L 19 AS 1849/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 4 AS 3407/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1849/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 23.11.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II in Form des Regelbedarfs für die Zeit vom 01.04.2020 bis 31.12.2020, hilfsweise die Gewährung von Überbrückungsleistungen für die Zeit vom 08.04.2020 bis 31.12.2020.

 

Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist bulgarischer Staatsangehöriger. Er reiste erstmals am 30.07.2011 von Bulgarien aus in die Bundesrepublik Deutschland ein. Laut einer erweiterten Meldebescheinigung der Y. vom 22.01.2021 meldete sich der Kläger zum 01.11.2011 nach Bulgarien ab. Eine erneute Wohnsitzmeldung erfolgte am 01.12.2013 für die Zeit bis zum 02.02.2014. In der Zeit vom 16.02.2016 bis 31.07.2019 war der Kläger erneut gemeldet. Am 18.08.2019 reiste der Kläger erneut aus Bulgarien ein und meldete sich an. Am 19.08.2019 wurde er nach unbekannt abgemeldet.

 

Zum 01.02.2016 schloss der Kläger einen bis zum 31.03.2017 befristeten Arbeitsvertrag für eine Tätigkeit als Thekenkraft ab. Das monatliche Bruttoentgelt betrug 500,00 €, netto 434,05 € im Jahr 2016 und 434,36 € im Jahr 2017. Das Arbeitsverhältnis wurde durch eine betriebsbedingte Kündigung des Arbeitgebers zum 31.03.2017 beendet. Ausweislich der für die Bundesagentur für Arbeit ausgestellten Arbeitsbescheinigung begann das Arbeitsverhältnis am 15.02.2016 und war in der Zeit vom 01.10.2016 bis 17.10.2016 unterbrochen. Nach Angaben des Klägers nahm er in dieser Zeit unbezahlten Urlaub und reiste aus familiären Gründen nach Bulgarien. Die Bundesagentur für Arbeit H. bestätigte dem Kläger den unfreiwilligen Verlust der Beschäftigung und bewilligte ihm in der Zeit vom 01.04.2017 bis 14.07.2017 Arbeitslosengeld I.

 

In der Zeit vom 01.03.2017 bis 31.08.2017 bezog der Kläger zudem Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II vom Beklagten.

 

In der Zeit vom 17.07.2017 bis 30.09.2017 übte der Kläger eine Beschäftigung als Reinigungskraft gegen ein Entgelt i.H.v. 500,00 € brutto monatlich mit einer Arbeitszeit von ca. 10 Stunden wöchentlich aus. Die Beschäftigung endete mit der Inhaftierung des Klägers am 18.09.2017.

 

In der Zeit vom 18.09.2017 bis 24.11.2017 befand der Kläger sich in Auslieferungshaft und anschließend war er bis Ende Februar 2018 in Bulgarien inhaftiert. Am 25.02.2018 sprach der Kläger beim Beklagten vor.

 

Der Kläger war in der Zeit vom 20.04.2018 bis 11.06.2018 als Raumpfleger mit einer Arbeitszeit von 10 Stunden wöchentlich gegen ein Entgelt von 10,30 € pro Stunde beschäftigt. Nach Angaben der Arbeitgeberin blieb er ab dem 09.06.2018 (Samstag) ohne Angabe eines Grundes der Arbeit fern.

 

Aus den Verbis-Vermerken der Bundesagentur für Arbeit geht hervor, dass sich der Kläger am 29.03.2018 arbeitslos meldete und in der Arbeitsvermittlung reaktiviert wurde. Am 08.07.2018 erfolgte eine Übergabe an den Beklagten. Weiter ist vermerkt, dass der Kläger am 01.10.2018 aus der Arbeitsvermittlung abgemeldet wurde; unter dem 17.10.2018 ist festgehalten, dass der Kläger keine Führung als Arbeitsuchender in der Agentur für Arbeit H. wünsche.

 

In der Zeit vom 02.05.2019 bis 04.07.2019 arbeitete der Kläger versicherungspflichtig bei der O.. In der Zeit vom 07.10.2019 bis 31.10.2019 war er geringfügig beschäftigt.

 

Den Antrag des Klägers auf Grundsicherungsleistungen vom 08.04.2020 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 08.05.2020 ab.

 

Am 18.05.2020 beantragte der Kläger beim Sozialgericht H. den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Mit Beschluss vom 21.07.2020 verpflichtete das Sozialgericht H. (S 28 AS 1907/20 ER) den Antragsgegner zur vorläufigen Gewährung des Regelbedarfs für die Zeit vom 18.05.2020 bis 31.12.2020. Aufgrund des Beschlusses zahlte der Beklagte an den Kläger für den Monat Mai 2020 einen Regelbedarf i.H.v. 201,60 € und für die Zeit von Juni 2020 bis Dezember 2020 i.H.v. monatlich 432,00 € aus.

 

Mit Schreiben vom 03.08.2020 bat der Prozessbevollmächtigte um Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides, der dem Kläger bisher nicht bekanntgegeben worden sei. Unter dem 10.08.2020 übersandte der Beklagte den Bescheid an den Kläger und zeitgleich an seinen Prozessbevollmächtigten.

 

Am 13.08.2020 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 08.05.2020 Widerspruch ein. Der Bescheid sei ihm erst am 10.08.2020 bekannt gegeben worden. Zu Unrecht sei sein Antrag auf Grundsicherungsleistungen abgelehnt worden. Er sei von den Leistungen nach dem SGB II nicht ausgeschlossen, da er in der Vergangenheit mehr als ein Jahr gearbeitet habe. Aus diesem Grund könne er sich auf einen unbegrenzt fortwirkenden Arbeitnehmerstatus berufen. Darüber hinaus lebe er bereits seit mehr als fünf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland.

 

Mit Schreiben vom 20.08.2020 kündigte der Vermieter des Klägers das Untermietverhältnis fristlos, ersatzweise ordentlich zum 31.08.2020.

 

Am 07.09.2020 richtete der Kläger eine postalische Erreichbarkeitsadresse J. in H. ein.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.09.2020 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Auf die Gründe wird Bezug genommen.

 

Am 10.12.2020 beantragte der Kläger die Weiterbewilligung der Grundsicherungsleistungen beim Beklagten. Mit Bescheid vom 26.01.2021 lehnte der Beklagte die Gewährung von Grundsicherungsleistungen an den Kläger für die Zeit ab dem 01.01.2021 ab. In dem Versicherungsverlauf des Rentenversicherungsträgers sind Beitragszeiten mit Pflichtbeiträgen für die Zeit ab dem 06.12.2021 dokumentiert.

 

Am 16.09.2020 hat der Kläger Klage erhoben.

Er hat geltend gemacht, dass er seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit Ende des Jahres 2013/ Anfang des Jahres 2014 in der Bundesrepublik Deutschland habe. Lediglich für Urlaubsbesuche habe er sich nach Bulgarien begeben. Er sei mehr als ein Jahr in der Bundesrepublik sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Aufgrund dieser mehr als einjährigen Beschäftigung in der Bundesrepublik bestehe ein unbegrenzt fortwirkender Arbeitnehmerstatus. Eine zeitliche Begrenzung der Fortwirkung des Arbeitnehmerstatus lasse sich dem Gesetz nicht entnehmen. Er sei im August 2020 aus der Wohnung „Q.-straße“ ausgezogen. Seitdem sei er obdachlos gewesen; teilweise habe er auf der Straße geschlafen, teilweise im Park „D.-straße“, im Hotel A. und auch in der Notschlafstelle E.-straße. Seit dem 14.06.2021 wohne er im „U.-straße H.“.

 

Der Kläger hat beantragt,

 

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 08.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2020 zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 01.04.2020 bis 31.12.2020 Leistungen nach dem SGB II in Höhe der Regelleistung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen.

 

Der Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Der Beklagte hat vorgetragen, dass die Fortwirkung der Arbeitnehmereigenschaft aus der Beschäftigung vom 15.02.2016 bis 31.03.2017 erloschen sei. Das Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU erlösche nach Ablauf von zwei Jahren. Ein aus der Beschäftigung vom 02.05.2019 bis 05.07.2019 fortwirkender Arbeitnehmerstatus wäre am 04.01.2020 erloschen. Spätestens ab dem 05.01.2020 könne sich der Kläger nicht auf einen Arbeitnehmerstatus berufen. Die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II greife nicht ein, da keine durchgehende Meldung für die Dauer von fünf Jahren belegt sei.

 

Zudem habe der Kläger bei seiner Vorsprache am 20.04.2020 angegeben, zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Monate arbeitslos zu sein und seine letzte Beschäftigung bei einer Leiharbeitsfirma selbst gekündigt zu haben. Selbst wenn der Kläger zuvor einen dauerhaften Arbeitnehmerstatus erlangt hätte, so wäre dieser spätestens durch die Aufnahme der Beschäftigung bei der Leiharbeitsfirma beendet gewesen. Nach Aufgabe dieser und der Nichtfeststellung der Unfreiwilligkeit der Beendigung der Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit, hätte der Kläger ab Beendigung der Beschäftigung bei der Leiharbeitsfirma bereits keinen Arbeitnehmerstaus mehr innegehabt.

 

Mit Urteil vom 23.11.2021 hat das Sozialgericht H. die Klage abgewiesen. Auf die Gründe wird Bezug genommen.

 

Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 02.12.2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16.12.2021 Berufung eingelegt.

Zur Begründung nimmt er Bezug auf seinen erstinstanzlichen Vortag und trägt ergänzend vor, dass der Annahme eines unbefristet fortwirkenden Arbeitnehmerstatus aufgrund seiner Beschäftigung im Jahr 2016/2017 nicht entgegenstehe, dass das Beschäftigungsverhältnis ausweislich der Entgeltabrechnungen sowie der Bescheinigung der Krankenkasse für einen kurzen Zeitraum von annähernd drei Wochen unterbrochen gewesen sei. Diese Unterbrechung sei unwesentlich, da es sich um unbezahlten Urlaub gehandelt habe. Zudem sei er seitens der Bundesagentur für Arbeit oder des Beklagten in der Vergangenheit nicht darüber beraten worden, was zum Erhalt seiner Arbeitnehmereigenschaft erforderlich sei. Auch der kurzzeitige Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt zur Verbüßung einer Strafe aufgrund eines Vorfalls aus dem Jahr 2013 führe nicht dazu, dass der fortgeltende Arbeitnehmerstatus entfalle. Im Urteil des Sozialgerichts fehlten zudem Feststellungen dazu, welche Art von Haft vollzogen worden sei. Auch sei das Recht auf Freizügigkeit durch die hierfür zuständige Ausländerbehörde nicht aberkannt worden.

 

Er verfüge über keine Unterlagen zum Beschäftigungsverhältnis im Oktober 2019. Es habe sich um ein Reinigungsunternehmen mit dem Namen T., F.-straße, R. H. gehandelt. Es sei eine geringfügige Beschäftigung gewesen, und er habe für die Arbeit ein Entgelt in Höhe von ca. 430,00 € in bar erhalten. Ihm sei gekündigt worden. An die Gründe könne er sich nicht mehr erinnern. In der Zeit vom 01.11.2019 bis 31.03.2020 habe er seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheits-Prostitution sichergestellt. Eine Anmeldung der Prostitution als Gewerbe sei nicht erfolgt; er sei aber bei dem Verein K. angeschlossen gewesen. Dieser Verein sorge vor allem für Männer, die sich prostituierten.

 

Zudem könne er sich auf einen mehr als fünfjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berufen, da er sich seit Ende 2013 dauerhaft in Deutschland aufhalte. Für die Berechnung der Fünfjahresfrist sei der Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt von September 2017 bis Februar 2018 ebenfalls nicht relevant. Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II finde nur auf solche Zeiträume keine Anwendung, in denen der Verlust der Freizügigkeit festgestellt worden sei. Im Übrigen sei der gewöhnliche Aufenthalt anhand tatsächlicher Umstände zu ermitteln. Jedenfalls eine Inhaftierung im Inland lasse einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland nicht entfallen. Im Übrigen handele es sich dabei um eine nur kurze Unterbrechung, selbst wenn der Zeitraum nicht berücksichtigt werden könne, sodass der gewöhnliche Aufenthalt nicht unterbrochen worden sei. Er folge nicht der Rechtsauffassung, dass nach einer Haftentlassung (im Inland) der Fünfjahreszeitraum von vorne beginne.

 

Er habe die Haft in Bulgarien als Untersuchungshaft verstanden. Unmittelbar nach der Hauptverhandlung sei er entlassen worden. Möglicherweise liege auch eine mit einer Hauptverhandlungshaft vergleichbare Haft vor. Von einer Strafhaft dürfe jedoch nicht auszugehen sein, wenn die Entlassung nach der Verhandlung erfolgt sei. Während der Untersuchungshaft bzw. Hauptverhandlungshaft gelte die Unschuldsvermutung.

 

Für die Leistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3 ff. SGB XII sei das Vorliegen eines Ausreisewillens nicht erforderlich und ein Härtefall im Sinne von § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII sei bereits darin zu sehen, dass eine menschenwürdige Existenzsicherung ohne Gewährung von Leistungen für ein im Verhältnis zum gesamten Aufenthalt kurzen Zeitraum nicht gewährleistet wäre. Der streitgegenständliche Zeitraum liege in der ersten Phase der Corona-Pandemie. Dieser von sogenannten „Lockdowns“ und Reisebeschränkungen geprägte Zeitraum und die Unsicherheit im Umgang mit dem gefährlichen Virus in anderen Ländern begründe bereits für sich einen Härtefall. Es sei zudem in dieser Zeit branchenübergreifend ausgesprochen schwierig gewesen, Arbeit zu finden.

 

Der Kläger beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts H. vom 23.11.2021 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 08.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2020 zu verpflichten, ihm für die Zeit vom 01.04.2020 bis 31.12.2020 Leistungen nach dem SGB II in Höhe der Regelleistung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren,

hilfsweise die Beigeladene zu verurteilen, ihm Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII in Höhe des Regelbedarfs gemäß § 27a Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 2 der Regelbedarfsstufenfortschreibungsverordnung 2020 für die Zeit vom 08.04.2020 bis 31.12.2020 zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

 

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

 

Mit Beschluss vom 17.03.2022 hat der Senat die Y. beigeladen.

Die Beigeladene trägt vor, dass der Kläger von der Leistungsgewährung nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII ausgeschlossen sei. Die Gewährung von Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3 und 5 SGB XII setze voraus, dass eine Ausreisewilligkeit des Klägers vorliege. Diese sei nach der vorliegenden Sachlage nicht vom Kläger erklärt worden und eine Ausreise sei nicht erfolgt. Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Härtefalls nach § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII für den streitigen Zeitraum seien nicht vorgetragen. Ein Härtefall könne nicht aufgrund der sogenannten „Lockdowns“ und Reisebeschränkungen anlässlich der Corona-Pandemie begründet werden, da die Rückkehr ins Heimatland keinen Reisebeschränkungen unterlegen habe, soweit eine Corona-Erkrankung ausgeschlossen gewesen sei.

 

Die Vertreterin der Beigeladenen stellt keinen Antrag.

 

Der Senat hat einen Rentenversicherungsverlauf des Klägers von der Deutschen Rentenversicherung Bund angefordert.

 

Auf Anfrage des Senats hat die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Bulgarien mitgeteilt, dass es bulgarischen Staatsangehörigen in dem Zeitraum vom 01.04.2020 bis 31.12.2020 grundsätzlich jederzeit möglich gewesen sei, aus Deutschland nach Bulgarien zu reisen. In der Zeit vom 01.04.2020 bis 31.05.2020 habe eine verpflichtende häusliche Quarantäne nach der Einreise bestanden. In der Zeit vom 01.06.2020 bis 31.08.2020 habe keine verpflichtende häusliche Quarantäne nach der Einreise mehr bestanden, jedoch seien das Ausfüllen eines Einreiseformulars bei Einreise sowie Temperaturmessungen obligatorisch gewesen. Ab dem 01.09.2020 hätten keine pandemiebedingten Einreisebeschränkungen, einschließlich einer Testpflicht, für Einreisende aus Deutschland mehr bestanden.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der beigezogenen Akten des Sozialgerichts H. S 4 AS 883/21 ER und S 28 AS 1907/20 ER Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

 

Streitgegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 08.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2020, mit dem der Beklagte die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen an den Kläger für die Zeit ab dem 01.04.2020 abgelehnt hat. Der Kläger hat sein Begehren auf den Zeitraum vom 01.04.2020 bis 31.12.2020 und der Höhe nach auf den Regelbedarf beschränkt.

 

Statthafte Klageart für das gegen den Beklagten gerichtete Begehren ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach §§ 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 4, 56 SGG. Zwar wäre für den Zeitraum vom 18.05.2020 bis 31.12.2020, für den dem Kläger vom Beklagten aufgrund der Verurteilung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorläufig Grundsicherungsleistungen gewährt wurden, die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ausreichend (vgl. BSG, Urteile vom 09.03.2022 – B 7/14 AS 79/20 R und B 7/14 AS 30/21 R). Allerdings ist in der vorliegenden Konstellation die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage dennoch statthaft, da im Hinblick auf die hilfsweise begehrte Verurteilung der Beigeladenen dem Kläger die Möglichkeit der unechten Leistungsklage eröffnet bleiben muss (vgl. BSG, Urteil vom 06.06.2023 – B 4 AS 4/22 R).

 

Das Sozialgericht hat im Ergebnis zutreffend die Klage abgewiesen.

 

Der Kläger ist nicht beschwert i.S.v. § 54 Abs. 2 S. 1 SGG.

 

Dem Kläger steht weder ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II gegenüber dem Beklagten (hierzu A.), noch ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII gegenüber der Beigeladenen (hierzu B.) zu.

 

A.

Der Bescheid vom 08.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2020 ist rechtmäßig. Dem Kläger steht gegenüber dem Beklagten kein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 01.04.2020 bis 31.12.2020 zu. Denn der Kläger war gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen (2). Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II greift nicht zu seinen Gunsten ein (3).

 

1. Der Kläger erfüllte zwar im streitigen Zeitraum die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1, 2 und 4 SGB II. Er hatte das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht (Nr. 1), hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (Nr. 4) und war erwerbsfähig (Nr. 2). Der Kläger war auch hilfebedürftig i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II, da er weder über anrechenbares Einkommen noch zu berücksichtigendes Vermögen verfügte.

 

2. Jedoch war der Kläger im streitbefangenen Zeitraum vom Leistungsbezug gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 i.d.F. ab dem 01.01.2020 (Gesetz vom 30.11.2019, BGBl I 1824 – nachfolgend ohne Zusatz) ausgeschlossen. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer vom Leistungsbezug ausgeschlossen, die kein Aufenthaltsrecht haben (Nr. 2a) oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (Nr. 2b).

 

Dahinstehen kann, ob der Kläger im streitbefangenen Zeitraum über ein Freizügigkeitsrecht als Arbeitssuchender gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU (i.d.F. des Gesetzes vom 02.12.2014, BGBl I 1922 nachfolgend kein Zusatz) verfügte. Selbst wenn er die Voraussetzungen für dieses Freizügigkeitsrecht erfüllte, war er gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen

 

Der Kläger verfügte im streitbefangenen Zeitraum über kein anderes Freizügigkeitsrecht als allenfalls das als Arbeitsuchender nach dem FreizügG/EU und konnte sich auch nicht auf ein Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG berufen.

 

Im streitbefangenen Zeitraum war der Kläger weder als Arbeitnehmer beschäftigt (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU), noch übte er eine selbständige Erwerbstätigkeit aus (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU).

 

Der Kläger kann sich auf nicht auf ein Fortwirken seines Status als Selbständiger oder als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU berufen. Danach bleibt für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige das Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung bleibt das Recht aus Absatz 1 während der Dauer von sechs Monaten unberührt (Satz 2).

 

Der Kläger stellte zum 01.04.2020 keine selbständige Tätigkeit i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2            FreizügG/EU, Art. 49ff AUEV) ein. Er trägt vor, dass er in der Zeit vom 01.11.2019 bis 31.03.2020 seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheits-Prostitution sichergestellt habe. Zwar kann die Ausübung der Prostitution eine selbständige Tätigkeit i.S.v. § 49 AUEV sein (vgl. LSG Hessen, Beschluss vom 21.08.2020 – L 6 AS 383/20 B ER m.w.N.). Die Ausübung der Prostitution war auch in der Zeit ab dem 01.04.2020 durch die im Bundesland Nordrhein-Westfalen geltenden Coronaschutzverordnung (Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vom 22.03.2020, GV. NRW 202, in Kraft ab dem 31.03.2020) verboten. Der Kläger übte aber die Prostitution nicht innerhalb der Rechtsordnung aus und war damit kein niedergelassener Selbständiger i.S.v. Art. 49 AUEV. Denn er war eigenen Angaben zufolge nicht gemäß § 3 Abs. 1                          ProstSchutzG (Gesetz vom 21.10.2016, BGBl. I 2372) als Prostituierter bei der zuständigen Behörde angemeldet, so dass er sein Gewerbe rechtswidrig ausübte (vgl. hierzu Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, III. Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft (Abs. 3), Stand Juni 2023, Rn.111).

 

Dahinstehen kann, ob der Kläger in der Zeit vom 07.10.2019 bis 31.10.2019 als geringfügig Beschäftigter Arbeitnehmer i.S.v. Art. 45 AUEV war und er diese Arbeitsstelle unfreiwillig i.S.v. § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU verlor. Selbst wenn unterstellt wird, dass der Kläger Arbeitnehmer war und zum 31.10.2019 seine Arbeitsstelle unfreiwillig verlor, lagen die Voraussetzungen für das Fortwirken des Arbeitnehmerstatus gemäß § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, S. 2 FreizügG/EU im April 2020 nicht vor.

 

Mit der Vorschrift des § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, S. 2 FreizügG/EU hat der Gesetzgeber Art. 7 Abs. 3 Ziffer b und c RL 2004/38/EG in das nationale Recht umgesetzt. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs besteht ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Abs. 3 Ziffer b und c RL 2004/38/EG, wenn ein Erwerbstätiger aus von seinem Willen unabhängigen Gründen gezwungen war, seine Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat zu beenden und wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig ist und hierfür zur Verfügung steht (EuGH, Urteile vom 11.04.2019 –Rs. C-483/17 und vom 13.09.2018 – Rs. C-618/16). Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38/EG betrifft Situationen, in denen innerhalb eines angemessenen Zeitraums mit der Wiedereingliederung des Unionsbürgers in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats gerechnet werden kann (EuGH, Urteil vom 13.09.2018 – Rs. C-618/16). Zweck des Art. 7 Abs. 3 Ziffer b und c RL 2004/38/EG und damit des § 2 Abs. 3 S.1 Nr. 2 FreizügG/EU ist, einem bereits hinreichend in den Arbeitsmarkt integrierten Arbeitnehmer das Freizügigkeitsrecht bei Eintritt unfreiwilliger Arbeitslosigkeit zu erhalten und ihm zu ermöglichen sich in den Arbeitsmarkt wieder zu integrieren, also eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen (Hailbronner, a.a.O. Rn.113). Voraussetzung des Aufenthaltsrechts aus Art. 7 Abs. 3 Ziffer b und c RL 2004/38/EG ist u.a., dass der Unionsbürger sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt (EuGH, Urteil vom 11.04.2019 – Rs. C-483/17). Das Aufenthaltsrecht ist nicht zweckfrei, sondern wird nur deshalb eingeräumt, um eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu erreichen. Ein Unionsbürger muss sich daher arbeitslos melden und die erforderlichen Eigenbemühungen anstellen (Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 2 FreizügG/EU Rn. 124; siehe VGH Hessen, Beschluss vom 16.04.2021 – 9 A 2282/19; VG Hannover, Beschluss vom 12.01.2022 – 5 B 1754/21). Vorliegend stellte sich der Kläger nach dem Verlust des Arbeitsplatzes zum 31.10.2019 nicht in angemessener Zeit der Bundesagentur für Arbeit oder dem Beklagten zur Verfügung, sondern erst am 08.04.2020, also mehr als fünf Monate nach Verlust der Arbeitsstelle.

 

Soweit sich der Kläger auf ein Fortwirken seines Arbeitnehmerstatus aufgrund seiner Erwerbstätigkeit in der Zeit vom 15.02.2016 bis 31.03.2017 beruft, ist dieses Aufenthaltsrecht durch den erneuten Erwerb eines Arbeitnehmerstatus infolge seiner Beschäftigungen in der Zeit vom 17.07.2017 bis 18.09.2017 sowie in den Jahren 2018 und 2019 erloschen. Zweck des Art. 7 Abs. 3 Ziffer b Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38/EG und damit des § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU ist – wie bereits ausgeführt – einem bereits hinreichend in den Arbeitsmarkt integrierten Arbeitnehmer das Freizügigkeitsrecht bei Eintritt unfreiwilliger Arbeitslosigkeit zu erhalten und ihm zu ermöglichen sich in den Arbeitsmarkt wieder zu integrieren, also eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Mit der Aufnahme einer (abhängigen oder selbständigen) Erwerbstätigkeit liegt eine Arbeitslosigkeit im Sinne des Freizügigkeitsrechtes nicht mehr vor. Die Fiktion der Erwerbstätigeneigenschaft gemäß § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU endet, sobald der Unionsbürger erneut eine Erwerbstätigkeit aufnimmt (LSG Hessen, Beschluss vom 10.01.2021 - L 6 AS 403/21 B ER; siehe auch Dienelt, a.a.O., § 2 FreizügG/EU Rn. 109).

 

Der Kläger hielt sich auch nicht in Deutschland auf, um Dienstleistungen zu erbringen oder in Anspruch zu nehmen (§ 2 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 FreizügG/EU). Er verfügte zudem nicht über ausreichende Existenzmittel, um seinen Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz selbst zu decken (§§ 2 Abs. 2 Nr. 5, 4 FreizügG/EU, Art. 7 Abs. 1 Buchst. c) RL 2004/38/EG).

 

Die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht lagen ebenfalls nicht vor (§§ 2 Abs. 2 Nr. 7, 4a FreizügG/EU, Art. 16 RL 2004/38/EG). Das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts gemäß § 4a Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU setzt voraus, dass der Betroffene während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG erfüllt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.07.2015 – 1 C 22.14 m.w.N.). Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich und ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag des Klägers, dass dieser in den Zeiten, in denen er keine abhängige Beschäftigung ausübte – 18.04.2014 bis 14.02.2016, 01.10.2016 bis 17.10.2016, 01.10.2017 bis 19.04.2018, 12.06.2018 bis 30.09.2018, 18.11.2018 bis 01.05.2019, 05.07.2019 bis 06.10.2019 und 01.11.2019 bis 30.03.2020 – über ein Aufenthaltsrecht gemäß §§ 2 Abs. 2 Nr. 5, 4 FreizügG/EU, Art. 7 Abs. 1 Buchst. c) RL 2004/38/EG oder über ein anderes Aufenthaltsrecht verfügte.

 

Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Aufenthaltsrechts des Klägers aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU bzw. § 11 Abs. 1 S. 14 FreizügG/EU i.d.F. ab dem 24.11.2020 (Gesetz vom 12.11.2020, BGBl I 2416) i.V.m. Bestimmungen des AufenthG sind nicht ersichtlich und ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag des Klägers.

 

3. Zu Gunsten des Klägers greift die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht ein.

 

Danach erhalten abweichend von Satz 2 Nr. 2 Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (§ 7 Abs. 1 S. 5 SGB II).

 

Auch wenn eine durchgehende Meldung zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltsgemäß § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht erforderlich ist (siehe Terminsbericht zu BSG, Urteil vom 20.09.2023 – B 4 AS 8/22 R), hatte der Kläger am 01.04.2020 keinen gewöhnlichen Aufenthalt mit einer Dauer von fünf Jahren im Bundesgebiet. Voraussetzung ist, dass ein Ausländer bei Leistungsbeginn seit seiner erstmaligen Anmeldung ununterbrochen über einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte. Lediglich unwesentliche Unterbrechungen des Aufenthaltes sind unschädlich (vgl. BSG, Urteil vom 29.03.2022 – B 4 AS 2/21 R m.w.N.; BT-Drs. 18/10221 S. 14). Unterbrechungen wegen kurzfristiger Auslandsaufenthalte, wie z.B. Klassenfahrten, Besuche von Angehörigen oder die Teilnahme an Beerdigungen von Angehörigen, bleiben nach der Gesetzesbegründung leistungsrechtlich außer Betracht. Bei der Prüfung, ob ein Aufenthalt im Ausland zu einer „wesentlichen“ Unterbrechung führt, ist neben der Dauer des Aufenthalts im Ausland zu berücksichtigen, wodurch dieser veranlasst ist (zum Beispiel familiäre, schulische Gründe) und welches Gewicht diese Gründe für den Betroffenen haben (siehe BT-Drs. 18/10211 S. 16 zur inhaltlich identischen Vorschrift des § 23 Abs. 3 S. 7 SGB XII). Bei einer wesentlichen Unterbrechung des Aufenthalts beginnt die Fünf-Jahres-Frist bei einer Wiedereinreise erneut zu laufen.

 

Die Zeit der Inhaftierung des Klägers in seinem Heimatstaat Bulgarien in der Zeit vom 24.11.2017 bis 24.02.2018 stellt im Hinblick auf die Dauer der Unterbrechung – drei Monate – und Anlass der Unterbrechung - Durchsetzung des Strafverfolgungsanspruchs des Heimatstaates – eine wesentliche Unterbrechung des Aufenthalts dar. Daher kann dahinstehen, ob der gewöhnliche Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet schon durch die (inländische) Auslieferungshaft in der Zeit vom 18.09.2017 bis 24.11.2017 unterbrochen war. Nach seiner Wiedereinreise in das Bundesgebiet am 25.02.2018 hatte sich der Kläger am 01.04.2020 noch nicht fünf Jahre im Bundesgebiet aufgehalten.

 

Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist europarechtskonform (vgl. EuGH, Urteile vom 20.05.2014 – Rs. C-333/13, vom 15.09.2015 – Rs. C-67/14 und vom 22.04.2015 – Rs. C-299/14) und verfassungsgemäß (vgl. BSG, Urteile vom 29.03.2022 – B 4 AS 2/21 R und vom 18.05.2022 – B 7/14 AS 27/21 R).

 

B.

Dem Kläger steht gegenüber der Beigeladenen als örtlich zuständigen Sozialhilfeträger weder ein Anspruch auf Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß § 27ff SGB XII (1), noch auf Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 S. 3ff SGB XII zu (2).

 

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf laufende Hilfen zum Lebensunterhalt gemäß §§ 23 Abs. 1 S. 1, 19 Abs. 1, 27 Abs. 1 SGB XII. Er ist gemäß § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII i.d.F. ab dem 29.12.2016 (Gesetz vom 22.12.2016, BGBl I 3155 nachfolgend kein Zusatz) von den Leistungen nach §§ 27 ff SGB XII ausgeschlossen. § 23 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 SGB XII findet auf den Kläger Anwendung, da er sich im streitigen Zeitraum nicht auf einen Aufenthalt von fünf Jahren in Deutschland ab der Meldung bei der Meldebehörde berufen konnte (§ 23 Abs. 3 S. 7 SGB XII). Der Senat nimmt auf obigen Ausführungen zu § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II Bezug. Der Kläger verfügte allenfalls über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche, sodass der Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII eingreift. Dessen Voraussetzungen sind identisch mit denen des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II. Auf die obigen Ausführungen zu § 7 Abs. 1 S. 2 Nrn. 2a und b SGB II wird Bezug genommen. Der Kläger kann sich nicht auf den Gleichbehandlungsanspruch des Art. 1 EFA (BGBl 1956 II 564) berufen, da Bulgarien nicht dem Europäischen Fürsorgeabkommen beigetreten ist.

 

2. Die Beigeladene ist nicht verpflichtet, dem Kläger Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII für die Zeit vom 08.04.2020 bis 31.12.2020 zu gewähren.

 

Gemäß § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII werden hilfebedürftigen Ausländern, die § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII unterfallen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach S. 3. Gemäß § 23 Abs. 3 S. 5 SGB XII umfassen die Überbrückungsleistungen (1.) Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege, (2.) Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe, einschließlich der Bedarfe nach § 35 Abs. 4 und § 30 Abs. 7 SGB XII, (3.) die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und (4.) Leistungen nach § 50 Nr. 1 bis 3 SGB XII. Gemäß § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 1 SGB XII werden, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, Leistungsberechtigten nach S. 3 zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Abs. 1 gewährt. Nach § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 2 SGB XII sind ebenso Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. Die Vorschrift ist auf die Deckung solcher Bedarfe gerichtet, die bei Vorliegen besonderer Umstände entstehen, soweit im Einzelfall eine Ausreise binnen eines Monats nicht möglich oder zumutbar ist. § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII knüpft nach Wortlaut und Systematik an die Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII an und erlaubt im Einzelfall deren Modifizierung im Hinblick auf Art, Umfang (1. Variante) und/oder Dauer der Leistungsgewährung (2. Variante). Die beiden Varianten stehen in keinem Alternativverhältnis, sondern sind dergestalt kombinierbar, dass bei Vorliegen eines Härtefalls sowohl Leistungsart und -umfang als auch Leistungsdauer aufgestockt werden können.

 

Der Senat sieht es nicht als erwiesen an, dass im streitbefangenen Zeitraum eine besondere Härte i.S.v. § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII vorlag.

 

Bei der Auslegung des unbestimmten Begriffs der „besonderen Härte“ und der Rechtsfolgen aus § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII ist den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die  aktuelle Sicherstellung des Existenzminimums und gegebenenfalls weiteren im Einzelfall bedeutsamen Grundrechten Rechnung zu tragen. Denn die Auffangvorschrift des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII dient dazu, einen mit dem Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 1 GG nicht zu vereinbarenden vollständigen Ausschluss von Hilfeleistungen zu vermeiden (BSG, Urteil vom 29.03.2022 – B 4 AS 2/21 R).

 

Der Leistungsausschluss in § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII beruht auf dem Gedanken, dass die betroffenen Personen - anders als Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG - in ihren Heimatstaaten ohne Gefahr für Leib und Leben wohnen und existenzsichernde Unterstützungsleistungen erlangen können, da in der Europäischen Union soziale Mindeststandards bestehen, auf die sich die Mitgliedstaaten geeinigt haben (BT-Drs. 18/10211 S. 14). Eine besondere Härte zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht für alle vom Leistungsausschluss betroffenen Personen typisch ist, also über die mit dem reduzierten Leistungsumfang typischerweise verbundenen Härten in der Person des Leistungsberechtigten individuelle Besonderheiten hinzutreten (Siefert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 23 SGB XII (Stand: 05.12.2022), Rn. 106; siehe auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18.10.2023 - L 4 AS 106/20). Nach dem Willen des Gesetzgebers bezweckt die Regelung des § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 2 SGB XII im Einzelfall für einen begrenzten Zeitraum unzumutbare Härten zu vermeiden, es soll kein dauerhafter Leistungsbezug ermöglicht werden (BT-Drs. 18/10211 S. 17). Nur ganz außergewöhnliche individuelle Situationen rechtfertigen daher eine weitergehende Leistungsgewährung. Eine eine Härtefallleistung nach Satz 6 begründende Situation liegt in der Regel vor, wenn im Fall eines Drittstaatsangehörigen Abschiebungsverbote - Hindernisse, die der Vollstreckung der Abschiebung entgegenstehen - nach dem AufenthG eingreifen würden. Diese liegen vor, wenn die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt wird (§ 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG). Es wäre verfassungsrechtlich inakzeptabel, wenn kein Leistungsanspruch zuerkannt würde, obwohl eine Ausreise seitens des Staates nicht verlangt werden darf bzw. als unzumutbar bewertet wird, insbesondere in Hinblick auf die sich aus innerstaatlichem Verfassungsrecht ergebende Rechtstellung eines Ausländers (Beschluss des Senats vom 03.05.2023 – L 19 AS 417/23 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.09.2019 – L 31 AS 1627/19 B ER; vgl. in diesem Sinne, in ausländerrechtlichem Kontext, VGH München, Beschluss vom 08.03.2021 – 19 CE 21.233; OVG Sachsen, Beschluss vom 13.01.2021 – 3 B 397/20; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. 02. 2019 - OVG 11 S 7.19).  

 

Der Senat sieht es als nicht erwiesen an, dass dem Kläger auch unter Berücksichtigung der Schutzwirkungen des Art. 2 Abs. 2 GG eine Ausreise im streitbefangenen Zeitraum aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründe unzumutbar war. Eine Reiseunfähigkeit lag nicht vor (siehe zum Begriff der Reiseunfähigkeit im AufenthG: BVerfG, Beschlüsse vom 16.04.2002 - 2 BvR 553/02 und vom 17.09.2014 – 2 BvR 1795/14; BVerwG, Urteil vom 11.11.1997 - 9 C 13.96). Dem Kläger war eine Ausreise im streitbefangenen Zeitraum möglich und zumutbar. Die Tatsache, dass im streitbefangenen Zeitraum auch für eigene Staatsangehörige die Einreise nach Bulgarien wegen der COVID 19-Pandemie an Bedingungen geknüpft war, schließt eine Zumutbarkeit der Ausreise nicht aus. Nach Auskunft der Deutschen Botschaft in Bulgarien vom 24.01.2023, die der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwertet, war es bulgarischen Staatsangehörigen im Zeitraum vom 01.04.2020 bis 31.12.2020 grundsätzlich jederzeit möglich, aus Deutschland nach Bulgarien einzureisen. In der Zeit vom 01.04.2020 bis 31.05.2020 bestand eine verpflichtende häusliche Quarantäne nach der Einreise. In der Zeit vom 01.06.2020 bis 30.08.2020 bestand nach der Einreise keine verpflichtende häusliche Quarantäne mehr, das Ausfüllen eines Einreiseformulars bei Einreise sowie Temperaturmessungen waren obligatorisch. Aus dieser Auskunft folgt, dass einem bulgarischen Staatsangehörigen eine Einreise nach Bulgarien auch in der Zeit ab dem 01.04.2020 möglich und zumutbar war (siehe auch LSG Hamburg, Urteil vom 15.12.2022 – L 4 AS 350/21). Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar und auch nicht vom Kläger vorgetragen, dass für den Kläger eine erhebliche konkrete Gefahr für seine Gesundheit infolge der COVID 19 -Pandemie bei einer Rückkehr nach Bulgarien im Vergleich zu den Verhältnissen in der Bundesrepublik bestand bzw. eine Rückreise nicht organisiert werden konnte.

 

Soweit sich der Kläger darauf beruft, dass ein Härtefall im Sinne von § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII bereits darin zu sehen sei, dass eine menschenwürdige Existenzsicherung ohne Gewährung von Leistungen für ein im Verhältnis zum gesamten Aufenthalt kurzen Zeitraum nicht gewährleistet ist, begründet die Dauer eines Aufenthalts in der Bundesrepublik allein nach Entfall des materiellen Freizügigkeitsrechts keine besondere Härte i.S.v. § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII.

 

Auch die Tatsache, dass sich der Kläger ohne materielles Aufenthaltsrecht aufgrund der sich aus den Bestimmungen des FreizügG/EU ergebenden generellen Freizügigkeitsvermutung erlaubt in der Bundesrepublik aufhielt, da die Ausländerbehörde keine bestandskräftige, wirksame Ausweisungsverfügung gegenüber dem Kläger erlassen hatte, begründet keinen besonderen Umstand i.S.v. § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 2 SGB XIl und damit keine besondere Härte (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 18.10.2023 – L 4 AS 106/20 und vom 27.07.2023 – L 10 AS 311/19, Revision anhängig unter B 7 AS 13/23 R;  einen Härtefall bejahend: LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.07.2022 – L 2 SO 1786/22 ER-B m.w.N.; LSG Hessen, Beschluss vom 31.10.2022 – L 4 SO 133/22 B ER; LSG Berlin-Brandenburg vom 11.07.2019 - L 15 SO 181/18). Die Annahme, dass allein eine fehlende (bestandskräftige) wirksame Ausweisungsverfügung ein besonderer Umstand i.S.v. § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 2 SGB XII darstellt, widerspricht den mit dem Leistungsausschlüssen i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, 23 Abs. 3 S.1 SGB XII verfolgten Zweck, Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht, denen eine Ausreise möglich und zumutbar ist, von den existenzsichernden Systemen auszuschließen. Bei der Fallgestaltung – Entfall des materiellen Aufenthaltsrechts ohne Einleitung eines Verfahrens zur Verlustfeststellung durch die Ausländerbehörde – handelt es sich eher um eine typische Fallgestaltung, als um eine Fallgestaltung mit individuellen Besonderheiten. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bei einer Verlustfeststellung um eine Ermessensentscheidung handelt (siehe zur Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU: BVerwG, Urteil vom 16.12.2021 – 1 C 60/20); auch bei der sog. „administrativen“ Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU wegen Nichtbestehen eines materiellen Freizügigkeitsrechts. Gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU ist es nicht zwingend oder auch nur regelmäßig geboten, auf den materiellen Verlust des Freizügigkeitsrechts die förmliche Verlustfeststellung folgen zu lassen (vgl. Dienelt, a.a.O., § 5 FreizügG/EU Rn. 70ff), also sind mit dem Entfall eines materiellen Freizügigkeitsrechts i.S.v. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht zwangsläufig die Voraussetzungen einer Verlustfeststellung und der damit verbundenen Ausreisepflicht gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU erfüllt. Mithin existiert ein Personenkreis, der sich in der Bundesrepublik ohne materielles Aufenthaltsrecht aufhält, der aber nicht ausreisepflichtig ist bzw. dessen Ausreisepflicht durch einen staatlichen Rechtsakt auch nicht begründet werden kann, der aber nach europarechtlichen Vorschriften keinen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen (Sozialhilfeleistungen i.S.v. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG) hat. Die Auffassung, dass bei einer solchen Sachlage eine Leistungspflicht des Staates in Form der Härtefallleistungen besteht, hätte zur Konsequenz, dass eine Härtefallleistung zu einer Dauerleistung perpetuieren kann. Dies widerspricht dem Gesetzeszweck, wonach Härtefallleistungen nur zeitlich begrenzt geleistet werden sollen.

 

Die Auslegung der Vorschrift des § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 2 SGB XII dahingehend, dass Unionsbürger, die sich im Inland ohne objektiv bestehendes materielles Aufenthaltsrecht aufhalten, Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 23 Abs. 3 S. 2 HS. 2 SGB XII haben, solange die Ausländerbehörde keine bestandskräftige, wirksame Ausweisungsverfügung erlassen hat ist weder europarechtlich (a.A. LSG Hessen, Beschluss vom 31.10.2022 – L 4 SO 133/22 B ER), noch verfassungsrechtlich (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 18.10.2023 – L 4 AS 106/20 und vom 27.07.2023 – L 10 AS 311/19, Revision anhängig unter B 7 AS 13/23 R; a.A. LSG Hessen, Beschluss vom 31.10.2022 – L 4 SO 133/22 B ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.07.2022 – L 2 SO 1786/22 ER-B m.w.N.) geboten.

 

Zwar hat der Europäische Gerichtshof (Urteil vom 15.07.2021 – Rs. C-709/20) entschieden, dass sich die zuständigen nationalen Behörden bei der Entscheidung über die Gewährung von Sozialhilfe zu vergewissern haben, dass eine Ablehnung von Sozialhilfe an einen Unionsbürger diese Person nicht einem konkreten und gegenwärtigen Risiko der Verletzung ihrer Grundrechte, wie sie in den Artikeln 1, 7 und 24 GRCh verbürgt sind, aussetzt, wenn sich dieser nach innerstaatlichem Recht rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, ohne sich auf Gleichbehandlung nach Art. 24 RL 2004/38/EG berufen zu können. Das Grundrecht auf schutzwürdige Existenzbedingungen nach Art. 1 GRCh sei auch dann anzuwenden, wenn materiell-rechtlich die Bedingungen der RL 2004/38/EG nicht mehr erfüllt werden, sondern allein nach günstigerem innerstaatlichem Recht von einer Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen ist. Der vom Europäischen Gerichtshof entschiedene Sachverhalt war dadurch gekennzeichnet, dass eine Unionsbürgerin über ein innerstaatliches Recht auf vorübergehenden Aufenthalt verfügte, welches ihr ohne Rücksicht darauf gewährt worden war, ob sie über bestimmte Mittel verfügte, also die staatlichen Behörden der Unionsbürgerin ein nationales materielles Aufenthaltsrecht gewährt haben.

 

Die sich aus dem FreizügG/EU ergebende Freizügigkeitsvermutung hingegen begründet kein nationales materielles Aufenthaltsrecht, sondern nur die Vermutung, dass ein Unionsbürger solange aufenthaltsrechtlich als Freizügigkeitsberechtigter zu behandeln ist, als keine Feststellung des Nichtbestehens oder Verlusts getroffen worden ist (vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 16.11.2010 - 1 C 17.09, vom 11.01.2011 - 1 C 23.09, vom 16.07.2015 - 1 C 22.14 und vom 11.09.2019 – 1 C 48/18; Hailbronner, a.a.O., Vermutung der EU-Freizügigkeit, Rn. 36f). Ein Unionsbürger, für den die Freizügigkeitsvermutung gilt, kann nicht ausgewiesen oder abgeschoben werden. Er bedarf keines Aufenthaltstitels für den Aufenthalt im Bundesgebiet und er unterliegt bis zu einer möglichen Feststellung des Nichtbestehens des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht den Bestimmungen des AufenthG (siehe auch Hailbronner, a.a.O., Vermutung der EU-Freizügigkeit, Rn. 40). Die Freizügigkeitsvermutung ist eine nationale Verfahrensstellung, die bis zur Klärung des Freizügigkeitssachverhalts verhindert, dass der Unionsbürger und seine Familienangehörigen in die Illegalität abrutschen. Das nationale Recht vermittelt ihm bis zum Abschluss der Prüfung einen rechtmäßigen Aufenthalt (Dienelt, a.a.O., § 7 FreizügG/EU Rn. 13). Diese Verfahrensstellung ist mit einem durch staatlichen Hoheitsakt begründeten nationalen materiellen Aufenthaltsrecht nicht gleichzusetzen.

 

Die Freizügigkeitsvermutung eröffnet allein weder einen Zugang zu existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII, noch steht sie dem Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII entgegen (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R; sieh auch Hailbronner, a.a.O. Vermutung der EU-Freizügigkeit, Rn. 41f).

 

Es ist mit dem Verfassungsrecht vereinbar, dass ein Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht, der sich aufgrund der sich aus den Bestimmungen des FreizügG/EU ergebenden generellen Freizügigkeitsvermutung erlaubt in der Bundesrepublik aufhält, dem aber eine Ausreise aus der Bundesrepublik möglich und zumutbar ist, aus sämtlichen existenzsichernden Leistungssystemen ausgeschlossen ist (siehe auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 18.10.2023 – L 4 AS 106/20 und vom 27.07.2023 – L 10 AS 311/19, Revision anhängig: B 7 AS 13/23 R). Der Senat schließt sich der Rechtsprechung des 4. Senats des Bundesozialgerichts an, wonach der Gesetzgeber Unionsbürger regelmäßig darauf verweisen darf, die erforderlichen Existenzsicherungsleistungen durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Heimatstaat als Ausprägung der eigenverantwortlichen Selbsthilfe zu realisieren. Die Auffassung, es müsse ein Leistungsanspruch bestehen, solange der Staat das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nicht festgestellt hat, entspricht nicht der gesetzlichen Konzeption, die zur Bedingung des Leistungsausschlusses gerade nur das Fehlen eines den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII begründenden Aufenthaltsrechts macht. Leistungen sind nicht allein deshalb zu gewähren, weil die Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland unterbleibt (vgl. BSG, Urteil vom 29.03.2022 – B 4 AS 2/21 R). Einem Unionsbürger ist die Ausreise zumutbar, wenn er über kein materielles Aufenthaltsrecht verfügt und er sich auf keine grundrechtlich geschützten Hindernisse, die einer Ausreise entgegenstehen, also ein Abschiebungsverbot begründen, berufen kann.

 

Der Ausschluss eines Unionsbürgers von Leistungen nach dem SGB XII ist mit Europarecht vereinbar. Es handelt sich um Sozialhilfeleistungen i.S.v. Art. 24 Abs. 1 RL 2004/28/EG (siehe EuGH, Urteil vom 11.11.2014 – Rs. C-333/13). Die VO (EG) Nr. 883/2004 findet keine Anwendung, da gemäß Art. 3 Abs. 5 die Verordnung nicht auf Leistungen der sozialen Fürsorge anwendbar ist.

 

Ein Anspruch des Klägers auf eine Überbrückungsleistung gemäß § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII i.V.m. § 23 Abs. 3 S. 5 SGB XII besteht auch nicht. Gemäß § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII werden hilfebedürftigen Ausländern, die Satz 1 unterfallen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen). Eine Festlegung des Beginns des maßgeblichen Monatszeitraums ist in § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII nicht erfolgt, aus der Regelungssystematik ist zu dessen Bestimmung auf den Zeitpunkt des Vorliegens einer der Leistungsausschlusstatbestände des § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII abzustellen (vgl. Hohm in:                                                             Schellhorn/Hohm/Scheider/Busse, SGB XII, 21. Aufl. 2023, § 23 SGB XII Rn. 73; Treichel in: BeckOGK, Stand 01.03.2022, SGB XII § 23 Rn.116). Vorliegend war die Monatsfrist schon vor dem 08.04.2020 abgelaufen, da der Kläger sich nach dem Verlust seiner Arbeitsstelle zum 31.01.2019 nicht unverzüglich bei der Bundesagentur für Arbeit bzw. dem Beklagten arbeitssuchend gemeldet hatte.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 160 Abs. 2 SGG zugelassen.

Rechtskraft
Aus
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