1. Aufwendungen für einen Stellplatz oder eine Garage sind als Bedarf für die Unterkunft und Heizung anzuerkennen, wenn Wohnung und Stellplatz Bestandteile eines einheitlichen Mietverhältnisses sind und die Gesamtmiete angemessen ist (BSG, Urteil vom 19.05.2021, B 14 AS 39/20 R).
2. Die Rechtsprechung des BSG, wonach die zeitliche Einschränkung des § 330 Abs. 1 Alt. 2 SGB III nicht gilt, wenn das Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X schon vor der Entstehung der ständigen Rechtsprechung in Gang gesetzt worden ist (Urteil vom 08.02.2007, B 7a AL 2/06 R), ist auf § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II übertragbar. Denn beide Vorschriften dienen der Gewährleistung von Rechtssicherheit unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse einer Massenverwaltung.
Das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 14.07.2023 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 08.07.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.10.2021 verurteilt, den Bescheid vom 20.10.2020 zurückzunehmen und den Klägerinnen und dem Kläger im Zeitraum vom 01.09.2019 bis 29.02.2020 weitere Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich insgesamt 45 € zu gewähren.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge.
Tatbestand
Die Klägerinnen und der Kläger begehren im Wege eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) höhere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 01.09.2019 bis 29.02.2020.
Die 1972 geborene Klägerin zu 1 lebte im streitgegenständlichen Zeitraum mit ihren 3 Kindern, der im Dezember 1997 geborenen Klägerin zu 2, dem im Juli 1999 geborenen Kläger zu 3 und der im Juni 2007 geborenen Klägerin zu 4 in der gemeinsamen Wohnung in der G1-Str. Die von der Vermieterin, der F1 S1 GmbH, geltend gemachte Miete belief sich im streitgegenständlichen Zeitraum auf monatlich 930,62 € (Grundmiete Wohnung: 838,23 € abzüglich Nachlassforderung 276,61 € zuzüglich Garagenzuschlag: 45 €; zuzüglich Betriebskostenvorauszahlungen 324 €; letztere unterteilt in: Warmnebenkostenvorauszahlung; 74,52 €, Kaltnebenkostenvorauszahlung: 249,48 €). Zum von der Klägerin zu 1 rechtskräftig geschiedenen Ehemann und Vater der Klägerinnen und Kläger zu 2 bis 4 besteht kein Kontakt. Die Klägerin zu 1 bezog ein schwankendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit für die Firma K1 sowie Kindergeld für den Kläger zu 3 und die Klägerin zu 4 jeweils in Höhe von monatlich 204 €.
Die Klägerinnen und der Kläger standen bereits seit längerem im Leistungsbezug nach dem SGB II. Zuletzt bewilligte der Beklagte diesen mit Bescheid vom 04.03.2019 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 06.03.2019, 10.04.2019, 30.04.2019, 10.05.2019 und 01.06.2019 vorläufig Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.03.2019 bis 31.08.2019.
Mit Bescheid vom 26.06.2019 verfügte der Beklagte eine Minderung des Anspruchs des Klägers zu 3 wegen eines Meldeversäumnisses in Höhe von 33,90 € monatlich (10 % des maßgebenden Regelbedarfs) für die Zeit vom 01.08.2019 bis 31.10.2019.
Mit Bescheid vom 10.07.2019 verfügte der Beklagte eine Minderung des Anspruchs der Klägerin zu 2 wegen eines Meldeversäumnisses in Höhe von 33,90 € monatlich (10 % des maßgebenden Regelbedarfs), ebenfalls für die Zeit vom 01.08.2019 bis 31.10.2019.
Auf deren Weiterbewilligungsantrag vom Juli 2019 hin bewilligte der Beklagte den Klägerinnen und dem Kläger mit Bescheid vom 22.08.2019 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 23.11.2019 und vom 09.12.2019, im Hinblick auf das schwankende Erwerbseinkommen vorläufig, Leistungen für die Zeit vom 01.09.2019 bis 29.02.2020, wobei der Beklagte im September 2019 bei den Kosten für Unterkunft und Heizung eine Gutschrift der Vermieterin in Höhe von 300,27 € berücksichtigte.
Mit Bescheid vom 09.09.2019 verfügte der Beklagte eine weitere Minderung des Anspruchs des Klägers zu 3 in Höhe von 33,90 € monatlich (10 % des maßgebenden Regelbedarfs) in der Zeit vom 01.10.2019 bis 31.12.2019 wegen eines Meldeversäumnisses.
Mit Bescheid vom 20.10.2020 entschied der Beklagte abschließend über den Anspruch der Klägerinnen und des Klägers für die Zeit vom 01.09.2019 bis 29.02.2020 und bewilligte Leistungen wie folgt:
September 2019 |
1.399,73 € |
Oktober 2019 |
1.666,19 € |
November 2019 |
1.733,90 € |
Dezember 2019 |
1.733,90 € |
Januar 2020 |
1.794,75 € |
Februar 2020 |
1.794,75 € |
Der Beklagte berücksichtigte dabei die Kosten der Unterkunft und Heizung in voller Höhe mit Ausnahme der monatlichen Garagenmiete von 45 €.
Am 29.12.2020 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerinnen und des Klägers gemäß § 44 SGB X die „Bescheide vom 22.08.2019 und 09.12.2019 zurückzunehmen und den Antragstellern Leistungen der Grundsicherung in gesetzlicher Höhe zu gewähren“. Es würden nicht die gesamten Kosten für die Unterkunft und Heizung berücksichtigt. Denn die Stellplatzkosten würden überhaupt keine Berücksichtigung finden.
Mit Bescheid vom 08.07.2021 lehnte der Beklagte den Antrag vom 29.12.2020 ab. Die benannten Bescheide für den Zeitraum 01.09.2019 bis 29.02.2020 seien nicht zu beanstanden. Es sei bei deren Erlass das Recht richtig angewandt sowie vom zutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden. Die Stellplatzkosten seien für den betreffenden Zeitraum auch weiterhin nicht bei den Unterkunftskosten zu berücksichtigen. Nach § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II könne ein bestandskräftiger Bescheid über Leistungen nach dem SGB II nachträglich zugunsten des Betroffenen nur für die Zeit ab Entstehen einer neuen ständigen Rechtsprechung zur streitigen Rechtsfrage geändert werden. Hier seien Leistungen für einen Zeitraum, der bei Ergehen des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.05.2021 (Az. B 14 AS 39/20 R) schon abgeschlossen gewesen sei, betroffen.
Den hiergegen eingelegten, mit der Rechtsprechung des BSG begründeten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27.10.2021 als unbegründet zurück. Das BSG habe zwar mit Urteil vom 19.05.2021 (a.a.O.) entschieden, dass Aufwendungen für einen Stellplatz oder eine Garage als Bedarf für Unterkunft und Heizung dann anzuerkennen seien, wenn Wohnung und Stellplatz Bestandteile eines einheitlichen Mietverhältnisses seien, eine Teilkündigung bezogen auf den Stellplatz nicht möglich und die Gesamtmiete angemessen sei. Die Frage, ob im Falle der Einhaltung der Angemessenheitsgrenze eine Obliegenheit zur Kostensenkung, zum Beispiel durch Untervermietung des Stellplatzes, bestehe, sei aber vor dem Urteil des BSG vom 19.05.2021 (a.a.O.) nicht bereits durch ständige Rechtsprechung beantwortet, sondern ungeklärt gewesen. Hätte bereits zuvor eine ständige Rechtsprechung des BSG zu diesen Fragen existiert, wäre es nicht zu so vielen divergierenden Entscheidungen der Senate des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg gekommen. Der Beklagte habe daher eine sachliche Prüfung der Bescheide aufgrund der durch § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II gesetzten zeitlichen Grenze ablehnen dürfen.
Hiergegen haben die Klägerinnen und der Kläger am 25.11.2021 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben, mit der sie ihr Begehren auf Übernahme der angefallenen Stellplatzkosten im streitgegenständlichen Zeitraum und Zurücknahme der entgegenstehenden bestandskräftigen Bescheide weiterverfolgt haben. Die zeitliche Grenze des § 40 Abs. 3 Nr. 2 SGB II stehe vorliegend nicht entgegen. Diesbezüglich verweise man auf das Urteil des BSG vom 08.02.2007 (B 7a AL 2/06 R) zum inhaltlich identischen § 330 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). Auch sei der Antrag gemäß § 44 SGB X trotz Benennung nur der vorläufigen Bescheide bestimmt genug gewesen. Zwar müsse ein Antrag gemäß § 44 SGB X hinreichend konkretisiert sein. Nach der Rechtsprechung des BSG müsse sich der Verwaltung aufgrund des Antrags objektiv erschließen lassen, aus welchem Grund eine Überprüfung erfolgen soll. Hierfür müsse aus dem Antrag selbst oder aufgrund konkreter Nachfrage der Umfang des Prüfauftrags für die Verwaltung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens erkennbar sein (BSG, Urteil vom 12.10.2016, B 4 AS 37/15 R). Nach der Rechtsprechung des BSG genüge es insoweit jedoch auch, wenn konkret in dem Antrag gemäß § 44 SGB X vorgetragen worden ist, für welchen Zeitraum die Überprüfung begehrt wird. Dieses gelte auch, wenn die nach Sicht des Antragstellers zu ändernden Bewilligungsbescheide nicht bezeichnet worden seien, aber ohne Weiteres ermittelbar für die Behörde wären. So verhalte es sich vorliegend
Der Beklagte hat mitgeteilt, dass die monatliche angemessene Nettokaltmiete für einen Vierpersonenhaushalt im verfahrensgegenständlichen Zeitraum 889,20 € (736,20 € Kaltmiete zuzügl. 153 € kalte Nebenkosten) betragen habe. Damit hätten sich die Kosten der klägerischen Unterkunft im verfahrensgegenständlichen Zeitraum auch unter Berücksichtigung von weiteren Garagenkosten in Höhe von 45 € innerhalb der Angemessenheitsgrenzen bewegt (811,12 € zuzügl. 45 €).
Mit Urteil vom 14.07.2023 hat das SG die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Es lasse sich dem Antrag vom 29.12.2020 noch mit hinreichender Klarheit entnehmen, welche Leistungen in welchem Leistungszeitraum und unter welchem Gesichtspunkt die Klägerinnen und der Kläger überprüfen lassen wollten. Damit sei der Antrag noch hinreichend bestimmt. Der Überprüfungsantrag vom 29.12.2020 sei also sachdienlich als Antrag auf Überprüfung des endgültigen Bewilligungsbescheids vom 20.10.2020 auszulegen gewesen. Allerdings stehe dem Begehren die Sperrwirkung des § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II entgegen. Dieser ordne an, dass ein bestandskräftiger, rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakt, für den die in § 44 Absatz 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme vorliegen, weil dieser auf einer Rechtsnorm beruhe, die in ständiger Rechtsprechung anders als durch den für die jeweilige Leistungsart zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgelegt worden ist, nur mit Wirkung ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen sei. Zwar stünden den Klägerinnen und dem Kläger nach dem Urteil des BSG vom 19.05.2021 (a.a.O.), anders als zuvor vom Beklagten angenommen, Grundsicherungsleistungen auch unter Berücksichtigung der Stellplatzkosten als Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II zu. Nach § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II seien aber vor dem 19.05.2021 liegende Zeiträume nur zu korrigieren, wenn noch keine Bestandskraft der Bewilligungsbescheide eingetreten sei, weil etwa ein Widerspruchs- oder Klageverfahren anhängig war. Der hier streitbefangene Zeitraum liege aber vor dem Entstehungsdatum der neuen Rechtsprechung des BSG und der entsprechende Bewilligungsbescheid vom 20.10.2020 sei bestandskräftig im Sinne des § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geworden. Soweit die Klägerinnen und der Kläger aus dem Urteil des BSG vom 08.02.2007 (a.a.O.) ableiten würden, es genüge, wenn der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X vor Entstehen der ständigen Rechtsprechung gestellt worden sei, folge dem das SG nicht. Die Argumentation des BSG zu § 330 Abs. 1 Alt. 2 SGB III sei nicht übertragbar, weil der Gesetzgeber mit § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II ausdrücklich die Rechtsprechung des BSG zu § 330 Abs. 1 SGB III für den Bereich des SGB II einschränken wollte. Dies sei auch aus systematischen Gründen gerechtfertigt, nicht zuletzt, weil es sich bei dem SGB II um steuerfinanzierte Leistungen handeln würde.
Gegen das ihnen am 24.07.2023 zugestellte Urteil haben die Klägerinnen und der Kläger am 25.07.2023 beim LSG Baden-Württemberg Berufung eingelegt und zu deren Begründung ihr bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft.
Sie beantragen (teilweise sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 14.07.2023 sowie den Bescheid vom 08.07.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.10.2021 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den bestandskräftigen Bescheid vom 20.10.2020 zurückzunehmen und ihnen höhere Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung der angefallenen Stellplatzkosten in Höhe von monatlich 45 € zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist zur Begründung seines Antrags auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil.
Mit Schriftsatz vom 20.09.2023 haben der Beklagte und mit Schriftsatz vom 04.10.2023 die Klägerinnen und der Kläger einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Prozessakten beider Instanzen sowie die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerinnen und des Klägers, über welche der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist nach §§ 143, 144 SGG statthaft. Denn das SG hat die Berufung zugelassen, woran der Senat gemäß § 144 Abs. 3 SGG gebunden ist. Eine solche Zulassung war notwendig, da das Urteil des SG die Klägerinnen und den Kläger um weniger als 750,01 € beschwert (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Diese begehren für den streitgegenständlichen Zeitraum von 6 Monaten um 45 € monatlich höhere Leistungen, insgesamt also 270 €. Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben.
Die Berufung ist auch begründet.
Gegenstand des Rechtsstreits ist das klagabweisende Urteil des SG über den Bescheid des Beklagten vom 08.07.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.10.2021. Mit diesen Bescheiden hat der Beklagte den Antrag auf Rücknahme des Bescheids vom 20.10.2020 und die Gewährung höherer Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung der angefallenen Stellplatzkosten in Höhe von monatlich 45 € für den Zeitraum vom 01.09.2019 bis 29.02.2020 abgelehnt. Zutreffende Klageart ist hier die Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage. Mit der erhobenen Anfechtungsklage begehren die Klägerinnen und der Kläger die Aufhebung der den Antrag auf Rücknahme ablehnenden Bescheide; mit der Verpflichtungsklage begehren sie die Verurteilung des Beklagten zur Rücknahme des Bescheids vom 20.10.2020 und die Gewährung höherer Leistungen im Zeitraum vom 01.09.2019 bis 29.02.2020.
Die Berufung ist erfolgreich, weil die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheids vom 20.10.2020 und die Gewährung höherer Leistungen nach dem SGB II im streitgegenständlichen Zeitraum vorliegen (1.) und § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II der Rücknahme nicht entgegensteht (2.).
1.
Rechtsgrundlage des klägerischen Begehrens auf Rücknahme des Bescheids vom 20.10.2020 ist § 44 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB II.
a.
Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X werden Leistungen längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme nachgezahlt. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag. Nach § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II beträgt die Frist nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X für Leistungsbescheide über Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II nur 1 Jahr anstelle von 4 Jahren.
Das SG hat in Anwendung dieser Vorschriften zutreffend ausgeführt, dass der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X – auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass sich dieser noch gegen die für den streitgegenständlichen Zeitraum ergangenen vorläufigen Bewilligungen gerichtet hat, obgleich für diesen Zeitraum in Gestalt des Bescheids vom 20.10.2020 bereits eine endgültige und die vorherigen vorläufigen Bewilligungen erledigende Entscheidung vorliegt – hinreichend bestimmt war und so rechtzeitig gestellt wurde, dass er auf den hier streitbefangenen Zeitraum vom 01.09.2019 bis 29.02.2020 zurückwirken kann. Der Senat macht sich insoweit die Ausführungen des SG in vollem Umfang zu eigen und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer eigenen Darstellung ab.
b.
Der nicht angefochtene und daher bestandskräftige (vergleiche § 77 SGG) Bescheid vom 20.10.2020 ist auch rechtswidrig. Der klägerischen Bedarfsgemeinschaft steht insgesamt ein um 45 € höherer monatlicher Anspruch im streitgegenständlichen Zeitraum zu.
aa)
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch sind die §§ 19 ff. in Verbindung mit §§ 7 ff. SGB II. Die Klägerinnen zu 1 und 2 und der Kläger zu 3 hatten im streitgegenständlichen Zeitraum das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, waren erwerbsfähig, hilfebedürftig und hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Sie bildeten, zusammen mit der Klägerin zu 4, die ebenfalls nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen ihren Lebensunterhalt sichern konnte, gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 SGB II eine Bedarfsgemeinschaft. Der Beklagte hat im Bescheid vom 20.10.2020 den Regelbedarf und den Mehrbedarf der Klägerinnen und des Klägers unter Berücksichtigung der jeweils bestandskräftig festgestellten Minderungen des Anspruchs der Klägerin zu 2 und des Klägers zu 3 in den Monaten September bis Dezember 2019 zutreffend festgestellt und in gleicher Weise zutreffend das anzurechnende Einkommen der Klägerin zu 1 aus Erwerbstätigkeit und das Einkommen des Klägers zu 3 und der Klägerin zu 4 aus Kindergeld bedarfsmindernd berücksichtigt. Dies wird von den Klägerinnen und dem Kläger auch nicht in Zweifel gezogen. Der Senat erweist insoweit in vollem Umfang auf die Begründung im Bescheid vom 20.10.2020 und die dortigen Darlegungen zur Bedarfsermittlung (§ 153 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 136 Abs. 3 SGG).
bb)
Dagegen ist der Beklagte im streitgegenständlichen Zeitraum von zu niedrigen Kosten für Unterkunft und Heizung ausgegangen, weil er die Miete für die Garage in Höhe von monatlich 45 € bei der Bedarfsermittlung unberücksichtigt gelassen hat. Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II umfassen das Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld neben dem Regelbedarf und dem Mehrbedarf auch den Bedarf für Unterkunft und Heizung. Die Kaltmiete im streitgegenständlichen Zeitraum belief sich auf monatlich 561,64 € (bzw. 261,36 € im September 2019 unter Berücksichtigung der Rückerstattung von überzahlten Nebenkostenvorauszahlungen), die kalten Nebenkosten auf monatlich 249,48 € und die Heizkosten auf monatlich 74,52 €. Der Beklagte hat diese Kosten im streitgegenständlichen Zeitraum auch in vollem Umfang berücksichtigt.
Zusätzlich fiel aber eine monatliche Tiefgaragenmiete von 45 € an, welche der Beklagte nicht berücksichtigt hat. Die unterbliebene Berücksichtigung der Garagenmiete war aber im Lichte der neueren Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 19.05.2021, a.a.O., juris) rechtswidrig. Danach sind Aufwendungen für einen Stellplatz oder eine Garage als Bedarf für die Unterkunft und Heizung anzuerkennen, wenn Wohnung und Stellplatz Bestandteile eines einheitlichen Mietverhältnisses sind und die Gesamtmiete angemessen ist. Eine Obliegenheit zur Kostensenkung, z.B. durch Untervermietung der Tiefgarage, besteht unter diesen Voraussetzungen nicht (BSG, a.a.O.). Nach dieser Rechtsprechung waren vorliegend die Kosten für die Garage als Bedarf für die Unterkunft und Heizung anzuerkennen, wovon im Übrigen auch die Beteiligten ausgehen.
Zum einen war die Wohnung ohne Tiefgarage nicht anmietbar. Entscheidend für die fehlende „Abtrennbarkeit“ ist im Sinne eines „Alles-oder-nichts“, ob es den Leistungsberechtigten möglich ist, ihren Wohnraumbedarf mietvertraglich zu decken, ohne zugleich zur Zahlung der Miete für einen Stellplatz verpflichtet zu sein (BSG, a.a.o.). Nach diesen Maßstäben fehlt es an einer Abtrennbarkeit, weil die Wohnung ohne den Tiefgaragenstellplatz nicht anmietbar ist und der Stellplatz auch nicht separat gekündigt werden kann. Vielmehr sind Wohnung und Tiefgaragenstellplatz Bestandteile eines einheitlichen Mietverhältnisses. Die Vereinbarung über den Tiefgaragenstellplatz ist nicht separat geschlossen worden. Der Mietvertrag zwischen der Klägerin zu 1 und der F1 S1 GmbH sieht den Tiefgaragenstellplatz Nr. 7 als zwingenden Bestandteil des Mietverhältnisses vor (vergleiche § 1 Abs. 1 des Mietvertrags in Verbindung mit der „Wohnungsbeschreibung“ als Anlage des Mietvertrags) und weist die Tiefgaragenmiete als integralen Bestandteil der Wohnungsmiete aus. Eine Möglichkeit zur Teilkündigung bezogen auf den Tiefgaragenstellplatz ist im Mietvertrag nicht vorgesehen. Vielmehr ist mietvertraglich selbst eine Untervermietung des Tiefgaragenstellplatzes bis zur Grenze des § 553 BGB (BGB) ausgeschlossen (§ 7 Abs. 4 des Mietvertrags).
Die weitere, vom BSG (a.a.O.) aufgestellte Voraussetzung für die Übernahmefähigkeit der Tiefgaragenstellplatzmiete im Rahmen des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II liegt ebenfalls vor, weil der Mietpreis sich bei fehlender Abtrennbarkeit der Garagenmiete insgesamt innerhalb des Rahmens der Angemessenheit für den maßgeblichen Wohnort hält. Dies räumt auch der Beklagte ein. Die angemessene Bruttokaltmiete für einen Vierpersonenhaushalt betrug im verfahrensgegenständlichen Zeitraum 889,20 €. Damit hätten sich die Kosten der Unterkunft im verfahrensgegenständlichen Zeitraum auch unter Berücksichtigung von weiteren Garagenkosten in Höhe von 45,00 € innerhalb der Angemessenheitsgrenzen bewegt (811,12 € Bruttokaltmiete + 45 € = 856,12 €).
Ein Bemühen der Klägerinnen und des Klägers um Senkung der Unterkunftskosten im Hinblick auf die Tiefgaragenmiete, insbesondere durch eine (mietvertraglich ausgeschlossen) Untervermietung des Tiefgaragenstellplatzes stellt dagegen keine weitere Voraussetzung für die Anerkennung der Tiefgaragenmiete als Bedarf für die Unterkunft dar. Denn für eine hierauf gestützte teilweise Ablehnung von Leistungen fehlt es an einer Rechtsgrundlage; insbesondere ist § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II nicht einschlägig, da Voraussetzung hierfür die Überschreitung der Angemessenheitsgrenze ist (BSG, a.a.O.).
cc)
Damit hat der Beklagte mit Bescheid vom 20.10.2020 der klägerischen Bedarfsgemeinschaft im streitgegenständlichen Zeitraum rechtswidrig zu niedrige Leistungen bewilligt. Den Klägerinnen und dem Kläger standen im streitgegenständlichen Zeitraum monatlich jeweils um insgesamt 45 € höhere Leistungen zu. Es errechnet sich demnach nachfolgender monatlicher Anspruch der Klägerinnen und des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum:
|
Anspruch |
Tatsächlich bewilligt |
September 2019 |
1.444,73 € |
1.399,73 € |
Oktober 2019 |
1.711,19 € |
1.666,19 € |
November 2019 |
1.778,90 € |
1.733,90 € |
Dezember 2019 |
1.778,90 € |
1.733,90 € |
Januar 2020 |
1.839,75 € |
1.794,75 € |
Februar 2020 |
1.839,75 € |
1.794,75 € |
2.
Entgegen der Auffassung des SG und des Beklagten steht § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II im vorliegenden Fall einer Rücknahme des rechtswidrigen, weil fehlerhaft zu wenig Leistungen nach dem SGB II gewährenden Bewilligungsbescheids vom 20.10.2020 und der Gewährung höhere Leistungen nicht entgegen.
a.
§ 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II ordnet an, dass ein bestandskräftiger, rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, für den die in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme vorliegen, weil dieser auf einer Rechtsnorm beruht, die in ständiger Rechtsprechung anders als durch den für die jeweilige Leistungsart zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgelegt worden ist, nur mit Wirkung ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen ist. Die Norm modifiziert demnach die Rechtsfolgen des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X unter den weiteren dort genannten Voraussetzungen. Der Verwaltungsakt ist in diesen Fällen nicht mit Wirkung für die Vergangenheit, d.h. vorbehaltlich § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB II rückwirkend beispielsweise ab Beantragung der zu Unrecht abgelehnten Leistungen, sondern nur mit Wirkung für die Zeit ab Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen.
b.
Unabhängig davon, ob § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II vorliegend überhaupt einschlägig ist (insbesondere, ob eine von der ständigen Rechtsprechung abweichende Auslegung in ständiger Verwaltungspraxis im Zuständigkeitsbereich des Beklagten bestanden hat), kann er bereits deshalb einer Korrektur des Bescheids vom 20.10.2020 mit Wirkung für die Vergangenheit nicht entgegenstehen, weil das Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X, welches diesen Bescheid zum Gegenstand hatte, schon vor Entstehung der ständigen Rechtsprechung mit dem Urteil des BSG vom 19.05.2021 in Gang gesetzt worden ist. Denn die Rechtsprechung des BSG, wonach die Einschränkung des inhaltsgleichen § 330 Abs. 1 Alt. 2 SGB III dann nicht gilt, wenn der Antrag im Zugunstenverfahren vor diesem Zeitpunkt gestellt worden ist (vergleiche hierzu aa), findet entsprechend auch bei § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II Anwendung (vergleiche hierzu bb).
aa)
§ 330 Abs. 1 Alt. 2 SGB III sieht (wie § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II, der § 330 Abs. 1 SGB II nachgebildet worden ist) vor, dass ein Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur mit Wirkung für die Zeit nach dem Entstehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen ist, wenn die in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vorliegen, weil er auf einer Rechtsnorm beruht, die in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist. Diese zeitliche Einschränkung gilt aber nach der Rechtsprechung des BSG dann nicht, wenn das Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X schon vor der Entstehung der ständigen Rechtsprechung in Gang gesetzt worden ist (BSG, Urteil vom 08.02.2007, a.a.O.). Das BSG hat diese Rechtsprechung damit begründet, die Norm diene ausweislich der Gesetzesbegründung ausschließlich den Interessen der Agentur für Arbeit. Diese soll damit von einer massenhaft rückwirkenden Korrektur von Verwaltungsakten entlastet werden. Dies sei nach Auffassung des BSG (a.a.O.) zwar verfassungsrechtlich unbedenklich, gebiete aber wegen der „sozialpolitisch zweifelhaften Zielsetzung“ eine enge Auslegung der Norm. Jedenfalls wenn ein Betroffener bereits vor dem Entstehen der ständigen Rechtsprechung einen Antrag nach § 44 SGB X gestellt hat, darf er deshalb nach dieser Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, nicht schlechter gestellt werden als derjenige, der eine ständige Rechtsprechung im Sinne von § 330 Abs. 1 SGB III herbeigeführt hat und den Beschränkungen des § 330 Abs. 1 SGB III noch nicht unterworfen ist. Denn § 330 Abs. 1 Alt. 2 SGB III soll nur verhindern, dass so genannte „Trittbrettfahrer“ von den Entscheidungen des BSG profitieren (BSG, a.a.O.).
bb)
Diese Rechtsprechung des BSG zur § 330 Abs. 1 SGB III lässt sich ohne weiteres auch auf § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II übertragen. Hierfür sprechen neben dem in den wesentlichen Punkten identischen Wortlaut auch die bei § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II in gleicher Weise einschlägigen Überlegungen, welche das BSG zu der restriktiven Auslegung von § 330 Abs. 1 SGB III veranlasst haben. § 40 Abs. 3 SGB II dient ebenso wie § 330 Abs. 1 SGB III vornehmlich der Gewährleistung von Rechtssicherheit unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse einer Massenverwaltung (BT-Drs. 18/8041, S. 48; vergleiche auch Aubel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., Stand: 07.02.2023, § 40 Rn. 126 m.w.N., auch zum Nachfolgenden). Eine Grundsatzentscheidung des BSG soll nicht dazu führen, dass im Anschluss eine unübersehbare Vielzahl von in der Vergangenheit erlassenen Leistungsbescheiden korrigiert werden muss. Auch soll verhindert werden, dass so genannte „Trittbrettfahrer“ von den Entscheidungen des BSG profitieren. Zugleich wird der Grundsicherungsträger von der Verpflichtung befreit, von Amts wegen, soweit die Rücknahme nicht ohnehin nach § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen ist, neue Leistungsbescheide zu erlassen. Aufgrund der kongruenten Zielsetzung hat der Gesetzgeber in der bis zum 31.07.2016 geltenden Fassung des § 40 SGB II auch auf eine eigenständige Regelung verzichtet und stattdessen die entsprechende Anwendbarkeit des § 330 Abs. 1 SGB III normiert (§ 40 Abs. 2 Nr. 3 in der bis zum 31.07.2016 geltenden Fassung).
Mit der eigenständigen Regelung in § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II ab 01.08.2016 wollte der Gesetzgeber der als misslich empfundenen Rechtsprechung des BSG im Bereich des SGB II entgegentreten, wonach der Anwendungsbereich der Vorschrift für die Leistungsbereiche auch der kommunalen Träger nur insoweit eröffnet sein sollte, als eine bundeseinheitliche Verwaltungspraxis bestand (BSG, Urteil vom 15.12.2010, B 14 AS 61/09 R, juris). Durch diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich der Vorschrift erheblich eingeschränkt erachtet (BT-Drs. 18/8041, S. 48). Denn es müsse danach in jedem einzelnen Streitfall nachgewiesen werden, dass die jeweilige Verwaltungspraxis auch von den zugelassenen kommunalen Trägern angewendet werde. Da ein entsprechender Nachweis im Hinblick auf die Vielzahl der vorhandenen Träger kaum möglich sei, entfalte die Vorschrift faktisch keine Wirkung (BT-Drs. 18/8041, S. 48 f.; vergleiche hierzu im Einzelnen auch Aubel, a.a.O., § 40 Rn. 128). Durch den neuen § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II in der ab 01.08.2016 geltenden Fassung sollte erreicht werden, dass künftig bei der Prüfung, ob die bisherige Auslegung einer Rechtsnorm von der ständigen Rechtsprechung abweicht, auf die Verwaltungspraxis der jeweiligen Leistungsträger (Bundesagentur für Arbeit, kommunaler Träger, zugelassener kommunaler Träger) in ihrem Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich abgestellt wird (vergleiche BT-Drs. 18/8041, S. 48). Eine eventuelle abweichende gängige Verwaltungspraxis anderer Leistungsträger in anderen Zuständigkeits- und Verantwortungsbereichen soll danach keinen Einfluss auf die Anwendbarkeit der neuen Vorschrift haben.
Es gibt aber keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber zugleich die zu § 330 Abs. 1 Alt. 2 SGB III entwickelte Rechtsprechung über die zeitliche Einschränkung, soweit Überprüfungsverfahren bereits vor Entstehung der ständigen Rechtsprechung in Gang gesetzt worden sind, einschränken wollte (Aubel, a.a.O., § 40 Rn. 142; Löcken in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2021, § 40 Rn. 96). Vielmehr hat der Gesetzgeber in Kenntnis dieser Rechtsprechung des BSG von einer Neuregelung des Inhalts, dass auch bereits vor der Entwicklung einer ständigen Rechtsprechung gestellte Überprüfungsanträge gemäß § 44 SGB X den Beschränkungen des § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II unterworfen sein sollen, abgesehen. Er hat sich stattdessen ausweislich des Wortlauts der Neuregelung und auch der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/8041, S. 48) ausdrücklich auf die „Korrektur“ der Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 15.12.2010 (a.a.O.) beschränkt. Dies verkennt das SG in seiner Entscheidung. Eine abweichende Auslegung kann daher auch nicht auf den Aspekt gestützt werden, dass es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um steuerfinanzierte Leistungen handelt, bei denen das SG von einem stärkeren Vorrang des Gedankens der Rechtssicherheit vor dem Interesse des Einzelnen an der Herstellung der materiell richtigen Rechtslage ausgeht. Ohnedies beschränkt § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für den Bereich des SGB II die Rücknahme und die rückwirkende Erbringung von Leistungen auf ein Jahr und trägt damit dem Umstand Rechnung, dass die steuerfinanzierten Leistungen des SGB II der Sicherung des Lebensunterhalts dienen und dabei in besonderem Maße die Deckung gegenwärtiger Bedarfe bewirken sollen.
c.
Die Klägerinnen und der Kläger haben am 29.12.2020, d. h. innerhalb der Jahresfrist der §§ 44 Abs. 4 Satz 1 und Satz 3 SGB X, 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, und deutlich vor dem Urteil des BSG vom 19.05.2021 das Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X eingeleitet, weshalb ihrem Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 20.10.2020 und Gewährung höherer Leistungen für den streitgegenständlich in Zeitraum weder die modifizierte Rückwirkungssperre des § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II noch diejenige des § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II entgegengehalten werden kann.
3.
Somit haben die Klägerinnen und der Kläger im Wege des Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X einen Anspruch auf um 45 € monatlich höhere Leistungen nach dem SGB II im Zeitraum vom 01.09.2019 bis 29.02.2020. Auf deren Berufung hin war daher das Urteil des SG aufzuheben und der Beklagte unter Aufhebung seiner entgegenstehenden Bescheide zu verpflichten, den Bescheid vom 20.10.2020 zurückzunehmen und der klägerischen Bedarfsgemeinschaft im streitgegenständlichen Zeitraum weitere 45 € monatlich zu gewähren.
4.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
5.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.