25. Juli 2017 sei jedoch nur ein Kalendermonat mit Pflichtbeiträgen vorhanden. Darüber hinaus sei auch der Zeitraum vom 1. Januar 1984 bis zum 25. Juli 2017 nicht durchgehend mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt. Im Rahmen eines „sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs“ sei eine fehlerhafte Beratung seitens der Beklagten vom Kläger im Rahmen der objektiven Beweislast nachzuweisen. Darüber hinaus ändere sich jedoch nichts am Sachverhalt, denn mit nach dem Leistungsfall gezahlten Pflichtbeiträgen könnten die Voraussetzungen nicht nachträglich erfüllt werden. Ein abweichender Leistungsfall sei nicht geltend gemacht worden. Es sei damit weder eine Kausalität noch eine rechtliche Möglichkeit gegeben, sodass ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch ausscheide.
Hiergegen hat der Kläger am 13. November 2020 zum Sozialgericht (SG) Ulm Klage erhoben. Er hat auf die Begründung im Widerspruchsverfahren verwiesen. Es sei weiterhin nicht nachvollziehbar, wieso die Beklagte von dem Eintritt der Erwerbsminderung am 26. Juli 2017 ausgehe.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen bei dem S1. Dieser hat den Kläger am 27. Januar 2021 ambulant untersucht und in seinem Gutachten vom 14. März 2021 folgende Diagnosen gestellt:
1. undifferenzierte Arthritis,
2. chronische Gicht,
3. chronisches Cervicalsyndrom bei degenerativen Veränderungen ohne neurologische Ausfallsymptomatik,
4. chroniches LWS.Syndrom bei Osteochondrosen und Bandscheibenprotrusionen L3 bis S1, Spondylarthrose L4/5 und L5/S1 ohne neurologische Ausfallsymptomatik,
5. beginnende Gonarthrose beidseits,
6. Impingementsyndrom beider Schultergelenke,
7. Arthrose an den Endgelenken und den Mittelgelenken beider Hände,
8. Rhizarthrose beidseits.
Als nichtorthopädische Diagnosen hat er angeführt:
1. Chronische Schmerzstörung mit somatischen psychischen Faktoren, Dysthymie,
2. Adipositas Grad III,
3. Diabetes mellitus,
4. Schlafapneosyndrom.
Er hat weiter ausgeführt, auf orthopädisch-rheumatologischem Fachgebiet leide der Kläger unter einer undifferenzierten Arthritis, die im September 2016 diagnostiziert worden sei. Ausgehend von dieser Erkrankung lägen Schwellungen und Schmerzen an zahlreichen Gelenken vor. Es sei davon auszugehen, dass die über lange Jahre stattgefundenen Ablagerungen der Harnsäurekristalle an den Händen, Ellenbogen, Achillessehne, Fersen, Trochanter major beidseits und auch an den Sehnen beim Kläger die Beschwerden bei der undifferenzierten Arthritis wesentlich verstärkten. Es hätten sich auch schon mehrmals Harnsäurenierensteine gebildet. Weiterhin seien seit mehreren Jahren Beschwerden an der Halswirbelsäule gegeben. Zur Zeit sei die Beweglichkeit mäßig schmerzhaft eingeschränkt. Schließlich lägen seit vielen Jahren Schmerzen an der Lendenwirbelsäule vor, wobei zur Zeit die Beweglichkeit schmerzhaft eingeschränkt sei. Die distalen Lendenwirbel seien druckschmerzhaft und die paravertebrale Muskulatur sei schmerzhaft verspannt. Bei der klinischen Untersuchung habe sich weiterhin ein Impingementsyndrom beider Schultergelenke mit klinischen Zeichen einer Arthrose der Schultereckgelenke und ein Reizzustand der Rotatorenmanschette und eine Bursitis subacromialis ergeben. Die Beweglichkeit sei schmerzhaft eingeschränkt. An den Endgelenken und an den Mittelgelenken der Finger beider Hände sowie an den Sattelgelenken liege eine Arthrose vor. Es bestünden Bewegungseinschränkungen und teilweise auch Schwellungen dieser Gelenke. An beiden Füßen bestehe ein ausgeprägter Druckschmerz am Ansatz der Achillessehne, am Ansatz der kurzen Fußmuskulatur, am Fersenbein, am Ansatz der Sehne Musculus peronaeus previs und an den Zehengelenken beidseits. Die Belastbarkeit beider Füße sei wesentlich eingeschränkt. Mit den vorhandenen orthopädischen Maßschuhen könne der Kläger kurze Strecken gehen. Durch die undifferenzierte Arthritis und die chronische Gicht mit Bewegungseinschränkung der Finger, Handgelenksschmerzen, Schultergelenksschmerzen, rezidivierenden Gelenkschwellungen und Entzündungen an Sehnenansätzen an den Ellenbogen und Achillessehne, der Plantarfascien an den Fersen und der Sehnen Musculus Peronaeus previs sei die Belastbarkeit der oberen und auch der unteren Extremitäten wesentlich herabgesetzt. Der Kläger könne noch leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten, wobei er in zeitlicher Hinsicht solche Tätigkeiten weniger als drei Stunden täglich vornehmen könne. Der Kläger sei nicht in der Lage, mindestens viermal täglich mehr als 500 m zu Fuß zurückzulegen. Die festgestellten Leistungseinschränkungen auf dem orthopädisch-rheumatologischen Fachgebiet bestünden mit geringen Schwankungen im klinischen Befund, die durch den schubartigen Verlauf der rheumatischen Erkrankung verursacht seien, seit der Diagnosestellung der undifferenzierten Arthritis durch die R1 im September 2016.
Ausgehend von der Einschätzung des Sachverständigen S1 erklärte die Beklagte, es werde an der im Verwaltungsverfahren vorgenommenen Einschätzung eines Leistungsfalls am 26.Juli 2017 nicht mehr festgehalten. Der Sachverständige habe die Leistungseinschätzung der Beklagten bestätigt, gehe jedoch von einem Leistungsfall im September 2016 aus. Auch zu diesem Zeitpunkt seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.
Der Kläger ist dem Gutachten mit Schreiben vom 4. Oktober 2021 entgegengetreten. Der Leistungsfall sei nicht im September 2016 eingetreten. Zu erinnern sei an die Untersuchung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung vom Mai 2016. Dort sei er „aus medizinischer Sicht auf Zeit weiter arbeitsunfähig“ gewesen. Es sei nicht die Rede von einer Erwerbsminderung gewesen. Zu verweisen sei weiterhin auf den Reha-Entlassungsbericht vom 25. April 2017. In diesem Bericht sei es während des Aufenthaltes dort zu einer leichten Verbesserung der Symptomatik gekommen. In einem Beratungsgespräch im April 2017 seien ihm von der Beklagten die rechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente erklärt worden. Es sei ihm geraten worden, mindestens drei Jahre versicherungspflichtig zu arbeiten, um diese Voraussetzungen zu erfüllen. Deshalb habe er vom 1. Juli 2017 bis 30. Juni 2020 geringfügig, aber versicherungspflichtig gearbeitet.
In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 20. November 2021 hat der Sachverständige S1 ausgeführt, auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Klägers in seinem Schreiben vom 4. Oktober 2021 verbleibe es bei seiner Antwort auf die Beweisfrage 4 (seit wann bestehen die von Ihnen festgestellten Leistungseinschränkungen). Er habe alle vorhandenen Unterlagen, Befunde und Berichte, die für die Beantwortung dieser Frage heranzuziehen gewesen seien, sorgfältig ausgewertet. Hierbei handele es sich nicht um eine „grobe Einschätzung und Vermutung“, wie der Kläger meine, sondern um eine gutachterliche Beurteilung und Stellungnahme.
In seiner weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 23. Januar 2022 hat der Sachverständige weiter ausgeführt, in dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 10. Mai 2016 habe aus medizinischer Sicht weiterhin Arbeitsunfähigkeit bestanden. Es sei von einer erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit des Klägers aufgrund von mehreren chronifizierten orthopädischen Beschwerden ausgegangen worden. In der sozialmedizinischen Beurteilung der Bundesagentur für Arbeit vom 29. September 2016 sei ausgeführt worden, dass beim Kläger seit Oktober 2015 durchgehend Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Gelenkbeschwerden an mehrfachen Körperstellen bestehe; vor allem schmerzten die Lendenwirbelsäule und beide Füße. Vom behandelnden Facharzt sei weiterhin Arbeitsunfähigkeit dargelegt worden. Die Belastbarkeit sei insgesamt eingeschränkt. Es bestehe derzeit und bis auf Weiteres (länger als sechs Monate) keine Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Der Sachverständige hat weiter ausgeführt, dass durch die im Laufe des Jahres 2016 dokumentierten medizinischen Befunde belegt sei, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers zunehmend verschlechtert habe. Deshalb halte er an seiner Antwort auf die Beweisfrage 4, seit wann nämlich die von ihm festgestellten Leistungseinschränkungen bestünden, fest.
Das SG hat die Klage nach vorheriger Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 28. November 2023 abgewiesen. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente lägen nicht vor. Der Kläger sei seit dem 15. September 2016 nicht mehr in der Lage, mindestens drei Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig zu sein und damit voll erwerbsgemindert gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI). Dies ergäbe sich aus dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Sachverständigen S1. Nach Untersuchung des Klägers habe dieser festgestellt, dass der Kläger auf orthopädisch-rheumatologischem Fachgebiet unter einer undifferenzierten Arthritis leide, welche im September 2016 diagnostiziert worden sei. Der Kläger leide bei dieser Erkrankung unter Schwellungen und Schmerzen an zahlreichen Gelenken. Darüber hinaus leide der Kläger unter Beschwerden an der HWS und LWS, die zu Einschränkungen der Beweglichkeit führten. Der Sachverständige habe nachvollziehbar ausgeführt, dass der Kläger bei den vorangegangenen orthopädisch-rheumatologischen Gesundheitsstörungen unter Würdigung der Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit und unter Berücksichtigung ihrer wechselhaften Beziehungen zueinander körperliche Tätigkeiten nur noch im Umfang von weniger als drei Stunden täglich verrichten könne. Auch hinsichtlich der Feststellung des Leistungsfalles im September 2016 sei dem Gutachten S1 zu folgen, da er hierzu die aktenkundigen medizinischen Unterlagen fachlich ausgewertet habe. Ihm zufolge bestünden die von ihm festgestellten Leistungseinschränkungen mit geringen Schwankungen im klinischen Befund, die durch den schubartigen Verlauf der rheumatischen Erkrankung verursacht seien, seit der Diagnosestellung der undifferenzierten Arthritis durch die behandelnde R1 im September 2016. Am 15. September 2016 sei beim Kläger eine Skelettszinthigraphie durchgeführt worden mit initial chronischem entzündungssuspektem Verteilungsmuster. Die allgemeine Wartezeit gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI erfülle der Kläger; in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung habe er jedoch keine drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI. Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängere sich gemäß § 43 Abs. 4 SGB VI um die in dieser Vorschrift genannten Zeiten. Auch unter Berücksichtigung des verlängerten Zeitraums seien beim Kläger im maßgeblichen Zeitraum keine Pflichtbeiträge vorhanden, da er lediglich in der Zeit vom 1. Juli 2017 bis 30. Juni 2020 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei und während seiner Selbstständigkeit keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt habe. Es liege auch kein Fall des § 43 Abs. 5 SGB VI vor, wonach eine Pflichtbeitragszeit für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht erforderlich sei, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten sei, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt sei. Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI scheide bereits deshalb aus, weil der Kläger 1968 geboren sei.
Ein Rentenanspruch ergäbe sich auch nicht aus den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Dieser greife nach den allgemeinen richterrechtlichen Grundsätzen bei einer den zuständigen Sozialleistungsträgern zuzurechnenden Pflichtverletzung ein, durch welche dem Berechtigten ein sozialrechtlicher Nachteil oder Schaden entstanden sei. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setze voraus, dass der Sozialleistungsträger eine ihm obliegende Pflicht (insbesondere zur Auskunft und Beratung) verletzt habe. Aus dieser Verletzung der Beratungspflicht müsse dem Versicherten ein Nachteil entstanden sein, wobei zwischen der Pflichtverletzung und dem Nachteil ein Kausalzusammenhang bestehen müsse. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch komme grundsätzlich unter Berücksichtigung der Verpflichtung der Rentenversicherungsträger nach § 115 Abs. 6 SGB VI in Betracht. Danach sollen die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen, dass sie eine Leistung erhalten könnten, wenn sie diese beantragten. In Richtlinien der Deutschen Rentenversicherung Bund könne bestimmt werden, unter welchen Voraussetzungen solche Hinweise erfolgten. Die Vorschrift begründe ein subjektives Recht auf Erteilung eines Hinweises. Nach Aussage des Klägers habe ihm die Beklagte geraten, eine versicherungspflichtige Tätigkeit für drei Jahre aufzunehmen, um die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Erwerbsminderungsrente zu erfüllen. Da der konkrete Gesprächsinhalt mangels Protokolls nicht mehr ermittelt werden könne, sei bereits eine Pflichtverletzung der Beklagten nicht nachgewiesen. Darüber hinaus sei auch nicht ersichtlich, dass dem Kläger ein kausaler Nachteil entstanden sei, da der Leistungsfall nach den obigen Ausführungen zum Zeitpunkt der Beratung bereits eingetreten gewesen sei und die Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI nicht mehr erfüllt werden könnten.
Der Kläger hat gegen den ihm mit Postzustellungsurkunde am 1. Dezember 2023 zugestellten Gerichtsbescheid am 29. Dezember 2023 beim SG Berufung erhoben. Sein Bevollmächtigter trägt vor, entgegen den Ausführungen im Gerichtsbescheid des SG vom 28. November 2023 seien die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Eine volle Erwerbsminderung sei weder im Juli 2017 noch im September 2016 eingetreten. Vielmehr sei der Eintritt des Versicherungsfalls frühestens ab dem Zeitpunkt der Antragstellung anzunehmen. Das SG habe sich auf das Gutachten des Sachverständigen S1 gestützt. Das Gutachten sei am 14. März 2021 erstellt worden und beruhe auf einer Untersuchung des Klägers am 27. Januar 2021. Deswegen spreche schon der rein zeitliche Aspekt eindeutig gegen die Einschätzung des Gutachters dahingehend, der Kläger sei bereits seit dem 15. September 2016 voll erwerbsgemindert. Dieser Zeitpunkt sei ausgehend von der Begutachtung bereits und viereinhalb Jahre zurückliegend. Der Sachverständige benenne diesbezüglich nur eine Diagnose und einen Monat. Dies könne nicht als schlüssiger Vollbeweis für den Zeitpunkt des Eintritts der quantitativen Leistungsminderung angesehen werden. Die Beklagte habe im streitgegenständlichen Ausgangsbescheid vom 24. August 2020 ebenfalls nur ein Datum benannt, zu dem die volle Erwerbsminderung eingetreten sein solle, nämlich den 26. Juli 2017. Eine Begründung dafür habe sie nie abgegeben. Der Reha-Entlassungsbericht vom 25. April 2017 spräche gegen den Eintritt einer vollen Erwerbsminderung bereits im September 2016. Sowohl im Hinblick auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Einzelhändler als auch in Bezug auf den allgemeinen Arbeitsmarkt sei ein vollschichtiges Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich angenommen worden. Wenn sich der Sachverständige in seiner weiteren Stellungnahme vom 23. Januar 2023 für seine Auffassung zum Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsminderung auf eine sozialmedizinische Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit vom 29. September 2016 beziehe, wonach beim Kläger seit dem 9. Oktober 2015 durchgehend Arbeitsunfähigkeit vorgelegen habe und derzeit und bis auf Weiteres keine Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe, sei diese jedoch nicht ansatzweise als Beleg für eine volle Erwerbsminderung. Diese Stellungnahme sei ausschließlich nach Aktenlage erstellt worden. Nur wenige Monate später habe die Reha-Klinik ein vollschichtiges Leistungsvermögen des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bescheinigt. Ihr komme erkennbar ein höherer Beweiswert zu als einer knapp gefassten Stellungnahme nach Aktenlage. Nach Beendigung der Reha-Maßnahme habe der Kläger noch drei Jahre lang versicherungspflichtig gearbeitet. Dass es sich dabei um eine geringfügige Beschäftigung gehandelt habe, sei unbeachtlich. Eine relevante Verschlechterung des Gesundheitszustandes im Sinne der Minderung eines quantitativen Leistungsvermögens sei beim Kläger erst im Jahre 2020 eingetreten, was letztlich auch der Anlass für die Stellung des Rentenantrages gewesen sei. Die medizinischen Voraussetzungen im Sinne einer vollen Erwerbsminderung seien zu diesem Zeitpunkt erfüllt gewesen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 28. November 2023 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. August 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. November 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf die angefochtenen Entscheidungen.
Der Berichterstatter hat am 5. März 2024 mit den Beteiligten die Sach- und Rechtslage erörtert; die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig; der Senat entscheidet über die Berufung auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung.
Die Berufung ist jedoch unbegründet.
Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG vom 28. November 2023 und der Bescheid der Beklagten vom 24. August 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. November 2020 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung.
Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die hier vom Kläger beanspruchte Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) dargelegt und zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nicht besteht, obwohl der Kläger gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI voll erwerbsgemindert ist. Da er dies jedoch bereits seit September 2016 und durchgehend ist - so zutreffend das SG - erfüllt er gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGBVI die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dahingehend, dass er in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben muss, nicht. Der Kläger ging von Oktober 1993 bis Juni 2015 einer selbstständigen Tätigkeit als Einzelhändler ohne Beitragszahlungen zur gesetzlichen Rentenversicherung nach. Lediglich in dem Zeitraum Juli 2017 bis 30. Juni 2020 weist der Versicherungsverlauf des Klägers Pflichtbeitragszeiten auf. Somit steht fest, dass der Kläger die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI ausgehend vom Eintritt des Versicherungsfalls der (vollen) Erwerbsminderung im September 2016 nicht erfüllt. Der Senat schließt sich den diesbezüglichen Ausführungen des SG in seinem Gerichtsbescheid vom 28. November 2023 nach eigener Prüfung an, sieht deshalb gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Gerichtsbescheides zurück.
Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Berufungsverfahren.
Auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Bevollmächtigten des Klägers im Berufungsverfahren geht (auch) der Senat davon aus, dass nach dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Sachverständigen S1 davon auszugehen ist, dass der Kläger seit September 2016 nicht mehr in der Lage ist, mindestens drei Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig zu sein und damit voll erwerbsgemindert gemäß § 43 Abs. 3 Satz 2 SGB VI ist. Im September 2016 wurde die beim Kläger auf orthopädisch-rheumatologischem Fachgebiet vorliegende undifferenzierte Arthritis, auf die der Sachverständige hauptsächlich seine sozialmedizinische Leistungseinschätzung bezüglich des Klägers stützt, diagnostiziert. Wegen dieser Erkrankung leidet der Kläger unter Schwellungen und Schmerzen an zahlreichen Gelenken. Weiterhin liegen beim Kläger eine chronische Gicht, ein chronisches Cervicalsyndrom bei degenerativen Veränderungen ohne neurologische Ausfallsymptomatik, ein chronisches LWS-Syndrom bei Osteochondrosen und Bandscheibenprotrussionen L3-S1, eine Spondylarthrose L4/5 und L5/S1 und weitere orthopädische Erkrankungen vor. Nachvollziehbar führt der Sachverständige aus, dass der Kläger bei den vorhandenen orthopädisch-rheumatologischen Gesundheitsstörungen, der Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit und unter Berücksichtigung der wechselhaften Beziehungen zueinander körperliche Tätigkeiten nur noch im Umfang von weniger als drei Stunden täglich ausüben kann. Auch bezüglich der Feststellung des Zeitpunkts des Eintritts des Versicherungsfalls voller Erwerbsminderung im September 2016 hält der Senat das Gutachten des Sachverständigen S1 für überzeugend. Er hat diesbezüglich die aktenkundigen medizinischen Unterlagen fachlich ausgewertet. Dies hat er in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 20. November 2021 ausdrücklich hervorgehoben. Bestätigt wird die sozialmedizinische Einschätzung des Sachverständigen durch die sozialmedizinische Beurteilung von W1 von der Bundesagentur für Arbeit. Am 29. September 2016 hat sie über den Kläger ausgeführt, dass seit 9. Oktober 2015 durchgehend Arbeitsunfähigkeit aufgrund Gelenkbeschwerden an mehrfachen Körperstellen bestehe. Beim Kläger lägen vor allem Schmerzen in der Lendenwirbelsäule und in beiden Füßen vor. Die Belastbarkeit des Klägers sei insgesamt eingeschränkt. Derzeit und bis auf Weiteres sei keine Leistungsfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gegeben. Hieran hat sich - denn diesbezüglich fehlt es an medizinischen Befunden über den Kläger, die eine andere Einschätzung zulassen würden - nichts geändert. Entgegen steht auch nicht die sozialmedizinische Beurteilung des Klägers im Entlassungsbericht vom 25. April 2017 nach seiner Reha-Maßnahme vom 4. bis 25. April 2017. Zwar wird dem Kläger danach ein Leistungsvermögen von sechs und mehr Stunden für die letzte Tätigkeit als Einzelhändler zugebilligt. In der sozialmedizinischen Epikrise wird aber diesbezüglich einschränkend ausgeführt, dass von psychologischer Seite bei mittelgradiger depressiver Episode sowie chronischer Schmerzstörung der Kläger als „weiterhin arbeitsunfähig“ entlassen werde. Eine Neubeurteilung von psychischer/psychosomatischer Seite sei erforderlich. Gerade also bzgl. der Erkrankungen, die mit Schmerzen einhergehen, enthält der Entlassungsbericht keine abschließende Einschätzung über den Kläger. Die vom Sachverständigen S1 hauptsächlich seiner Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers zugrunde gelegte Erkrankung ist aber die undifferenzierte Arthritis, die mit Schmerzen in allen Gelenken verbunden ist.
Nach alledem besteht kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).