Der Bescheid des Beklagten vom 27. Juli 2017 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Der Beklagte trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Der Streitwert wird auf 5.000€ festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer individuellen Beratung nach § 106 Abs. 5e Satz 1 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch in der bis zum 31. Dezember 2016 gültigen Fassung (SGB V a.F.) im Rahmen der Arznei- und Verbandmittel-Richtgrößenprüfung für das Jahr 2014.
Die Klägerin ist seit dem 1. Oktober 2013 in einer Einzelpraxis als vollzugelassene Ärztin für Allgemeinmedizin in A-Stadt niedergelassen und nimmt seit diesem Zeitraum an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Die Klägerin verfügt außerdem über die Zusatzbezeichnung ,,Palliativmedizin".
Die Praxis wies (nach der Anzahl- und Summenstatistik) im Jahr 2014 eine Fallzahl (FZ) von (insgesamt) 2.781 auf. Dies entspricht einer im Verhältnis zur Vergleichsgruppe/Fachgruppe (im Folgenden: FG) der vollzugelassenen Ärzte für Allgemeinmedizin deutlich unterdurchschnittlichen FZ. ln dieser FG waren in Hessen im Jahre 2014 (von Quartal zu Quartal schwankend) zwischen 2.663 und 2.692 Praxen.
Die Beigeladenen haben für das Jahr 2014 Richtgrößen für Arzneimittel vereinbart, die für die FG der Klägerin für Mitglieder (M) sowie Familienangehörige (F-Mitglieder) einen Betrag in Höhe von 50,37 € bzw. 144,33 € für Rentner (R) vorsahen. Diese Werte waren von den Vertragspartnern aus dem Jahr 2013 fortgeschrieben worden.
Die entsprechenden Richtgrößenwerte wurden den Ärzten jedoch erst in info.pharm der Beigeladenen zu 1) im April 2014 bekannt gegeben.
Bei den zugrunde gelegten Bruttoverordnungskosten der Klägerin in Höhe von 430.719,52 € wies sie gegenüber dem errechneten und für sie maßgeblichen Richtgrößenvolumen in Höhe von 226.710,09 € im Jahr 2014 eine Überschreitung in Höhe von insgesamt 204.009,43 € auf, was einer Überschreitung um +89,99% entspricht.
Mit Schreiben vom 1. Juni 2016 teilte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen in Hessen (PS) der Klägerin die Einleitung eines Prüfverfahrens der arztbezogenen Richtgrößen hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit der verordneten Leistungen von Arzneimitteln für das Jahr 2014 mit und forderte zur Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten (PB) auf.
ln ihrer folgenden Stellungnahme vom 15. Juli 2016 bezweifelte die Klägerin die vorhandenen Daten. Diese enthielten insbesondere keine Mitteilung über die Rabattverträge. Auch seien die Richtgrößenwerte für 2014 unrechtmäßig vereinbart worden. Ferner sei zu bedenken, dass ihre FG sehr inhomogen sei und somit keine Durchschnittswerte abbildbar seien. Da die spezielle Praxisausrichtung in der Schmerztherapie liege, seien die Verordnungskosten in diesem Bereich, auch durch Altenheimpatienten, Patienten mit Polyneuropathie, Diabetes mellitus Typ 2-Patienten, Schmerzpatienten und Palliativpatienten, höher als bei der FG. Neben den Analgetikaverordnungen kämen auch Magenschutzpräparate zum Einsatz. Auch habe sie im Bereich der Blutverdünnungspräparate notwendige Verordnungen vornehmen müssen. Dies sei bei Patienten mit Vorhofflimmern, künstlicher Herzklappe und Aortenklappenersatz erfolgt. Die Verordnungen für Xarelto hätten bereits vor der Prüfung als PB abgezogen werden müssen. Darüber hinaus nehme sie auch an DMP-Programmen aus den Bereichen Koronare-Herz-Krankheiten (KHK), Asthma und Chronische Atemwegserkrankungen (COPD) teil. Ferner würde die Verordnung von Eisenpräparaten eine Praxisbesonderheit darstellen, denn Verordnungen von Ferinject seien dann erfolgt, wenn Ferro Sanol Tabletten unwirksam gewesen waren.
Hilfsweise beantragte die Klägerin die Vorbereitung einer regressablösenden Individualvereinbarung, falls der Überschreitungsbetrag nicht vollständig durch Praxisbesonderheiten erklärt werden könne.
Nach Anerkennung von verordnungsbedingten Praxisbesonderheiten in Höhe von insgesamt 126.039,00 € ermittelte die PS für das Jahr 2014 noch eine Restüberschreitung des für die Klägerin maßgeblichen Richtgrößenvolumens um +34,39% und setzte mit Bescheid vom 8. November 2016 eine individuelle Beratung gem. § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. fest. Den Antrag auf Aufnahme von Verhandlungen über die Vereinbarung einer individuellen Richtgröße lehnte sie ab. Ein Anspruch auf Aufnahme von Verhandlungen über eine Vereinbarung einer individuellen Richtgröße bestehe nicht, da es an einem zu erstattenden Mehraufwand fehle.
Mit Schreiben vom 21. November 2016 legte die Klägerin Widerspruch ein, zu dessen Begründung sie vortrug, dass die PS auf verschiedene PB nicht eingegangen sei und bei der Berechnung der anerkannten PB deren Kosten nicht vollständig anerkannt worden seien.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Beschluss vom 27. Juli 2017 zurück. Die Rabatte und Zuzahlungen seien arztindividuell anerkannt worden. Ausgehend von der von den Kostenträgern gelieferten Summe der Zuzahlungen und Rabatte würde der arztindividuelle prozentuale Anteil errechnet. Eine Berücksichtigung der Rabatte und Zuzahlungen sei somit erfolgt.
Auch die Anerkennung von Praxisbesonderheiten sei in hinreichendem Ausmaß erfolgt. Anerkannt worden seien die folgenden Besonderheiten:
- GOP 98984 (Palliativpatienten). Dabei lag der Ansatz der Bf. bei 0,68% gegenüber der FG mit 0,04%. Demzufolge seien hierfür Kosten in Höhe von 1 1.032,00 € als PB anerkannt worden.
- Bei Prävalenzberechnungen der ICD-10-Codes E11 (nicht primär insulinabhängiger Diab.mell. Typ 2) habe die Klägerin bei 33,26% der Verordnungskosten und die FG bei 14,32% gelegen, so dass hier ein Betrag in Höhe von 31.315,00 € anerkannt worden sei.
- Die Berechnung des ICD-10-Codes 148.0 (Vorhofflimmern, persistierend) habe ein Mehr der Klägerin von 1,63% der Verordnungskosten gegenüber 0,64% der FG ergeben, so dass eine Summe von 4.507,00 € in Abzug gebracht worden sei.
- Die Prävalenzberechnung bei dem ICD-1O-Code 125 (chronisch ischämische Herzkrankheit) habe ergeben, dass die Klägerin mit 33,88% über der FG mit 9,55% gelegen habe, so dass ein Betrag in Höhe von 62.200,00 € zu berücksichtigen gewesen sei.
- Die Berechnung des ICD-10-Codes E78.0 (reine Hypercholesterinämie) habe ergeben, dass die Klägerin mit 15,73% über den Verordnungskosten der FG mit 9,67% gelegen habe, was einer zu berücksichtigenden Summe von 3.689,00 € entspreche.
- Bei der Codierung J44.99 (COPD nicht näher bezeichnet) sei ein Mehransatz der Klägerin von 5,19% festgestellt worden während die FG bei 2,76% gelegen habe, so dass eine verbleibende Mehrverordnung in Höhe von 6.800,00 € Anerkennung finde.
- Eine weitere PB sei bei der Prävalenzberechnung des ICD-1O-Codes M54.16 (Radikulopathie: Lumbalbereich) festgestellt worden, wo die Klägerin bei 7,57% der Kosten und die FG bei 3,54% gelegen habe, so dass ein Betrag in Höhe von 6.217,00 € anerkannt worden sei.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 3. August 2017 zum Sozialgericht Marburg erhobene Klage.
Die Klägerin wiederholt ihre Einwände gegen die Bildung der Richtgröße und die hinreichende Berücksichtigung von individuellen Rabattverträgen sowie die aus ihrer Sicht fehlende Herausrechnung von AMNOG-Präparaten. Sie rügt darüber hinaus, dass die Beklagte ihren Antrag auf Verhandlung über eine regressablösende Individualvereinbarung ignoriert habe. § 106 Abs. 5d SGB V a.F. sehe vor, dass im Falle einer Regressfestsetzung von einer solchen abgesehen werden könne, sofern sich die Beteiligten über eine individuelle Richtgröße einigten. Verhandlungen darüber seien ihr zu Unrecht verwehrt worden. Sogar für den Fall, dass man davon ausgehen würde, dass die Beratung gemäß § 106 Abs. 5e SGB V a.F. gleichrangig neben der individuellen Richtgrößenvereinbarung nach § 106 Abs. 5d SGB V a.F. stehen würde, obliege es alleinig dem Arzt, hierunter auszuwählen. In dem Moment in welchem dieser sich für den Antrag auf eine individuelle Richtgröße entscheide, müsse der Beklagte in Verhandlungen eintreten. Er könne nicht eigenmächtig hierüber weggehen und Zwangsberatungen aussprechen.
Es sei zudem nicht erkennbar, dass der Beklagte eine intellektuelle Prüfung durchgeführt habe und dabei die von der Klägerin ausführlich dargelegten PB hinreichend geprüft habe. Soweit sie vorgetragen habe, dass sie eine unterdurchschnittliche Praxis vorhalte, also deutlich weniger Patienten als die FG betreue und dazu insbesondere überalterte multimorbide Patienten mit schmerztherapeutischem Krankheitsbild oder sogar in palliativer Situation, so sei dieses gerade nicht typisch. Hier wäre zu erwarten gewesen, dass die Prüfgremien von Amts wegen ermitteln, wie dieses Diagnosespektrum bei der Fachgruppe vergleichend vertreten ist und welche Patienten mit welchem Schweregrad im Bereich der Schmerztherapie tatsächlich von der FG auch behandelt würden. Hierzu habe die PS aber keinerlei Ermittlungen angestellt, sodass die Prüfung hier ins Leere gehe. Es sei auch nicht darauf eingegangen worden, warum die erhöhten Verordnungskosten insbesondere durch 8 Altenheimpatienten, davon 4 in palliativer Situation, 50 Polyneuropathiepatienten, 36 Schmerzpatienten und 20 weitere Palliativbatienten nicht als PB anerkannt werden sollten. Hierzu müssten beispielsweise auch die Verordnungen der Magenschutzpräparate herangezogen werden.
Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des Beklagten vom 15. März 2017, zugestellt am 28. Juli 2017 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, über den Widerspruch der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er legt über die Ausführungen in seinem Beschluss hinaus dar, dass die Rabattbeträge arztindividuell ermittelt worden seien und im Falle der Klägerin 12,63% betragen hätten.
Der Zusatznutzen von Xarelto sei bisher durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) nicht festgestellt worden, so dass diesbezüglich keine weitergehende PB habe anerkannt werden können. Es sei auch nicht erkennbar, dass weitere PB hätten anerkannt werden müssen. Aufgrund der äußerst geringen Verordnungskosten im Bereich Schmerztherapie in Höhe von 332,48€ habe auch keine spezielle Praxisausrichtung im Bereich der Schmerztherapie festgestellt werden können. Darüber hinaus hätten auch die im Rahmen der Schmerztherapie verordneten Magenschutzpräparate nicht als Praxisbesonderheit anerkannt werden können.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die bei der Entscheidungsfindung vorgelegen haben.
Entscheidungsgründe
Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz, SGG).
Die Klage ist zulässig.
Gegenstand des Verfahrens ist nur der Bescheid des Beklagten, nicht auch der der Prüfungsstelle. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird.
Die Klage ist auch begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 27. Juli 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Der Beklagte muss über den Widerspruch der Klägerin gegen die Entscheidung der PS neu entscheiden und mit der Klägerin insbesondere in Verhandlungen über den Abschluss einer individuellen Richtgrößenvereinbarung (IRV) treten.
Wie das BSG hierzu entschieden hat (Urteil vom 2. November 2005, B 6 KA 63/04 R) müssen vereinbarte Richtgrößen immer bereits zu Beginn des Kalenderjahres, für das sie gelten sollen, bekannt gemacht sein. Erfolgt – wie vorliegend mit April 2014 – die Bekanntmachung erst im laufenden Kalenderjahr, können grundsätzlich die vereinbarten Richtgrößen der Prüfung erst für den Zeitraum nach der Bekanntmachung zu Grunde gelegt werden. Dies gilt nach Maßgabe der Grundsätze über die Zulässigkeit echter bzw. unechter Rückwirkung allerdings nur insoweit, als die neuen Richtgrößen die Rechtsposition des geprüften Vertragsarztes verschlechtert haben (vgl. BSG, Beschluss vom 15. August 2012, B 6 KA 94/11 B). Dies war jedoch vorliegend nicht der Fall. Die verspätete Veröffentlichung der Richtgrößen hatte keine Relevanz, weil sie ausschließlich die Vorjahreswerte fortschrieb.
Im Falle einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % ist eine individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e S. 1 SGB V a.F. durchzuführen (Beratung vor Regress). Diese Regelung ist durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz zum 1. Januar 2012 in das SGB V aufgenommen worden. Nach dieser Maßgabe ist der Beklagte vorliegend auch verfahren. Er hat jedoch den Antrag der Klägerin auf Verhandlung über eine IRV nicht berücksichtigt. Dies führt zur Rechtswidrigkeit des Beschlusses des Beklagten.
Anders als im Fall des § 106 Abs. 5a Satz 4 SGB V (vgl. dazu BSG, Urteil vom 15. Juli 2015, B 6 KA 30/14 R) besteht zwar keine Verpflichtung der Prüfgremien, auf den Abschluss einer IRV hinzuwirken. Wenn der geprüfte Arzt jedoch von sich aus Interesse am Abschluss einer IRV bekundet oder – wie hier – den Abschluss einer IRV beantragt, sind die Prüfgremien verpflichtet – unabhängig vorm Stadium des Richtgrößenprüfverfahrens –, in Verhandlungen über den Abschluss einer IRV einzutreten und dürfen den Abschluss einer IRV nicht aus sachfremden Gründen vereiteln. In diesen Fällen besteht eine "Verhandlungspflicht" der PS bzw. des Beklagten. Klarzustellen ist allerdings, dass die Prüfgremien nicht unter allen Umständen verpflichtet sind, eine IRV abzuschließen; ein unbedingter „Anspruch" des Arztes auf Abschluss einer IRV besteht nicht (BSG, Urteil vom 28. August 2013, B 6 KA 46/12 R). Da es sich um eine Vereinbarung in Form eines öffentlich-rechtlichen Vertrages handelt, setzt die IRV eine Willensübereinstimmung voraus. Wird zwischen den Prüfgremien und dem zu prüfenden Arzt keine Übereinstimmung über den Inhalt der Vereinbarung – insbesondere über die Höhe der zu vereinbarenden Richtgröße – erzielt, sind die Verhandlungen gescheitert (BSG, Urteil vom 28. August 2013, B 6 KA 46/12 R; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. Dezember 2015, L 11 KA 94/12).
Die Klägerin hat bereits im Verwaltungsverfahren ausführlich vorgetragen und auf ihre PB hingewiesen. Dem Vorbringen ist zu entnehmen, dass es ihr vorrangig darum ging, den prozentualen Überschreitungssatz unter den Grenzwert von 25% zu drücken. Hilfsweise beantragte sie Verhandlungen über eine regressablösende Individualvereinbarung. Die PS hat diesen Antrag zur Kenntnis genommen und ihrem Bescheid vom 8. November 2016 abgelehnt. Verhandlungen hierzu haben nicht stattgefunden.
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist jedoch nach Sinn und Zweck des Gesetzes auch bereits im Stadium der individuellen Beratung auf Antrag des Arztes über den Antrag auf eine individuelle Richtgröße zu verhandeln.
Dem Beklagten ist zuzugeben, dass die IRV in § 106 Abs. 5d SGB V erwähnt ist und insofern bei rein Wortlaut orientierter Auslegung nur im Zusammenhang mit der Festsetzung eines Mehraufwandes in Form eines Regresses steht. In diesem Zusammenhang sieht § 106 Abs. 5e Satz 2 SGB V allerdings keine IRV vor, sondern einen Antrag auf die Anerkennung von Praxisbesonderheiten.
Unter Berücksichtigung der historischen Gesetzesentwicklung und insbesondere von Sinn und Zweck der IRV überzeugt diese isoliert am Wortlaut orientierte Interpretation des Beklagten die Kammer jedoch nicht. § 106 Abs. 5e SGB V a.F. und damit auch die individuelle Beratung wurden erst im Jahr 2012 – und damit nach § 106 Abs. 5d SGB V a.F. – in das Gesetz aufgenommen. Die Gesetzesbegründung gibt aber keinen Aufschluss über das Verhältnis dieser Anträge. Festzuhalten ist jedoch, dass es sich bei dem Antrag auf Verhandlung über eine IR um ein „Mehr“ gegenüber dem Antrag auf Anerkennung von PB handelt. Die Praxisbesonderheiten sind im solchermaßen vorgegebenen Verhandlungsprogramm nur eine beispielhafte, wenngleich hervorgehobene Facette ("unter Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten"). Die Richtgröße wird jedoch auch durch andere Faktoren bestimmt (hierzu § 1 ff. der RgV 2006). All das ist ggf. Verhandlungsgegenstand (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. Dezember 2015, L 11 KA 94/12).
Gesetzessystematisch sind im Grunde zwei Varianten einer Auslegung denkbar. Zunächst könnte man die Absätze 5d) und 5e) – wie der Beklagte – isoliert betrachten und damit feststellen, dass bei Festsetzung einer individuellen Beratung nur ein Antrag auf Anerkennung von Praxisbesonderheiten gestellt werden kann. Die regressablösende Individualvereinbarung könnte dann nur auf der zweiten Stufe, d.h. nach Festsetzung eines Regresses in Betracht kommen.
Eine derartige Interpretation widerspricht zur Überzeugung der Kammer jedoch fundamental dem Sinn und Zweck der Wirtschaftlichkeitsprüfung, insbesondere der Richtgrößenprüfung, der darin besteht, das Verordnungsverhalten der Ärzte einerseits zu begrenzen, andererseits aber auch zu steuern. Will man einen möglichst guten Steuerungseffekt herbeiführen, setzt dies ein möglichst frühzeitiges Eingreifen voraus.
Darüber hinaus bietet eine IRV eine Rechtssicherheit auf Seiten des Arztes, der damit seinen individuellen Verordnungsrahmen kennt und – aufgrund der beiderseitig notwendigen Willensübereinstimmung – auch akzeptiert.
§ 106 Abs. 5d Satz 1 SGB V a.F. setzt voraus, dass die individuelle Richtgröße einerseits eine wirtschaftliche Verordnungsweise, andererseits die Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten gewährleistet. Zudem hat eine IRV für den Vertragsarzt deutlich weitergehende Folgen als eine Beratung, weil sie den Vertragsarzt zukünftig an eine individuelle Richtgröße bindet und ihm im Falle der Überschreitung dieser Richtgröße die Möglichkeit nimmt, diese nachträglich in Zweifel zu ziehen; auch die nachträgliche Geltendmachung von Praxisbesonderheiten ist ausgeschlossen (BSG, Urteil vom 28. August 2013, B 6 KA 46/12 R m.w.N.). Auch zieht ein Verstoß gegen die individuelle Richtgröße härtere Sanktionen nach sich als eine Überschreitung der regulären Richtgrößen. Bei einer Überschreitung der individuellen Richtgröße ist der komplette Mehraufwand zu erstatten. Einen „Toleranzbereich" wie in § 106 Abs. 5a Satz 1 und 3 SGB V a.F. – mit einer erst bei einer Überschreitung von mehr als 25 v.H. eingreifenden Erstattungspflicht – gibt es insoweit nicht. Hinzu kommt, dass die Vereinbarung einer individuellen Richtgröße eine "Feinjustierung" der speziellen Situation der Arztpraxis beinhaltet, sodass es eines Toleranzbereiches wie bei der – vergröbernden – arztgruppenspezifischen Richtgröße nicht bedarf (BSG, Urteil vom 28. August 2013, B 6 KA 46/12 R). So kann zukünftigem Fehlverhalten wirksam vorgebeugt werden, indem durch die Vereinbarung einer individuellen Richtgröße – anstelle einer auf die Vergangenheit gerichteten Beratung oder Ausgleichspflicht – eine auf die Zukunft gerichtete Begrenzung des Verordnungsvolumens der Arztpraxis unter Berücksichtigung seiner Praxisstruktur gewährleistet wird (FraktE-GMG, BT-Drucks 15/1525 S 117 zu Nr 82 <§ 106> Buchst k).
Die Auffassung des Beklagten würde hingegen dazu führen, dass ein Arzt, der erstmalig im Rahmen der Richtgrößenprüfung auffällt, den Grenzwert von 25% überschreitet und eine Beratung erhält zunächst in einem weiteren Prüfzeitraum eine Überschreitung provozieren müsste, um überhaupt mit den Prüfgremien in ein Gespräch über eine individuelle Sondersituation kommen zu können. Dies widerspräche fundamental dem Zweck der Steuerung des Verordnungsverhaltens.
Selbstverständlich sind die Prüfgremien zum Abschluss einer regressablösenden Individualvereinbarung letztendlich nicht verpflichtet. Die Steuerungsfunktion der Wirtschaftlickeitsprüfung gebietet jedoch, dass sie sich – auf Antrag eines Arztes – mit diesem über eine individuelle Richtgröße austauschen, um so zukünftig weiteren Probleme im Verordnungsverhalten zu begegnen und dem Arzt auch eine Sicherheit über seine Grenzwerte zu vermitteln.
In diesem Sinne ist auch die Rechtsprechung des BSG zu verstehen, die ausführt:
„Die Kompetenz der Prüfgremien zum Abschluss einer IRV ist entgegen der Auffassung des LSG auch nicht – inhaltlich – derart eingeschränkt, dass eine individuelle Richtgröße nur dann vereinbart werden kann, solange es (überhaupt) noch nicht zur Festsetzung eines Regresses gekommen ist“ (Urteil vom 28. August 2013, B 6 KA 46/12 R).
Aus dieser Formulierung folgt im Umkehrschluss, dass eine individuelle Richtgröße auch dann vereinbart werden kann, solange es noch nicht zur Festsetzung eines Regresses gekommen ist. Diese Konstellation entspricht dem vorliegenden Fall.
Aus diesen Gründen musste die Klage Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Die endgültige Festsetzung des Streitwerts beruht § 197a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit §§ 63 Abs. 2 S. 1, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Danach ist unter anderem in Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend (§ 52 Abs. 3 GKG). Nur wenn der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte bietet, ist ein Streitwert von 5.000,00 € anzunehmen (§ 52 Abs. 2 GKG).
Ein solcher Fall liegt vor, weil materiell-rechtlich eine Beratung im Streit stand, deren wirtschaftlicher Wert nicht bestimmbar ist.