Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 27.01.2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die N01 geborene Klägerin wendet sich gegen die Herabsetzung des für sie festgestellten Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 40.
Der Beklagte hatte ihr auf ihren Erstantrag vom 26.07.2013 mit Bescheid vom 11.11.2013 einen GdB von 50 ab dem 26.07.2013 zuerkannt. Aus der nach Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte und eines Entlassungsberichtes der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie P. vom 29.07.2013 erstellten gutachterlichen Stellungnahme des ärztlichen Dienstes des Beklagten geht hervor, dass dabei eine ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung mit depressiven Episoden und Panikattacken bei Notwendigkeit ambulanter Psychotherapie nach teilstationärer Behandlung mit einem Einzel-GdB von 40, eine insulinpflichtige Zuckerkrankheit mit einem Einzel-GdB von 30 und ein saisonal-allergisches Asthma bronchiale mit einem Einzel-GdB von 10 in die Bewertung eingegangen waren.
Im Rahmen eines von Amts wegen im Jahr 2015 eingeleiteten Überprüfungsverfahrens holte der Beklagte Befundberichte des Allgemeinmediziners T. vom 10.12.2015, des Neurologen und Psychiaters H. vom 25.07.2016 sowie der Diabetologin Y. vom 24.01.2017 und vom 01.02.2017 ein. Ferner zog er den Therapieabschlussbericht der Psychotherapie-Ambulanz der Universitätsklinik Münster vom 05.11.2015 bei. Die Klägerin legte Blutzuckermessprotokolle aus dem Jahr 2017 vor. H. gab in seinem Befundbericht u. a. an, die Klägerin sei bei ihm in der Zeit vom 10.11.2006 bis zum 19.11.2013 unregelmäßig (ca. 14mal) in Behandlung gewesen. Aus dem Bericht der Psychotherapie-Ambulanz ging hervor, dass die Klägerin dort nach zwei probatorischen Sitzungen ihre Entscheidung gegen eine Therapie mitgeteilt habe.
Nach Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme des ärztlichen Dienstes und Anhörung der Klägerin zu einer beabsichtigten Herabsetzung des festgestellten GdB, setzte der Beklagte den GdB mit Bescheid vom 19.07.2017 auf 40 herab und berief sich zur Begründung auf eine Besserung des psychischen Leidens. Er berücksichtigte nunmehr eine ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung mit depressiven Episoden und Panikattacken ohne die Notwendigkeit fachärztlicher Anbindung mit einem Einzel-GdB von 10, die insulinpflichtige Zuckerkrankheit mit einem Einzel-GdB von 40 und das saisonale allergische Asthma bronchiale weiterhin mit einem Einzel-GdB von 10. Der Bescheid ging dem Bevollmächtigten der schon im Verwaltungsverfahren anwaltlich vertretenen Klägerin am 21.07.2017 zu.
Im Widerspruchsverfahren berief sich die Klägerin auf Berichte ihres Hausarztes T., wonach die Angst- und depressive Störung weiterhin fortbestehe. Es komme durch private und berufliche Belastungen immer wieder zu akuten psychischen Krisen mit Selbstwertproblematik. Diesbezüglich sei eine ambulante Psychotherapie durchgeführt worden. Im Vordergrund der Beschwerden stehe weiterhin eine angstgefärbte depressive Grundhaltung auch bei allgemeiner Überforderung durch das Erkrankungsbild Diabetes und der Folgen daraus für das gesamte Leben mit Einschränkungen im Tagesverlauf und mangelnder Belastungsmöglichkeit. Eine fachärztliche Behandlung zum Krisenmanagement sei derzeit nicht mehr notwendig. Die Klägerin werde in der hausärztlichen Praxis im Rahmen einer psychosomatischen Grundversorgung mit Evaluation behandelt, wobei sie bisher immer wieder habe stabilisiert werden können.
Die Bezirksregierung E. wies den Widerspruch (in Unkenntnis der Ausführungen der Klägerin im Widerspruchsverfahren) mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2017, dem Bevollmächtigten der Klägerin am 05.12.2017 zugegangen, als unbegründet zurück, weil die Klägerin den Widerspruch nicht begründet habe.
Hiergegen hat die Klägerin am 03.01.2018 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Münster erhoben. Zur Begründung hat sie insbesondere ausgeführt, dass sich die psychischen Probleme nicht gebessert hätten. Die Angststörung mit den depressiven Episoden werde weiterhin hausärztlich behandelt. In akuten Phasen werde sie regelmäßig durch den Hausarzt krankgeschrieben. Das Zusammenspiel mit dem Diabetes mellitus und dem Asthma bronchiale rechtfertige unverändert die Feststellung eines Gesamt-GdB von 50.
Die Klägerin hat beantragt,
den Bescheid vom 19.07.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2017 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat seine Entscheidung weiterhin für zutreffend gehalten.
Das SG hat den Sachverhalt zunächst weiter aufgeklärt durch Einholung weiterer Befundberichte des T. vom 17.04.2018, des H. vom 22.05.2018 und der Y. vom 21.03.2018. Y. hat mit ihrem Bericht Blutzuckermessprotokolle der Klägerin aus dem Jahr 2018 vorgelegt. H. hat angegeben, er habe die Klägerin zuletzt am 12.03.2018 behandelt, zu einem weiteren Termin am 17.05.2018 sei sie nicht erschienen. Ferner hat das SG zwei medizinische Sachverständigengutachten des Neurologen und Psychiaters S. vom 07.06.2019 und des Internisten G. vom 27.05.2019 eingeholt. Nach den Feststellungen der Sachverständigen lagen bei der Klägerin im November 2017 ein insulinpflichtiger Typ-l-Diabetes-mellitus mit einem Einzel-GdB von 50 (Gutachten G.), ein allergisches Asthma bronchiale mit einem Einzel-GdB von 10 (Gutachten G.) und eine gemischte Angst- und depressive Störung mit einem Einzel-GdB von 20 (S.) vor. S. hat hieraus die Bildung eines Gesamt-GdB von 50 vorgeschlagen.
Mit Urteil vom 27.02.2020 hat das SG der Klage stattgegeben. Als Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bescheides vom 11.11.2013 komme nur § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) in Betracht, wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben sei. Bis zum 30.11.2017 habe keine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen stattgefunden, die eine Herabsetzung des Gesamt-GdB auf 40 rechtfertige.
Zu dieser Feststellung gelange die Kammer aufgrund des Gesamtergebnisses der Feststellungen in den Sachverständigengutachten von S. und G.. Unstreitig liege bei der Klägerin ein insulinpflichtiger Typ-l-Diabetes-mellitus vor. Nach Auffassung der Kammer sei für diesen mindestens ein Einzel-GdB von 40 anzusetzen. Ob darüber hinaus hierfür ein Einzel-GdB von 50 anzunehmen sei, könne dahinstehen.
Denn zur Überzeugung der Kammer sei unter Berücksichtigung der psychischen Erkrankung der Klägerin und deren Auswirkungen auf ihre Diabeteserkrankung, soweit man diese nicht schon – wie von G. angenommen – in die Bewertung des Einzel-GdB für die Diabeteserkrankung einbeziehe, jedenfalls ein Gesamt-GdB von 50 zu bilden. Die Klägerin leide nämlich ferner an einer gemischten Angst- und depressiven Störung, die nach Teil B Ziff. 3.7 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VMG) als leichtere psychovegetative oder psychische Störung mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sei. Sie habe sich aufgrund dieser Erkrankung in den Jahren 2006 und 2013 jeweils in teilstationärer psychiatrischer und zum Zeitpunkt der Begutachtung durch S. in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung befunden. Zwar wirke sich diese Erkrankung zumindest aktuell nicht gravierend auf ihren Tagesablauf und die Wahrnehmung von Sozialkontakten aus, auch wenn S. eine ängstlich bedrückte Stimmung bei leicht eingeengter affektiver Stimmungsfähigkeit festgestellt habe. Jedoch rufe die Angststörung eine panische Angst vor Unterzuckerung hervor, welche konkret dazu führe, dass die Klägerin sich zu geringe Mengen Insulin injiziere. So komme auch S. überzeugend zu dem Schluss, dass ohne Zweifel eine Beeinträchtigung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bei der Klägerin gegeben sei.
Der Gesamt-GdB sei (unter Einbeziehung eines Einzel-GdB von 10 für das allergische Asthma bronchiale) im Rahmen tatrichterlicher Einschätzung aufgrund einer gebotenen Gesamtbetrachtung aller Einzelbehinderungen zu ermitteln, wobei auch allgemeine Erfahrungssätze berücksichtigt werden könnten (Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 17.04.2013, B 9 SB 69/12 B).
Als höchster Einzel-GdB sei hier der GdB für den Diabetes mellitus zugrunde zu legen. Soweit dieser in Einklang mit der Beurteilung von G. schon allein mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet werden sollte, sei keine Erhöhung dieses GdB in Hinblick auf die psychische Erkrankung der Klägerin vorzunehmen. In diesem Fall würde dies einer doppelten Berücksichtigung von Teilhabebeeinträchtigungen gleichkommen, da ein Einzel-GdB von 50 für den Diabetes mellitus sich entsprechend nur auf Grundlage des schlechten Therapieerfolges, bedingt durch die psychische Erkrankung der Klägerin, rechtfertigen ließe. Soweit man jedoch ohne Berücksichtigung des schlechten Therapieerfolges für den Diabetes mellitus lediglich einen Einzel-GdB von 40 ansetzen wolle, sei der Einzel-GdB von 20 für die psychische Erkrankung zur Überzeugung der Kammer im Hinblick auf den Gesamt-GdB erhöhend zu berücksichtigen. Denn insofern beeinflussten sich beide Erkrankungen gegenseitig ungünstig, da, wie auch S. ausführe, die psychische Erkrankung die optimale Stoffwechseleinstellung aufgrund der Angst vor Unterzuckerung erschwere bzw. bislang verhindert habe. Das vorliegende Asthma bronchiale hingegen habe keine Auswirkung auf den Gesamt-GdB.
Gegen das dem Beklagten am 30.03.2020 zugestellte Urteil hat dieser am 23.04.2020 Berufung eingelegt und im Wesentlichen vorgetragen, der Einzel-GdB für die Beeinträchtigung im Bereich Nervensystem und Psyche habe im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides nur 10 betragen; die Therapien und Behandlungen seien zu diesem Zeitpunkt seit gut zwei Jahren beendet gewesen. Auch S. habe nach der erst ein Jahr nach der Widerspruchsentscheidung aufgenommenen ambulanten Psychotherapie nur einen GdB von 20 festgestellt. Der Einzel-GdB für die Diabetes-Erkrankung sei zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung zutreffend (und möglicherweise auch großzügig) mit 40 bewertet worden. Eine Bewertung mit einem Einzel-GdB von 50 sei jedenfalls unzutreffend.
Unbenommen führe die hier vorliegende Anfechtungssituation zu einer Umkehr der Beweislast. Auf die Bewertungsgrundsätze, insbesondere zur Bildung des Gesamt-GdB, habe die Klageart hingegen keinen Einfluss. Bei der Klägerin lägen zwei Gesundheitsstörungen, welche für die GdB-Bildung Relevanz entwickeln könnten, vor.
Der Diabetes mellitus bedinge – entgegen der Auffassung des Sachverständigen G. – keinen Einzel-GdB von 50. In korrekter Auslegung der VMG unter Berücksichtigung der zum Diabetes mellitus ergangenen ober- und höchstrichterlichen Rechtsprechung könne für diese Gesundheitsstörung maximal ein Einzel-GdB von 40 festgestellt werden. Auch ein solcher könne lediglich als gerade so eben erreicht erachtet werden.
Hinsichtlich der zweiten GdB-relevanten Gesundheitsstörung auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet habe der Sachverständige S. nach Untersuchung im Dezember 2018 einen GdB von 20 für eine „gemischte Angst- und depressive Störung (ICD-10 F 41.2)“ als vertretbar angesehen. Nach den ICD solle „diese Kategorie … bei gleichzeitigem Bestehen von Angst und Depression Verwendung finden, jedoch nur, wenn keine der beiden Störungen eindeutig vorherrscht und keine für sich genommen eine eigenständige Diagnose rechtfertigt.“ Nur wenn ängstliche und depressive Symptome in so starker Ausprägung aufträten, dass sie eine einzelne Diagnose rechtfertigten, sollten beide Diagnosen gestellt und auf diese Kategorie verzichtet werden. Vorliegend also führten nach Einschätzung des Facharztes die Symptome weder zur Diagnose einer Angststörung noch zu der einer depressiven Störung für sich allein genommen. Das volle Ausmaß werde nicht erreicht. Dies entspreche einer möglichen Kombination beider Störungen, welche in der Allgemeinbevölkerung weit verbreitet vorzufinden sei. Konsequenterweise sehe Herr S. einen „mittleren Zwanzigerwert“.
Bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB von 20 sei es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Teil A Ziff. 3d) ee) VMG). Möge also ein starker Einzel-GdB von 20 (mit einer Tendenz zum Einzel-GdB 30) geeignet sein, ein führendes Leiden um 10 oder mehr Punkte zu erhöhen, müsse dies bei einem mittleren GdB von 20 in der Regel in Abrede gestellt werden.
Hinzu komme, dass vorliegend hinsichtlich der psychischen Alteration der Klägerin immer wieder auf die Hypoglykämieangst abgestellt werde. Neben der Angst vor Folgeerkrankungen aufgrund eines langjährigen Diabetes mellitus sei jedoch die Furcht vor therapiebedingten Hypoglykämien jedem insulinpflichtigen Diabetiker innewohnend; derartige seelische Auswirkungen der Erkrankung seien den VMG folgend bereits in den Tabellenwerten berücksichtigt. Es müsse strengstens vermieden werden, eine Doppelbewertung dieser Gesundheitsstörung vorzunehmen.
Zum streitgegenständlichen Zeitpunkt der Widerspruchsbescheidung im November 2017 habe jegliche Behandlungsnachfrage auf psychiatrischen Fachgebiet, sei es therapeutisch, sei es psychiatrisch, sei es psychopharmakologisch, bereits länger als zwei Jahre zurückgelegen. Außergewöhnliche seelische Begleiterscheinungen hätten damit Ende 2017 nicht länger bestanden. Auch aus der Befunddokumentation des Hausarztes ergäben sich keine Hinweise auf eine psychosomatische Grundversorgung oder supportive Gespräche von Ende 2015 bis Herbst 2018 als Beleg einer psychischen Alteration.
Eine Gesundheitsstörung auf psychiatrischen Fachgebiet habe nach den Aufzeichnungen des Hausarztes zum streitgegenständlichen Zeitpunkt nicht (mehr) vorgelegen, erst recht keine, welche geeignet wäre, Einfluss auf die GdB-Bildung zu nehmen.
Mit Blick auf Teil A Ziff. 3 b) VMG biete sich ein Vergleich im Funktionssystem Innere Sekretion und Stoffwechsel an. Ein Einzel-GdB von 50 sei festzustellen bei einem an Diabetes erkrankten Menschen mit mindestens vier Insulininjektionen täglich (in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit, der geplanten körperlichen Belastung), welcher zudem krankheitsbedingt durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sei. Aus dem Gutachten S. zur Tagesablaufanamnese ergäben sich keine Teilhabeinschränkungen wie sie z. B. für die Bewertung eines solitären Diabetes mellitus mit einem GdB von 50 erforderlich wären. Die Klägerin habe zum Zeitpunkt der Herabsetzung und mindestens zur Begutachtung einen vollständig „normalen“ Tagesablauf gehabt, welcher am frühen Morgen begonnen habe, wochentags über mit vollzeitiger Berufstätigkeit ausgefüllt gewesen sei und in den Abendstunden neben Hausarbeit, Einkäufen u. s. w. auch partnerschaftliche Aktivitäten beinhaltet habe. Sie habe außerdem von regulären familiären Beziehungen zu den Eltern bzw. zu den Geschwistern berichtet und ebenso von einem vorhandenen Freundeskreis. Die Klägerin sei ihren Hobbys regelmäßig nachgegangen und sei im Jahr der Begutachtung noch im europäischen Ausland im Urlaub gewesen. Auch aus den vorgelegten Diabetestagebüchern der Jahre 2017 und 2018 sei sehr augenfällig der regelmäßige Tagesablauf der Klägerin zu entnehmen.
Der Beklagte hat die Berufung gegen das Urteil des SG für den Zeitraum bis zum 21.07.2017 zurückgenommen.
Anschließend beantragt er,
das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 27.02.2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des SG und die ihr zu Grunde liegenden Beurteilungen des G. und des S. für zutreffend. Ferner gibt sie auf Nachfrage im Termin zur mündlichen Verhandlung persönlich an, im Anschluss an die Eskalation 2013 relativ lange nach der richtigen Psychotherapie für sich gesucht zu haben. Relativ viele Therapeuten hätten begleitend eine medikamentöse Therapie einleiten wollen. Sie habe ihre Probleme aber allein durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen in den Griff bekommen wollen. Sie habe dann Dr. Kaluza gefunden, der auf Patienten mit Diabetes mellitus spezialisiert sei und bei dem sie – nach längerer Wartezeit – ab Oktober 2018 eine Psychotherapie aufgenommen habe. Zu den weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Klägerin insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift vom 16.01.2024 (Blatt 402 f. der Prozessakten) Bezug genommen.
Der Senat hat im Rahmen weiterer Ermittlungen u. a. einen Befundbericht der Dipl.-Psych.´in O. über die Behandlung der Klägerin in der Zeit vom 09.10.2013 bis 08.09.2014 beigezogen. Gegenstand der Behandlung seien 23 verhaltenstherapeutische Sitzungen gewesen. Die Klägerin habe die Behandlung abgebrochen. Die Behandlerin hat mitgeteilt, dass nur kurzfristige Verbesserungen erzielt worden seien.
Zudem hat die Klägerin einen ärztlichen Entlassungsbericht der Klinik V. über eine stationäre psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme vom 15.02.2022 bis zum 29.03.2022 vorgelegt.
Schließlich hat der Senat die Behandlungsdokumentation des T. für die Jahre 2016 bis 2018 über dessen Praxisnachfolger beigezogen. Hieraus ergeben sich keine Hinweise auf eine psychosomatische Grundversorgung oder auf supportive Gespräche der Klägerin in dem genannten Zeitraum.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Streitakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
A) Die mangels einer Berufungsbeschränkung aus § 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach § 143 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.
I. Gegenstand des Rechtsstreits ist neben dem Urteil des SG vom 27.02.2020 der Bescheid des Beklagten vom 19.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2017, womit der durch den Bescheid vom 11.11.2013 festgestellte GdB der Klägerin von 50 auf 40 herabgesetzt worden ist. Da der Beklagte die Berufung im Übrigen zurückgenommen hat, unterliegt allein die Sach- und Rechtslage ab dem 22.07.2017 der gerichtlichen Beurteilung.
II. Die zulässige Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) ist begründet, weil die angefochtene Entscheidung des Beklagten rechtmäßig und die Klägerin deshalb nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert ist.
1. Rechtsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung (Aufhebung des Bescheides vom 11.11.2013 und Herabsetzung auf einen GdB von 40) ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.
2. Formellen Bedenken begegnet die angefochtene Entscheidung nicht, da der örtlich und sachlich zuständige Beklagte die Klägerin vorab ordnungsgemäß angehört und den Bescheid ausreichend begründet hat (§ 24 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 SGB X).
3. Die materiellen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X waren in dem für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids als letzter maßgeblicher Verwaltungsentscheidung insoweit erfüllt, als eine Herabsetzung für die Zukunft, d. h. nach der Bekanntgabe am 21.07.2017 verfügt wurde.
a) Soweit der Bescheid auch eine Herabsetzung für die Vergangenheit, d. h. für die Zeit vom 19.07.2017 bis zur Bekanntgabe und damit dem Wirksamwerden der Herabsetzungsentscheidung, vorsah, lagen die materiellen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X zwar nicht vor. Denn die Regelung erlaubt lediglich eine Aufhebung für die Zukunft (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.12.2021, B 9 SB 6/19 R, juris Rn. 31). Der Beklagte hat diese Teilrechtswidrigkeit allerdings durch seine teilweise Rücknahme der Berufung behoben, weil der Bescheid vom 19.07.2017 nach Angaben der Klägerin bereits am 21.07.2017 bekannt gegeben wurde.
Die (Teil-)Rechtswidrigkeit der Aufhebung für die Vergangenheit steht der Rechtmäßigkeit und damit dem Fortbestand der Herabsetzungsentscheidung für die Zukunft nicht entgegen, weil die Aufhebungsentscheidung insoweit teilbar ist und damit Gegenstand einer isolierten rechtlichen Beurteilung in dem vorliegenden Verfahren sein kann (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.12.2021, B 9 SB 6/19 R, juris Rn. 23 ff.).
b) Die angefochtene Entscheidung ist im Übrigen, d. h. mit Blick auf die Herabsetzung für die Zukunft (ab dem 22.07.2017), rechtmäßig.
aa) Bei der Feststellung des GdB von 50 im Bescheid vom 11.11.2013 handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung i. S. v. § 48 SGB X. Aus dem insofern maßgeblichen Verfügungssatz ergibt sich die unbefristete Feststellung eines GdB von 50 ab dem 26.07.2013.
Soweit auf Seite 2 des Bescheides darauf hingewiesen ist, dass der Schwerbehindertenausweis befristet bis zum 31.03.2016 ausgestellt werde, ist hierin keine Befristung der GdB-Feststellung zu sehen. Dass die Gültigkeit des auszustellenden Ausweises befristet wurde, ist unerheblich, da die Ausstellung des Ausweises bzw. dessen Gültigkeit gedanklich und damit auch rechtlich von der Zuerkennung des Schwerbehinderteneigenschaft zu trennen ist (dazu ausführlich Urteil des erkennenden Senats vom 20.05.2021, L 6 SB 242/20).
bb) Die tatsächlichen Umstände, die Grundlage für die Feststellung des GdB von 50 gewesen sind, haben sich entgegen der Auffassung der Klägerin und des SG wesentlich geändert. Eine wesentliche Änderung liegt im Schwerbehindertenrecht vor, wenn geänderte gesundheitliche Verhältnisse einen um 10 höheren oder niedrigeren GdB begründen (vgl. Teil A Ziff. 7a Satz 1 VMG und etwa BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris Rn. 26; BSG, Urteil vom 11.11.2004, B 9 SB 1/03 R, juris Rn. 12 m. w. N.).
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden festgestellt, § 69 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 SGB IX a. F. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX a. F. gelten für diese Feststellung die Maßstäbe der VMG entsprechend.
Die Bemessung des (Gesamt-)GdB ist dabei in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (BSG, Beschluss vom 09.12.2010, B 9 SB 35/10 B, juris Rn. 5 m. w. N.; BSG, Urteil vom 27.10.2022, B 9 SB 4/21, juris Rn. 21 m. w. N.; ausführlich zur Gesamt-GdB-Bildung auch Mecke SGb 2023, S. 220 ff.). In einem ersten Schritt sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten Schritt sind diese den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der maßgebliche (Gesamt-)GdB zu bilden (BSG, Urteil vom 30.09.2009, B 9 SB 4/08 R, juris Rn. 18 m. w. N.). Außerdem sind nach Teil A Ziff. 3b VMG bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VMG feste GdB-Werte angegeben sind (BSG, Urteil vom 02.12.2010, B 9 SB 4/10 R, juris Rn. 25; vgl. zum Ganzen auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.06.2012, L 13 SB 127/11, juris Rn. 42 ff., und daran anschließend BSG, Beschluss vom 17.04.2013, B 9 SB 69/12 B, juris Rn. 8 ff.).
Maßgebende Vergleichszeitpunkte für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der GdB-Herabsetzung sind hier die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, also bei Erlass des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2017 (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 14. Auflage 2023, § 54 Rn. 33 m. w. N.; BSG, Urteil vom 10.09.1997, 9 RVs 15/96; Urteil vom 12.11.1996, 9 RVs 5/95; Beschluss vom 11.05.2021, B 9 SB 65/20 B) sowie die Sach- und Rechtlage im November 2013 als der Bescheid vom 11.11.2013 erlassen wurde.
Die gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin haben sich im Zeitraum von November 2013 bis 30.11.2017 wesentlich gebessert. Denn sie rechtfertigten im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung nur noch einen Gesamt-GdB von höchstens 40. Dabei ist im Ausgangspunkt der Vollständigkeit halber festzuhalten, dass keinerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Gesundheitszustand der Klägerin im November 2013 die Feststellung eines GdB von 50 nicht gerechtfertigt hätte, und somit eine anfängliche Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 11.11.2013 nicht in Rede steht.
(1) Die Beeinträchtigungen der Klägerin sind zum maßgeblichen Zeitpunkt (November 2017) mit Blick auf das Funktionssystem Stoffwechsel, innere Sekretion nicht höher als mit einem GdB von 40 zu bewerten.
Im Hinblick auf die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) ist entgegen der Auffassung der Sachverständigen G. lediglich ein Einzel GdB von 40 (wie von dem Beklagten anerkannt), nicht jedoch ein solcher von 50 festzustellen.
(a) Für die Vergabe eines GdB für die Diabetes mellitus als Fall der Stoffwechselstörung unter Berücksichtigung ihrer vielfältigen Auswirkungen ist Teil B Ziff. 15.1 VMG maßgeblich. Ein GdB von 50 setzt gemäß Teil B Ziff. 15.1 Abs. 4 VMG folgendes voraus: Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (bzw. Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Demgegenüber wird in Teil B Ziff. 15.1 Abs. 3 VMG ein GdB von 30 bis 40 wie folgt beschrieben: Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Für beide Varianten gilt, dass außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen jeweils höhere Werte bedingen können (Teil B Ziff. 15.1 Abs. 5 VMG).
(b) Für die Feststellung eines GdB von 50 ist demnach auf drei Beurteilungskriterien abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 SB 2/13 R, juris Rn. 16): Täglich mindestens vier Insulininjektionen, selbständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung sowie eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte. Diese Kriterien sind nicht jeweils gesondert für sich genommen starr anzuwenden, vielmehr sollen sie eine sachgerechte Beurteilung des Gesamtzustands erleichtern (BSG a. a. O.). Die Bewertung des GdB erfordert eine am jeweiligen Einzelfall orientierte Beurteilung, die alle die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinflussenden Umstände berücksichtigt (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris Rn. 42).
(c) Diese Kriterien sind bei der Klägerin (bezogen auf den Referenzzeitpunkt November 2017) lediglich teilweise erfüllt und führen auch in der Gesamtschau nicht zu einer Bewertung mit einem GdB von 50.
(aa) Die Klägerin führte zwar täglich mindestens vier Insulininjektionen durch und musste die Insulindosis zudem in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig variieren. Dies ergibt sich aus dem Gutachten von G. und wird im Übrigen vom Beklagten auch nicht bestritten.
(bb) Die Klägerin war zur Überzeugung des Senats jedoch nicht durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt. Eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung durch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung ist nur unter strengen Voraussetzungen zu bejahen. Aus dem Zusammenspiel der drei o. g. Beurteilungskriterien lässt sich ableiten, dass die mit der dort vorausgesetzten Insulintherapie zwangsläufig verbundenen Einschnitte nicht geeignet sind, eine zusätzliche („und“) gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung hervorzurufen. Berücksichtigungsfähig ist danach daher nur ein dieses hohe Maß noch übersteigender, besonderer Therapieaufwand. Daneben kann ein unzureichender Therapieerfolg die Annahme einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung rechtfertigen. Schließlich sind auch alle anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitte in der Lebensführung zu beachten (BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 SB 2/13 R, juris Rn. 21).
((1)) Ein das bereits hohe Maß übersteigender besonderer Therapieaufwand ist weder aus den eigenen Schilderungen der Klägerin noch aus dem Gutachten von G. erkennbar.
((2)) Eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung liegt auch nicht aufgrund eines unzureichenden Therapieerfolges vor. Der Therapieerfolg kommt in der Stoffwechsellage zum Ausdruck, kann aber nur im Rahmen der Prüfung der gravierenden Beeinträchtigung der Lebensführung berücksichtigt werden (BSG, a. a. O., juris Rn. 18). Zwar stellt G. eine insgesamt aufgrund der irrationalen Angst vor Hypoglykämien deutlich erschwerte Einstellbarkeit des insulinpflichtigen Diabetes dar („unterspritzen“), jedoch waren weder nach Darstellung der Klägerin noch nach den Feststellungen des G. extreme Stoffwechselentgleisungen, die etwa eine Fremdhilfe erforderlich gemacht hätten, zu verzeichnen. Dies korreliert im Übrigen mit den Ausführungen der Y. in ihrem Befundbericht vom 01.02.2017. Auch Folgeerkrankungen bestehen nach den Ausführungen von G. nicht. Hinzu kommt, dass sich der aktenkundige HbA1c-Wert der Klägerin entscheidungsnah im Februar 2017 auf 7,4% belief. Da sich dieser Wert jedenfalls nach der S3-Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft (2. Auflage 2018, dort S. 12 ff.) noch im oberen Toleranzbereich befindet, kann auch auf dieser Grundlage nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Klägerin durch das „Unterspritzen“ einer nachhaltigen Gefahr aussetzte.
((3)) Bei der Klägerin lagen zum maßgeblichen Zeitpunkt auch keine anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitte in der Lebensführung vor. Eine gravierende Teilhabeeinschränkung zeichnet sich durch eine ganz erhebliche Beeinträchtigung z. B. bei der Planung des Tagesablaufs, der Gestaltung von Berufsausübung und Freizeit oder der Zubereitung von Mahlzeiten aus (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.01.2021, L 13 SB 29/20, juris Rn. 34). Die von der Klägerin insbesondere bei dem Sachverständigen S. geschilderten Einschränkungen beeinträchtigten ihre Lebensführung zwar nachvollziehbarerweise, jedoch nicht gravierend, wie es die gesteigerten Voraussetzungen der VMG (s. o.) für einen GdB von 50 erfordern. So konnte sie zum maßgeblichen Zeitpunkt ihren Beruf ausüben, abends gemeinsam kochen, ihre Einkäufe und Hausarbeiten erledigen. Auch Besuche bei den Eltern und Treffen mit dem vorhandenen Freundeskreis waren möglich. Sie ging ins Fitnessstudio und unternahm Urlaubsreisen.
((4)) Auch die von den Sachverständigen beschriebene Hypoglykämieangst (als solche) stellt keine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung dar. Gemäß Teil A Ziff. 2 i) VMG berücksichtigen die in der Tabelle niedergelegten Werte bereits die üblichen seelischen Begleiterscheinungen. Sind die seelischen Begleiterscheinungen erheblich höher als aufgrund der organischen Veränderungen zu erwarten wäre, so ist ein höherer GdB gerechtfertigt. Vergleichsmaßstab ist dabei nicht der behinderte Mensch, der überhaupt nicht oder kaum unter seinem Körperschaden leidet, sondern die allgemeine ärztliche Erfahrung hinsichtlich der regelhaften Auswirkungen. Außergewöhnliche seelische Begleiterscheinungen sind anzunehmen, wenn anhaltende psychoreaktive Störungen in einer solchen Ausprägung vorliegen, dass eine spezielle ärztliche Behandlung dieser Störungen – z. B. eine Psychotherapie – erforderlich ist. Dies ist bei der Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt gerade nicht mehr der Fall gewesen. Die letzte psychotherapeutische Behandlung fand im Jahr 2014 statt. Panikattacken, die noch im Zeitpunkt des Bescheides vom 11.11.2013 eine Rolle bei der Einschätzung des GdB durch den Beklagten gespielt hatten, waren im hier maßgebenden Zeitpunkt nicht mehr dokumentiert. Lediglich im September 2015 nahm die Klägerin zwei probatorische Sitzungen in der Psychotherapieambulanz Münster wahr. Erst ab Oktober 2018 – und damit erst etwa ein Jahr nach dem hier maßgeblichen Zeitpunkt – war die Klägerin wieder in psychotherapeutischer Behandlung. Soweit die Klägerin für sich ins Feld führt, sie habe sehr lange nach einem geeigneten Therapeuten gesucht und bei Dr. Kaluza längere Zeit auf der Warteliste gestanden, vermag dies angesichts des konkreten klinischen Bildes im hier fraglichen Zeitpunkt und des langen Unterbrechungszeitraumes mit Blick auf die Inanspruchnahme fachtherapeutischer Maßnahmen zu keiner anderen Beurteilung zu führen. Zumal auch in der von dem Senat eigens beigezogenen Behandlungsdokumentation von T. insoweit keine Interventionsmaßnahmen oder Beschwerdeäußerungen der Klägerin vermerkt sind.
(cc) Eine Erhöhung des GdB für den Diabetes mellitus gemäß Teil B Ziff. 15.1 Abs. 5 VMG unter dem Gesichtspunkt einer außergewöhnlich schwer regulierbaren Stoffwechsellage kommt nicht in Betracht. Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen liegen sowohl bei Hypoglykämien vor, die jeweils der dokumentierten invasiven Fremdhilfe bedürfen, als auch bei schweren hyperglykämischen Stoffwechselentgleisungen; diese sind beispielsweise dann gegeben, wenn nur durch wiederholte stationäre Behandlungen eine zufriedenstellende Einstellung gelingt oder wiederholt Stoffwechselentgleisungen ohne erklärbare Ursachen – etwa in der Nacht – auftreten (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.01.2021, L 13 SB 29/20, juris Rn. 37). Auch dies war bei der Klägerin nicht der Fall.
(2) Die Beeinträchtigungen der Klägerin sind zum maßgeblichen Zeitpunkt (November 2017) mit Blick auf das Funktionssystem Nervensystem und Psyche jedenfalls nicht höher als mit einem mittleren GdB von 20 zu bewerten.
Nach Teil B Nr. 3.7 VMG sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit 0-20 zu bewerten. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) sind mit 30-40 zu bewerten.
Die Klägerin litt im November 2017 unter einer gemischten Angst- und depressiven Störung, für die nach dem neurologisch-psychiatrischem Fachgutachten von S. ein mittlerer zwanziger Wert, wie er für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen vorgesehen ist, festzustellen ist. Insofern stellt S. in seinem Gutachten ausdrücklich eine Verbesserung gegenüber den im Zeitpunkt des Bescheides vom 11.11.2013 vorliegenden Gesundheitsstörungen fest. Im Jahr 2013 war bei der Klägerin für das Funktionssystem Nervensystem und Psyche noch ein GdB von 40 festgestellt worden. Die damalige Einschätzung resultierte daraus, dass zu diesem Zeitpunkt zusätzlich noch dokumentierte Panikattacken mit der Notwendigkeit ambulanter Psychotherapie nach teilstationärer Behandlung vorlagen. Jedenfalls im November 2017 sind zwei Jahre zurückliegend weder psychiatrische noch psychotherapeutische Behandlungen dokumentiert. Lediglich im September 2015 erfolgte eine zweimalige Vorstellung in der Psychotherapie-Ambulanz der Universitätsklinik Münster. Nach dem zweiten Termin teilte die Klägerin ihre Entscheidung gegen eine Therapie mit. Bei dem behandelnden Psychiater H. fand bis zum 25.07.2016 (Datum des im Verwaltungsverfahren eingeholten Befundberichtes) letztmalig am 19.11.2013 eine Vorsprache statt. Auch aus der Behandlungsdokumentation des Hausarztes der Klägerin, T., ergeben sich keine Hinweise auf eine psychosomatische Grundversorgung oder auf supportive Gespräche im Zeitraum von Ende 2015 bis Herbst 2018 (s. o. (bb), ((4))). Mangels hinreichender objektiver Anhaltspunkte vermag der Senat daher hier, trotz des durchaus glaubhaften Beschwerdevortrages der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung, im Einklang mit der Beurteilung von S. keinen Einzel-GdB festzustellen, wie er etwa für eine ausgeprägte depressive oder phobische Störung zu vergeben wäre.
(3) Die Einschränkungen im Funktionssystem Brustkorb, tiefere Atemwege und Lunge (allergisches Asthma bronchiale) sind mit einem GdB von 10 zutreffend vom Beklagten berücksichtigt worden. Der Senat folgt insoweit den nachvollziehbaren Ausführungen von S. und der Beurteilung des medizinischen Dienstes des Beklagten, die von der Klägerin im Übrigen auch nicht in Zweifel gezogen wurden.
(4) Weitere GdB-relevante und damit berücksichtigungswürdige Gesundheitsstörungen liegen nicht vor.
(5) Ausgehend von den vorstehend festgestellten Einzel-GdB-Werten ergibt sich folgende Gesamt-GdB-Bildung zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung im November 2017:
Als führendes Leiden ist das Diabetesleiden der Klägerin, das mit einem Einzel-GdB von 40 zu bemessen ist, anzusehen.
Dieser Wert ist mit Blick auf den Einzel-GdB für das psychische Leiden von 20 (mittlerer Wert) nicht zu erhöhen. Die Bildung des Gesamt-GdB ist allein tatrichterliche Aufgabe (vgl. BSG, Beschluss vom 22.01.2017, B 9 SB 68/17 B Rn. 6 m. w. N.). Dabei berücksichtigt der Senat zum einen, dass es sich bei dem festgestellten 20er Wert für das psychische Leiden lediglich um einen mittleren Wert handelt. Zum anderen sieht der Senat mit Blick auf die Einschränkung der psychischen Belastungen, dass diese teilweise auch in den bereits für das Diabetes-Leiden festgestellten Einschränkungen berücksichtigt sind (vgl. Teil A Nr. 2 i) VMG). So muss schon für die Feststellung eines GdB von 30-40 im Rahmen der Diabetes-Erkrankung die Lebensführung durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sein. Soweit der Gutachter S. für seine Einschätzung auch auf die Angst vor Unterzuckerung abstellt, ist diese bereits zumindest teilweise in den Tabellenwerten der VMG als berücksichtigt anzusehen (s. o. (bb), ((4))). Insoweit liegt also eine gewisse Überschneidung vor. Die Einschätzung des Senats wird fachärztlich auch dadurch gestützt, dass der Sachverständige S. ausführt, durch den mittleren Einzel-GdB für die psychische Gesundheitsstörung sei keine weitere Erhöhung des Gesamt-GdB zu rechtfertigen.
Auch im Rahmen einer Gesamtwürdigung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen unter Berücksichtigung sozialmedizinischer Erfahrung ergibt sich aus dem Vergleich mit Gesundheitsschäden, für die in der Tabelle feste GdB-Werte angegeben sind, keine andere Beurteilung. Vielmehr ist zum maßgeblichen Zeitpunkt im Falle der Klägerin – wie oben dargelegt – gerade keine Einschränkung festzustellen, die einen Einzel-GdB von 50 bedingen würden. Insbesondere unter Berücksichtigung des von der Klägerin geschilderten Tagesablaufs und ihrer übrigen Aktivitäten war diese im November 2017 nicht in einem solchen Maße eingeschränkt, wie es für die ausschließliche Bewertung einer Diabetes-Erkrankung mit einem GdB von 50 Voraussetzung gewesen wäre.
B) Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193 Abs. 1 Satz 1, 183 SGG und berücksichtigt das nahezu vollständige Unterliegen der Klägerin.
C) Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.