L 12 U 450/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 735/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 U 450/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Zu den Kriterien für die Auslegung eines Verwaltungsakts (hier sogenannter Abschmelzungsbescheid).
2. Die „Abschmelzung“ gemäß § 48 Abs. 3 SGB X setzt verfahrensmäßig eine konstitutive Feststellung der Rechtswidrigkeit des Ursprungsbescheids voraus (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 6/12 R).
3. Zur Berücksichtigung einer psychischen Störung als Unfallfolge ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erforderlich, damit die Feststellung nachvollziehbar ist.
4. Zu den Voraussetzungen für die Feststellung einer PTBS

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 13.01.2022 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 23.06.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 11.02.2021 abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen den Bescheid vom 23.06.2020, mit welchem die Beklagte entschieden hat, die der Klägerin gewährte Verletztenrente von Rentenanpassungen auszusparen und Behandlungskosten sowie sonstige Leistungen hinsichtlich der psychischen Erkrankung der Klägerin nicht mehr zu übernehmen.

Die 1968 geborene Klägerin erlitt am 14.04.2011 auf dem Weg zur Arbeit als Beschäftigte in der Z1 einen Verkehrsunfall, als sie mit ihrem Pkw frontal mit einem anderen Auto zusammenstieß. Die Erstbehandlung erfolgte im Kreiskrankenhaus R1 durch den K1, der als Erstdiagnose eine Trimalleoloarfraktur des oberen Sprunggelenks (OSG) rechts bei fehlenden äußeren Verletzungszeichen und fehlender Commotio-Symptomatik feststellte (vgl. Durchgangsarztbericht vom 14.04.2011, Verwaltungsakte Band 1 Seite 1). Unter den Diagnosen „Bimalleoläre Luxationsfraktur des rechten Sprunggelenks, Patellalängsfraktur rechts, Gurtprellung thorakal, Handprellung rechts, Nasenprellung, posttraumatisches Belastungssyndrom“ bzw. „psychogener Unfallschock“ erfolgte im Rahmen einer anschließenden stationären Behandlung eine offene Reposition und Schraubenosteosynthese der Sprunggelenksfraktur. Eine zum Ausschluss intrakranieller Verletzungen durchgeführte kernspintomografische Untersuchung des Schädels ergab keine Auffälligkeiten (Entlassungsbericht des Kreiskrankenhauses R1 vom 26.04.2011). Der E1 diagnostizierte einen psychogenen Unfallschock mit nachfolgenden Konzentrationsschwächen (Bericht vom 27.04.2011). Der H1 diagnostizierte als Gesundheitsstörung ein Tarsaltunnelsyndrom rechts und äußerte den Verdacht auf eine leichte depressive Episode (Arztbrief vom 13.07.2011). Im September 2011 berichtete H1 über die Wiedereingliederung der Klägerin als Bürokraft mit aktuell 6 Stunden arbeitstäglich. Die Klägerin habe den Unfall als sehr dramatisch erlebt und leide unter Konzentrationsstörungen. Bezüglich der psychischen Symptomatik gehe er davon aus, dass sich die augenblicklich noch bestehenden Ängste in der nächsten Zeit eigentlich bessern müssten.

Bereits im Juni 2011 erfolgte im Kreiskrankenhaus R1 die Entfernung einer Stellschraube. Bei überdauernden Beschwerden am rechten oberen Sprunggelenk erfolgte in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L1 (BG-Klinik) im Oktober 2011 eine erneute Operation (Osteotomie/Osteosynthese, vgl. Entlassungsbericht vom 08.11.2011). Vom 05.01. bis zum 09.02.2012 schloss sich unter den Diagnosen „Bewegungs- und Belastungsdefizit des rechten Beines, spezifische phobische Störung mit Fahrphobie“ eine 5-wöchige berufsgenossenschaftliche stationäre Weiterbehandlung in der BG-Klinik an (vgl. Entlassungsbericht vom 10.02.2012). In seinem Zwischenbericht vom 03.02.2012 diagnostizierte der H2 eine spezifische phobische Störung und führte unter anderem aus, in der Beschwerdeschilderung der Klägerin gebe es neben der einfühlbaren phobischen Komponente „doch auch Verdeutlichungs- respektive Katastrophisierungstendenzen“. Nach dem Bericht der R2, BG-Klinik, vom Februar 2012 gelang eine Reduzierung der psychischen Belastungssymptome in Form von posttraumatischen Belastungssymptomen; ebenso ein Abbau der Fahrangst durch gezieltes Fahrtraining. Die Klägerin sei wieder in der Lage, selbst Auto zu fahren. Auch H1 berichtete am 15.02.2012 über eine deutliche Besserung im psychiatrischen und neurologischen Befund.

Nach Einleitung einer (erneuten) Arbeits- und Belastungserprobung trat Arbeitsfähigkeit Mitte April 2012 zunächst wieder ein. Ab dem 02.05.2012 war die Klägerin jedoch erneut arbeitsunfähig.

Unter den Einweisungsdiagnosen „Posttraumatische Belastungsstörung bei Zustand nach Verkehrsunfall, Panikstörung“ erfolgte in der Zeit vom 30.10.2012 bis zum 18.12.2012 eine stationäre Behandlung der Klägerin in der M1 B1 Klinik, K2. Der Entlassungsbericht beschreibt beide Bereiche als nur marginal gebessert.

Zur Feststellung von Art und Ausmaß der Unfallfolgen holte die Beklagte medizinische Gutachten
auf neurologischem, psychiatrischem und unfallchirurgischem Fachgebiet ein. Während der S1 in seinem Gutachten vom 31.08.2013 auf neurologischem Fachgebiet keine Unfallfolgen festzustellen vermochte, diagnostizierte er in einem weiteren Gutachten vom 01.09.2013 auf psychiatrischem Fachgebiet eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und eine Panikstörung als Unfallfolgen. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte S1 ab dem 01.05.2013 auf 40 v.H., ab dem 16.11.2013 auf 30 v.H. sowie ab dem 16.05.2014 auf 20 v.H. Auf unfallchirurgischem Fachgebiet ging K1 in seinem Gutachten vom 05.07.2013 von folgenden wesentlichen Unfallfolgen aus: Funktionelle Restbeschwerden bei Zustand nach OSG-Luxationsfraktur rechts und Patellalängsfraktur rechts, chronischer Schmerzzustand, diskret eingeschränkte Beweglichkeit des rechten OSG. Die MdE hierfür bewertete er mit weniger als 10 v.H. Führend sei die PTBS. Die Gesamt-MdE sei daher wie im psychiatrischen Gutachten festzusetzen (vgl. ergänzende Stellungnahme vom 05.01.2014).

Die die Klägerin behandelnde B2 berichtete in ihrem Verlaufsbericht vom April 2014 über die „äußerst instabile äußere Situation der Klägerin (schwierige finanzielle Situation, offene Gerichtsverhandlung, Schwierigkeiten in der Kommunikation mit Unfallkasse und Krankenkasse, Überforderung der Wiedereingliederung)“. Es sei nicht zu erwarten, dass sich die psychische Befindlichkeit der Klägerin vor einer Klärung der aktuell vorherrschenden Probleme deutlich verbessern werde.

Mit Bescheid vom 12.06.2014 gewährte die Beklagte der Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.04.2011 Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 40 v.H. ab dem 01.05.2013, um 30 v.H. ab dem 16.11.2013 und um 20 v.H. ab dem 16.05.2014. Als Unfallfolgen anerkannte sie: „Eingeschränkte Beweglichkeit des oberen Sprunggelenkes rechts, chronischer Schmerzzustand, funktionelle Restbeschwerden nach Patellalängsfraktur rechts, funktionelle Restbeschwerden nach bimalleolärer OSG-Luxationsfraktur rechts mit Ausriss des hinteren Volkmann-Dreiecks, PTBS und Panikstörung als Zustand nach Verkehrsunfall“.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, worauf die Beklagte das Gutachten des L2, , vom Mai 2014 („keine Hinweise auf depressive Verstimmung“) für das Sozialgericht Karlsruhe (SG) im Verfahren wegen Zuerkennung einer Erwerbsminderungsrente (S 11 R 3144/13) und den ausführlichen Krankheitsbericht des G1, BG-Klinik, vom August 2014 („aus unfallchirurgischer Sicht ist jedoch aufgrund der guten Sprunggelenksbeweglichkeit nicht nachvollziehbar, warum die Versicherte hier keine vollschichtige Arbeitsfähigkeit erreicht“) beizog. Zu den Akten gelangte ferner der Bericht über die Heilverfahrenskontrolle
der R2 vom September 2014 mit den Diagnosen einer chronifizierten PTBS, einer Panikstörung, einer generalisierten Angststörung und einer mittelgradigen depressiven Episode.

Die Beklagte veranlasste daraufhin neuerlich Begutachtungen der Klägerin auf unfallchirurgischem sowie neurologischem und psychiatrischem Fachgebiet. Der S2, Klinikum M2 B3, sah keine Veränderung gegenüber dem bisherigen Zustand und empfahl in seinem Gutachten vom 01.02.2015 auf seinem Fachgebiet eine MdE um 10 v.H. S1 verneinte im Gutachten vom 08.02.2015 weiterhin eine unfallbedingte MdE auf neurologischem Fachgebiet; Unfallfolgen lägen insoweit nicht vor. Auf psychiatrischem Fachgebiet leide die Klägerin unfallbedingt an einer PTBS und Panikattacken, die zu einer Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und einer Minderung der psychischen Belastbarkeit führen würden. Die hierdurch bedingte MdE bewertete er zum Untersuchungszeitpunkt (24.10.2014) um 20 v. H. Die von ihm weiterhin diagnostizierten mittelgradige depressive Episode und Angststörung seien dagegen nicht auf das Unfallereignis selbst zurückzuführen, sondern im Rahmen der aktuellen schwierigen sozialen und finanziellen Belastungen zu sehen. Es sei belegt, dass 2012 eine Besserung der Symptomatik hinsichtlich der PTBS eingetreten sei; die mit einer längeren zeitlichen Latenz nach dem Unfall aufgetretenen Ängste und die depressive Episode seien nicht unfallbedingt.

Gestützt auf diese Gutachten und auf ergänzende Stellungnahmen des S2 zur Höhe der Gesamt-MdE half die Beklagte dem Widerspruch mit Teilabhilfebescheid vom 04.08.2015 teilweise ab und gewährte der Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.04.2011 ab dem 01.05.2013 Verletztenrente nach einer MdE von 40 v.H. und ab dem 25.10.2014 eine solche von 30 v.H. Die Unfallfolgen stellte sie nunmehr wie folgt fest: „Eingeschränkte Beweglichkeit des oberen Sprunggelenkes rechts, chronischer Schmerzzustand, funktionelle Restbeschwerden nach Patellalängsfraktur rechts, funktionelle Restbeschwerden nach bimalleolärer OSG-Luxationsfraktur rechts mit Ausriss des hinteren Volkmann-Dreiecks, posttraumatische oberen Sprunggelenksarthrose, posttraumatische Belastungsstörung und Panikstörung als Zustand nach Verkehrsunfall“.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.12.2015 wies die Beklagte den weitergehenden Widerspruch zurück. Im nachfolgenden Klageverfahren vor dem SG (S 15 U 253/16) erstattete die W1 von Amts wegen im November 2016 ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten. Sie diagnostizierte als Gesundheitsstörungen eine Agoraphobie mit Panikstörung, einen Verdacht auf rezidivierende Depressionen, eine mögliche PTBS und eine unklare Sensibilitätsstörung am linken Fuß. Keine dieser Gesundheitsstörungen sei mit ausreichender Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 14.04.2011 zurückzuführen. So entspreche der Verlauf der Gesundheitsstörungen nicht dem aus psychiatrischer Sicht zu Erwartenden; die Darstellungsweise der Klägerin lege auch eine Aggravation nahe, was eine klare ursächliche Zuordnung unmöglich mache. Möglicherweise hätten auch andere Lebensumstände zu den Gesundheitsstörungen geführt. Die von S1 diagnostizierte PTBS und Panikstörung seien nicht klar nachvollziehbar.

Zu dem Gutachten von W1 legte E1 eine kritische Stellungnahme vom März 2017 vor.
Der zeitliche Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Beginn der Beschwerden spreche dafür, dass dem Unfall zumindest die Bedeutung einer richtungsgebenden Verschlechterung eines latent vorbestehenden Leidens („schwierige Kindheit“) zukomme.

Die Klägerin nahm ihre Klage zu dem Aktenzeichen S 15 U 253/16 später zurück.

Die Beklagte holte im Hinblick auf die Ergebnisse der Beweisaufnahme vor dem SG eine Stellungnahme der F1 ein. F1 führte in ihrer Stellungnahme vom 21.08.2017 aus, die Eingangskriterien einer PTBS seien nicht erfüllt: Weder sei die Klägerin mit einer lang anhaltenden Todesgefahr noch mit einem lang anhaltenden Zustand von Ohnmacht und Hilflosigkeit konfrontiert gewesen. Sämtliche weiteren von ihr geklagten Symptomverschlechterungen seien den Änderungen ihres Sozialstatus zugeordnet, z.B. dem Auslaufen der Zahlung von Verletztengeld, der Einschätzung einer vollschichtigen Arbeitsfähigkeit durch den Amtsarzt bzw. das Jobcenter, der Ablehnung einer Erwerbsminderungsrente durch den Rentenversicherungsträger usw. Jedenfalls 3 Jahre nach dem Unfallereignis, im April 2014, sei von einer Verschiebung der Wesensgrundlage der psychischen Erkrankung in Richtung ereignisunabhängiger Faktoren der Krankheitsunterhaltung und -chronifizierung auszugehen. Nur bis April 2014 sei als Unfallfolge eine depressiv-ängstliche Anpassungsstörung anzuerkennen.

Daraufhin hob die Beklagte mit Bescheid vom 07.12.2017 den Teilabhilfebescheid vom 04.08.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2015 mit der Begründung auf, sie habe zu Unrecht eine PTBS und eine Panikstörung als Folgen des Unfallereignisses vom 14.04.2011 anerkannt. Eine rentenberechtigende MdE liege deshalb nicht vor. Da sie die vorgenannten Bescheide wegen Zeitablaufs nicht mehr zurücknehmen könne, bleibe über den 16.05.2014 hinaus der Anspruch auf Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H. bestehen. Allerdings sei die Höhe der aktuell gewährten Verletztenrente von künftigen Rentenanpassungen ausgenommen. Der dagegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 22.08.2018).

Deswegen erhob die Klägerin erneut Klage zum SG, welche unter dem Aktenzeichen S 1 U 3009/18 anhängig war. Im Rahmen dieses Klageverfahrens holte das SG bei dem W2 ein medizinisches Sachverständigengutachten ein. W2 verneinte in seinem Gutachten vom 18.04.2019 eine PTBS wie auch eine Panikstörung. Bei der Klägerin liege vielmehr eine durchgehende depressive Episode sowie eine spezifische Phobie, beides unfallbedingt, vor. Der von E1 wenige Tage nach dem Unfallereignis beschriebene psychogene Unfallschock sei im Sinne einer akuten Belastungsreaktion zu werten. Eine PTBS habe nach den aktenkundigen Befunden jedenfalls nicht im Vollbild vorgelegen. Anstatt mit der Klägerin weiter an ihrer Fahrphobie zu arbeiten, habe man sie im Rahmen der weiteren psychotherapeutischen Behandlung immer wieder aufs Neue mit dem Unfallereignis selbst konfrontiert. Dies habe in zunehmendem Maße zu einer Verstärkung der Depressivität und der Fahrphobie geführt. Einen weiteren negativen Faktor stelle auch die zunehmende finanzielle Unsicherheit der Klägerin nach der Scheidung von ihrem 2. Ehemann dar. Aus seiner Sicht sei die derzeitige Symptomatik im Sinne einer mittelgradigen depressiven Episode und einer spezifischen Fahrphobie weiterhin auf das Unfallereignis vom April 2011 zurückzuführen. Die unfallbedingte MdE bewertete er – unter Einschluss einer Teil-MdE um 10 v.H. auf chirurgischen Fachgebiet – mit 40 v.H.

Am Ergebnis seines Gutachtens hielt W2 in einer ergänzenden Stellungnahme vom Oktober 2019 auch in Kenntnis der vom Beklagten veranlassten beratungsärztlichen Stellungnahme des M3 fest.

Mit Urteil vom 27.02.2020 hob das SG den Bescheid vom 07.12.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.08.2018 auf. Der Bescheid sei bereits formell rechtswidrig. Denn die Beklagte habe mit diesem Bescheid allein den Teil-Abhilfebescheid vom 04.08.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2015 aufgehoben. Eine Aufhebung (auch) des Bescheids vom 12.06.2014 sei hingegen nicht erfolgt. Bereits durch den Bescheid vom 12.06.2014 habe die Beklagte indes eine PTBS und eine Panikstörung als Unfallfolgen anerkannt und bei der Bewertung der unfallbedingten MdE mitberücksichtigt. Dieser Bescheid sei daher bestandskräftig geworden und weiterhin wirksam. Der Bescheid vom 07.12.2017 sei auch materiell rechtswidrig. Denn die Klägerin habe wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.04.2011 über den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids vom 07.12.2017 hinaus Anspruch auf Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H., ohne dass die Beklagte berechtigt gewesen sei, die Rentenhöhe von künftigen Rentenanpassungen auszunehmen. Für diese Überzeugung stütze man sich auf die Darlegungen des Sachverständigen W2.

Die von der Beklagten gegen das Urteil erhobene Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Würt­tem­berg (dortiges Aktenzeichen L 3 U 952/20) nahm die Beklagte wieder zurück. Nach vorheriger Anhörung verfügte die Beklagte mit Bescheid vom 23.06.2020 wie folgt:

„Der Bescheid über die Rente auf unbestimmte Zeit vom 12.06.2014 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 04.08.2015 sowie des Bescheides über Rente auf unbestimmte Zeit in Ausführung des Teilabhilfebescheides vom 04.08.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2015 sind rechtswidrig und werden gemäß § 45 Sozialgesetzbuch (SGB) X i.V.m. § 48 SGB X teilweise aufgehoben. Da die rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakte gem. § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden können, wird der auf einer zu Unrecht anerkannten MdE von 30 v.H. beruhende Zahlbetrag i.H.v. 648,01 Euro gem. § 48 Abs. 3 SGB X festgeschrieben, d.h. jährliche Rentenanpassungen ab dem 01.07.2020 sind ausgeschlossen. Behandlungskosten oder sonstige Leistungen hinsichtlich der psychischen Erkrankungen werden seitens der UVB nicht mehr übernommen.“

In der Begründung wurde ausgeführt, dem Gutachten der W1 folgend hätten sowohl die PTBS als auch die Panikstörung nicht als Folgen des Arbeitsunfalls anerkannt werden und somit auch nicht in die MdE-Bewertung mit einfließen dürfen. Da demnach keine dauerhaft verbliebene psychische und MdE-relevante Unfallfolge mehr vorliege, sei der Bescheid rechtswidrig.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.02.2021 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 11.03.2021 Klage beim SG erhoben, mit der sie, wie bereits im Widerspruchsverfahren, die Aufhebung des Bescheids vom 23.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.02.2021 begehrt hat.

Mit Urteil vom 13.01.2022 hat das SG den Bescheid vom 23.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.02.2021 aufgehoben. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) würden nicht vorliegen. Denn die Klägerin habe weiterhin Anspruch auf Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H., wofür sich das SG, wie bereits in der Entscheidung vom 27.02.2020, auf die Darlegungen des Sachverständigen W2 gestützt hat. Danach liege bei der Klägerin zwar weder eine PTBS noch eine Panikstörung vor. Sie leide aber unfallbedingt an einer mittelgradig ausgeprägten depressiven Störung und einer speziellen Phobie in Bezug auf das Führen eines Kraftfahrzeugs. Wegen dieser psychischen Unfallfolgen habe die Klägerin auch weiterhin Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H. Daher sei auch die in den angegriffenen Bescheiden getroffene Entscheidung der Beklagten, Behandlungskosten hinsichtlich der psychischen Erkrankung nicht mehr zu übernehmen, rechtswidrig.

Gegen das der Beklagten am 21.01.2022 zugestellte Urteil hat diese am 18.02.2022 beim LSG Baden-Württemberg Berufung eingelegt und hat zu deren Begründung vorgetragen, man folge den schlüssigen und nachvollziehbaren Bewertungen der Sachverständigen Frau W1 und Frau F1 und weise auf die beratungsärztliche Stellungnahme des Herrn M3 vom Juli 2019 hin. Dagegen könne das Gutachten des W2 nicht überzeugen, weil sich dieser nicht mit den bei der Klägerin vorliegenden vielfältigen konkurrierenden Faktoren auseinandergesetzt habe und der psychopathologische Querschnittsbefund gegen das Vorliegen einer mittelgradigen depressiven Episode spreche.
Gegen das Vorliegen einer etwaigen Fahrphobie spreche der von der Klägerin getätigte Kauf eines Mercedes CLK Cabriolet sowie deren Angabe gegenüber dem W2, „Freude an dem Fahrzeug zu haben“. Es sei festzustellen, dass die psychischen Störungen auf eine unfallunabhängige Verschiebung der Wesensgrundlage zurückzuführen seien.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 13.01.2022 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 23.06.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 11.02.2021 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückweisen.

Sie trägt vor, durch das Gutachten des W2 sei nachgewiesen, dass die zuvor eingeholten Gutachten von W1 und F1 nicht stichhaltig seien. Diese würden auch im Gegensatz zu den übrigen ärztlichen Befunden und Gutachten stehen. Auch die immer wieder von der Beklagten wiederholte Tatsache, dass sie, die Klägerin, sich einen neuen Pkw zugelegt habe, führe zu keinem anderen Ergebnis. Sie würde mit diesem Pkw lediglich sehr kurze Strecken (1 bis 2 km) zurücklegen und sei danach jeweils schweißgebadet. Auch sei das Fahrzeug, das sie gekauft habe, Baujahr 2004 (18 Jahre alt) und habe nur 5.600,00 € gekostet.

Mit Schriftsatz vom 23.05.2022 hat die Klägerin und mit Schriftsatz vom 27.06.2022 die Beklagte einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Gerichtsakten des SG (Az. S 1 U 3009/18 und S 11 U 735/21), des LSG Baden-Württemberg (L 3 U 952/20) und auf die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten, über die der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden kann, ist nach §§ 143, 144 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben.

Die Berufung ist auch begründet.

Das SG hat zu Unrecht im angefochtenen Urteil der Klage entsprochen und den Bescheid vom 23.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.02.2021 aufgehoben Denn der Bescheid vom 23.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.02.2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte war berechtigt, gemäß § 48 Abs. 3 SGB X zum einen die teilweise Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 12.06.2014 in der Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 04.08.2015 und des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2015 festzustellen und die gewährte Rente „einzufrieren“ und zum anderen die Gewährung von Heilbehandlung für die Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet für die Zukunft abzulehnen.

1.
Streitgegenständlich ist vorliegend das Urteil des SG vom 13.01.2022 mit dem dieses den Bescheid vom 23.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.02.2021 wegen Rechtswidrigkeit aufgehoben hat. Den genannten Bescheiden lässt sich mit noch hinreichender Bestimmtheit entnehmen, dass die Beklagte damit zum einen (2.) die Feststellung der teilweisen Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 12.06.2014 in Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 04.08.2015, beide in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2015, bezweckte, soweit im Bescheid vom 12.06.2014 eine PTBS und Panikstörung als Unfallfolge festgestellt worden ist, bestätigt im Teilabhilfebescheid vom 04.08.2015, und soweit in den beiden Bescheiden eine rentenberechtigende MdE (MdE um mindestens 20 v.H.) festgestellt worden ist. Zwar legt die von der Beklagten gewählte Formulierung „Der Bescheid über die Rente auf unbestimmte Zeit vom 12.06.2014 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 04.08.2015 sowie des Bescheides über Rente auf unbestimmte Zeit in Ausführung des Teilabhilfebescheides vom 04.08.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2015 sind rechtswidrig“ nahe, dass die dort genannten Bescheide insgesamt für rechtswidrig erachtet werden.
Bei der gebotenen Auslegung von Verwaltungsakten ist in Anwendung der für Willenserklärungen maßgeblichen Grundsätze (§§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches <BGB>) aber vom objektiven Sinngehalt ihrer Erklärungen auszugehen, wie sie der Empfänger bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalls objektiv verstehen musste, wobei der der Bestandskraft (Bindungswirkung) zugängliche Verfügungssatz zugrunde zu legen und zur Klärung seines Umfangs die Begründung des Bescheides zu berücksichtigen ist (Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 16.11.2005, B 2 U 28/04 R, juris). Maßstab für die Auslegung ist damit der Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten, der die Zusammenhänge berücksichtigt, welche die Behörde nach ihrem wirklichen Willen (§ 133 BGB) erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat; der Inhalt eines Verwaltungsakts ist aus den gesamten Umständen der getroffenen Regelung unter besonderer Berücksichtigung seiner Begründung festzustellen (BSG, Urteil vom 25.08.2022, B 9 V 2/21 R, juris, mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Zur Klärung des Umfangs der Bindungswirkung kann die Begründung des Verwaltungsakts aber nur innerhalb des Verfügungssatzes und nur insoweit berücksichtigt werden, wie dieser unklar ist und Raum für eine Auslegung lässt (BSG, Urteil vom 22.06.2004, B 2 U 36/03 R, juris).

Unter Berücksichtigung dessen wird durch die anschließende Begründung im Bescheid vom 23.06.2020 deutlich, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit der genannten Bescheide sich nur auf die Anerkennung einer PTBS und einer Panikstörung als Unfallfolge und auf die Gewährung einer Rente beziehen sollte und nicht etwa die zwischen den Beteiligten unstreitig vorliegenden Unfallfolgen auf unfallchirurgischen Gebiet erfassen sollte. So wird dort ausgeführt, der Bescheid vom 12.06.2014 in Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 04.08.2015, beide in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2015 seien teilweise rechtswidrig, „weil die anerkannten Unfallfolgen in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer Panikstörung als Zustand nach Verkehrsunfall zu Unrecht als Folgen des Unfalls vom 14.04.2011 anerkannt worden und in die Bewertung der MdE eingeflossen“ seien. Auch bewegt sich eine dahingehende Auslegung noch innerhalb des Verfügungssatzes des Bescheids vom 23.06.2020 und sind die dortigen Verfügungssätze auch aufklärungsbedürftig. So wird einerseits davon gesprochen, die Bescheide seien rechtswidrig, während im gleichen Satz deren nur teilweise „Aufhebung“ gemäß § 45 SGB X i.V.m. § 48 Abs. 3 SGB X verfügt wird. Aus Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers wird damit noch hinreichend deutlich, dass die Feststellung einer nur teilweisen Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Bescheide im dargelegten Umfang beabsichtigt war. Dies ergibt sich nicht nur aus der Begründung des Bescheids sondern auch aus der umfangreichen Vorgeschichte. Denn bereits mit Bescheid vom 07.12.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.08.2018 hat die Beklagte einen 1. Anlauf unternommen, die Rechtswidrigkeit der Anerkennung einer PTBS und einer Panikstörung als Unfallfolge und der Gewährung einer Rente festzustellen und diese „abzuschmelzen“. Auch ergibt sich aus der weiteren Tenorierung im Bescheid vom 23.06.2020, wonach die rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakte nicht zurückgenommen werden könnten und daher auf den bisherigen Zahlbetrag festgeschrieben würden, wie auch aus der Begründung des Bescheids hinreichend deutlich, dass keine Aufhebung des Bescheids vom 12.06.2014 in Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 04.08.2015, beide in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2015, sondern (nur) eine Feststellung deren Rechtswidrigkeit beabsichtigt war.

Weiterhin hat die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf die Erhöhung ihrer Rente wegen der jährlichen Rentenanpassungen ab Juli 2020 hat, sogenannte Abschmelzung (3.). Darüber hinaus hat die Beklagte die Übernahme von Behandlungskosten oder sonstigen Leistungen wegen der psychischen Erkrankungen für die Zukunft ausgeschlossen (4.).

2.
Gegen den Bescheid vom 23.06.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 11.02.2021 bestehen in formeller Hinsicht keine Bedenken. Insbesondere hat die Beklagte die Klägerin umfassend zu den beabsichtigten Regelungen angehört.

Rechtsgrundlage für die Feststellung der teilweisen Rechtswidrigkeit (sowie die Abschmelzung) ist § 48 Abs. 3 SGB X. Nach § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB X darf, soweit ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann und eine Änderung nach § 48 Abs. 1 oder 2 SGB X zugunsten des Betroffenen eingetreten ist, die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Diese Regelung bezieht sich zunächst auf (anfänglich) rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte, mit denen eine dauerhafte Sozialleistung bewilligt wurde und deren Rücknahme nach § 45 SGB X aufgrund rechtlicher Voraussetzungen scheitert. Der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 3 SGB X erstreckt sich nach ständiger Rechtsprechung des BSG daneben in analoger Anwendung nach der Ratio der Norm über den ausdrücklichen Wortlaut hinaus auch auf solche Fehler des Ursprungsbescheids, die, wie vorliegend, den Grund einer Leistung (nämlich die zu Unrecht erfolgte Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Unfallfolge) erfassen und nicht nur die Höhe der Leistung (BSG, Urteil vom 20.03.2007, B 2 U 38/05 R, juris).

Sinn und Zweck der Norm ist es, den Begünstigten eines Verwaltungsaktes von einer nach § 48 Abs. 1 oder Abs. 2 SGB X zu seinen Gunsten eintretenden Änderung auszunehmen, soweit die ihm gewährte Begünstigung rechtswidrig ist, er aber nach § 45 SGB X Bestandsschutz genießt. Die Regelung bezweckt einen Ausgleich zwischen dem Bestandsschutzinteresse des Begünstigten und dem Interesse der Allgemeinheit an der Durchsetzung der materiell-rechtlich zutreffenden Rechtslage (Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 48 Rn. 34). Danach bleibt zwar der Bestandsschutz nach § 45 SGB X erhalten, jedoch wird der Begünstigte von zu seinen Gunsten eintretenden Änderungen solange ausgespart, bis die Begünstigung von der materiellen Rechtslage (wieder) gedeckt ist. Dadurch wird der zu Unrecht gewährte Vorteil im Laufe der Zeit „abgeschmolzen“. § 48 Abs. 3 SGB X stellt danach eine zwingende (BSG, a.a.O.) Ausnahme von einer nach § 48 Abs. 1 bzw. 2 SGB X an sich gebotenen Anpassung an zu Gunsten des Begünstigten eintretende Änderungen der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse dar. Diese Wirkungen entstehen dabei erst, sobald die Verwaltung durch gesonderten Verwaltungsakt die Aussparung künftiger Änderungen wegen Rechtswidrigkeit des zu Grunde liegenden Bescheids verfügt hat.

Der Tatbestand des § 48 Abs. 3 SGB X setzt danach die Rechtswidrigkeit eines begünstigenden Verwaltungsakts (a) sowie weiter voraus, dass dieser Verwaltungsakt nicht nach § 45 SGB X zurückgenommen werden kann (b). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

a)
Der Bescheid vom 12.06.2014 in der Gestalt, die er durch den Teilabhilfebescheid vom 04.08.2015 und den Widerspruchsbescheid vom 16.12.2015 erhalten hat, ist rechtswidrig, soweit darin als Unfallfolge eine PTBS und eine Panikstörung festgestellt und hierauf gestützt eine Rente gewährt worden ist.

Die Beurteilung der Rechtswidrigkeit gemäß § 48 Abs. 3 SGB X erfolgt dabei nach den gleichen Maßstäben, wie sie auch bei der Anwendung der §§ 44 und 45 SGB X zugrunde zu legen sind (Brandenburg in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., Stand 01.12.2017, § 48 Rn. 94). Nach der ständigen Rechtsprechung des für die gesetzliche Unfallversicherung zuständigen 2. Senats des BSG ist die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts bereits anzunehmen, wenn dieser aus damaliger Sicht unter Zugrundelegung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts so nicht hätte erlassen werden dürfen (BSG, Urteil vom 20.03.2007, 2 U 27/06 R, juris). Bei der Prüfung sind danach dieselben materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Grundlagen wie auch bei der Prüfung der Erstfeststellung heranzuziehen. Dies gilt insbesondere auch für die anzuwendenden Beweismaßstäbe und die Regeln der objektiven Beweislast im Falle der Nichterweislichkeit.
Bezogen auf den Ursachenzusammenhang bedeutet dies, der Unfallversicherungsträger trägt bei der erneuten Kausalitätsbeurteilung die Beweislast, dass die für die Annahme des Zusammenhangs sprechenden Umstände den Grad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit nicht erreichen; er muss aber nicht den Beweis führen, dass die Annahme des Kausalzusammenhangs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unrichtig war (BSG, Urteil vom 02.11.1999, B 2 U 47/98 R, juris; Urteil vom 20.03.2007 a.a.O.). Er darf eine Verletztenrente nach § 48 Abs. 3 SGB X nur dann abschmelzen, wenn erwiesen ist, dass nach den Verhältnissen und den Beurteilungsmaßstäben im Zeitpunkt der Rentenbewilligung die für die Kausalität zwischen dem Versicherungsfall und dessen Folgen sprechenden Umstände den Grad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit nicht erreichen. Da es um die Feststellung der ursprünglichen Rechtswidrigkeit des Bescheids geht, ist außerdem der tatsächliche und rechtliche Zustand im Zeitpunkt seines Erlasses maßgeblich. Der erneuten Zusammenhangsbeurteilung sind somit auch die ursprünglich vorhandenen allgemeinen medizinischen Erkenntnisse zugrunde zu legen (BSG, Urteil vom 02.11.1999, a.a.O.).

aa)
Wie bereits das SG in den beiden Urteilen vom 27.02.2020 und 13.01.2022 kann sich auch der Senat nicht davon überzeugen, dass bei der Klägerin eine PTBS vorgelegen hat.

Dabei ist zu beachten, dass eine Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet nicht bereits deshalb im Vollbeweis nachgewiesen ist, weil sie von einem behandelnden oder begutachtenden Arzt oder Therapeuten genannt wird. Dies stellt für das Gericht zunächst nur einen Anhaltspunkt dafür dar, dass diese Gesundheitsstörung vorliegen könnte. Bei der Prüfung, ob die jeweils in Rede stehende Erkrankung tatsächlich mit dem erforderlichen Vollbeweis nachweisbar ist, sind folgende Grundsätze zu beachten: Zur Berücksichtigung einer psychischen Störung als Unfallfolge ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme (z. B. ICD-10 = 10. Revision der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO aus dem Jahr 1989; DSM-5 = Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung, das in der aktuellen Fassung 2013 in den USA veröffentlicht wurde und seit 2014 in der deutschen Fassung vorliegt) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erforderlich, damit die Feststellung nachvollziehbar ist (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, juris; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 150).

Die PTBS, die nach der mittlerweile anzuwendenden ICD-10-GM 2023 in F43.1 codiert ist, bezeichnet eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Die Gerichte wenden zur Feststellung der PTBS auch das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen – Textversion – (DSM-IV-TR) an. Nach dessen DSM-IV-TR 309.81 ist das sogenannte Traumakriterium (A-Kriterium) eingängiger gefasst. Danach ist Hauptmerkmal der PTBS die Entwicklung charakteristischer Symptome nach der Konfrontation mit einem extrem traumatischen Ereignis. Das traumatische Ereignis beinhaltet u.a. das direkte persönliche Erleben einer Situation, welche mit dem Tod oder Androhung des Todes, einer schweren Verletzung oder einer anderen vergleichbaren Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit zu tun hat (Kriterium A1). Das zwischenzeitlich als Nachfolger des DSM-IV-TR nunmehr in deutscher Sprache vorliegende diagnostische und statistische Manual 5. Auflage (DSM-5) formuliert das Traumakriterium (A-Kriterium) wie folgt (F43.10): Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt auf eine (oder mehrere) der dort näher bestimmten Arten.

Nach den beiden Diagnosesystemen ergeben sich danach in der Gegenüberstellung folgende Voraussetzungen für das A-Kriterium:

A-Kriterium

ICD-10

DSM-5

Verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
 

Konfrontation mit tatsächlichem oder drohenden Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt auf eine (oder mehrere) der folgenden Arten:
1. Direktes Erleben eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse.
2. Persönliches Erleben eines oder mehrerer solcher traumatischer Ereignisse bei anderen Personen.
3. Erfahren, dass einem nahen Familienmitglied oder einem engen Freund ein oder mehrere traumatische Ereignisse zugestoßen sind. Im Falle von tatsächlichem oder drohendem Tod des Familienmitgliedes oder Freundes muss das Ereignis bzw. müssen die Ereignisse durch Gewalt oder einen Unfall bedingt sein.
4. Die Erfahrung wiederholter oder extremer Konfrontation mit aversiven Details von einem oder mehreren derartigen traumatischen Ereignissen (z.B. Ersthelfer, die menschliche Leichenteile aufsammeln oder Polizisten, die wiederholt mit schockierenden Details von Kindesmissbrauch konfrontiert werden.)


Danach kommt die Feststellung einer PTBS bereits deshalb nicht in Betracht, weil das A-Kriterium, unabhängig davon, welches der vorgenannten Diagnosesysteme zur Anwendung kommt, nicht festgestellt werden kann. Zu diesem Ergebnis gelangen übereinstimmend die Gerichtsgutachter W1, W2 und der im Rentenverfahren von Amts wegen beauftragt L2, aber auch der von der privaten Unfallversicherung beauftragte S3 und die M3 und F1. Letztere hat – gestützt auf die Aktenlage, insbesondere die Ergebnisse der vorhergehenden Begutachtungen – schlüssig und überzeugend herausgearbeitet, dass der Frontalzusammenstoß, welchen die Klägerin erlitten hat und bei dem der Fahrerairbag ausgelöst wurde, zwar in Art und Schwere geeignet war, vorübergehende psychische Unfallfolgeerkrankungen im Sinne einer akuten Belastungsreaktion hervorzurufen; zumal die Klägerin die durch die Airbagauslösung hervorgerufene Rauchentwicklung kurzzeitig irrtümlich als Folge einer Entzündung des Pkw gedeutet hat. Die oben genannten Eingangskriterien für das Vorliegen einer PTBS wurden jedoch nicht erfüllt, da die Klägerin weder mit länger anhaltender Todesgefahr noch mit einem länger anhaltenden Zustand von Ohnmacht und Hilflosigkeit konfrontiert war. Der Autounfall auf dem Weg zur Arbeit am 14.04.2011 war, so W2, auch unter Berücksichtigung des Frontalzusammenstoßes nicht derart schwerwiegend, dass ihm tatsächlich ein „katastrophenartiges Ausmaß“ zugekommen ist, das „bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung“ hervorrufen würde.

Auch haben die beiden Sachverständigen und die beiden Beratungsärzte zu Recht darauf verwiesen, dass bei der Klägerin zu keiner Zeit das Vollbild einer PTBS nachgewiesen war. So waren die von der Klägerin angegebenen Flashbacks nach Einschätzung von W1 wenig plastisch und konnte die Klägerin den Unfall ohne Zeichen vegetativer Erregung schildern. Auch gegenüber W2 schilderte die Klägerin den Unfall detailgenau, ohne eine besondere affektive Beteiligung zu zeigen.

Soweit demgegenüber mehrere behandelnde Ärzte und Psychologen von einer PTBS ausgegangen sind (so beispielsweise E1, R2 und der Gutachter S1), kann dies nicht überzeugen, da zum einen die unfallnah erfolgten Diagnosen einer PTBS zu einem Zeitpunkt erfolgt sind, zu dem diese Diagnose nach den vorstehend genannten Kriterien noch gar nicht erfolgen durfte (Dauerkriterium), so zu Recht W1, F1 und W2, und zum anderen eine exakte Diagnose unter Abgleich mit den oben genannten Diagnosesystemen von den eine PTBS bejahenden Ärzten und Psychiatern nicht erfolgt ist.

bb)
Als weitere Unfallfolge auf nervenärztlichem Gebiet hat die Beklagte im Bescheid vom 12.06.2014 und Teilabhilfebescheid vom 04.08.2015, S1 folgend, eine Panikstörung festgestellt. Demgegenüber haben W1 und W2 eine Phobie mit Panikattacken (W2: spezifische Fahrphobie) diagnostiziert. Insbesondere W2 hat die von der Klägerin geschilderten Panikattacken als Ausdruck des Schweregrads einer zugrunde liegenden Phobie gewertet. F1 wiederum hat für eine generalisierte Angststörung auf dem Boden einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit histrionischen und ängstlich-vermeidenden Zügen plädiert. Daneben haben die beiden Sachverständigen und F1 bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung in wechselnder Ausprägung diagnostiziert.

Unabhängig vom konkreten Ausprägungsgrad und der konkreten Zuordnung der genannten psychischen Störungen können diese zur Überzeugung des Senats, jedenfalls ab dem Zeitpunkt des Erlasses des (ersten) Bescheids vom 12.06.2014, nicht mehr mit der nötigen Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom April 2011 zurückgeführt werden, weshalb der Bescheid vom 12.06.2014 in der Gestalt, die er durch den Teilabhilfebescheid vom 04.08.2015 und den Widerspruchsbescheid vom 16.12.2015 erhalten hat, auch insoweit rechtswidrig ist.

(1.)
Ausgangsbasis für die Beurteilung unfallversicherungsrechtlicher Kausalzusammenhänge ist in einer ersten Prüfungsstufe die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie, nach der jedes Ereignis Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer 2. Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden beziehungsweise denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen. Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs beziehungsweise Gesundheitsschadens abgeleitet werden. Für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache ist allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. „Wesentlich“ ist nicht gleichzusetzen mit „gleichwertig“ oder „annähernd gleichwertig“. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben). Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) „wesentlich“ und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts. Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber nicht als „wesentlich“ anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als „Gelegenheitsursache“ oder Auslöser bezeichnet werden. Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die „Auslösung“ akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte. Bei der Abwägung kann der Schwere des Unfallereignisses Bedeutung zukommen. Dass der Begriff der „Gelegenheitsursache“ durch die Austauschbarkeit der versicherten Einwirkung gegen andere alltäglich vorkommende Ereignisse gekennzeichnet ist, berechtigt jedoch nicht zu dem Umkehrschluss, dass bei einem gravierenden, nicht alltäglichen Unfallgeschehen oder besonderen Problemen in der anschließenden Heilbehandlung, ein gegenüber einer Krankheitsanlage rechtlich wesentlicher Ursachenbeitrag ohne Weiteres zu unterstellen ist. Gesichtspunkte für die Beurteilung der besonderen Beziehung einer versicherten Ursache zum Erfolg sind neben der versicherten Ursache beziehungsweise dem Ereignis als solchem, einschließlich der Art und des Ausmaßes der Einwirkung, die konkurrierende Ursache unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes der zeitliche Ablauf des Geschehens – aber eine Ursache ist nicht deswegen wesentlich, weil sie die letzte war –, weiterhin Rückschlüsse aus dem Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, den Befunden und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie der gesamten Krankengeschichte. Ergänzend kann der Schutzzweck der Norm heranzuziehen sein. Wenn auch die Theorie der wesentlichen Bedingung im Unterschied zu der an der generellen Geeignetheit einer Ursache orientierten Adäquanztheorie auf den Einzelfall abstellt, bedeutet dies nicht, dass generelle oder allgemeine Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang bei der Theorie der wesentlichen Bedingung nicht zu berücksichtigen oder bei ihr entbehrlich wären. Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen. Das schließt eine Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder seelische Störung hervorzurufen (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, juris).

Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt für die Beweiswürdigung, dass die Gesundheitsschäden im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen müssen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge zwischen dem Unfallereignis und den als Unfallfolgen geltend gemachten Gesundheitsstörungen ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit erforderlich; die bloße Möglichkeit genügt insoweit nicht (BSG, Urteil vom 04.07.2013, B 2 U 11/12 R, unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 29.11.2011, B 2 U 26/10 R; BSG, Urteil vom 15.09.2011, B 2 U 25/10 R; BSG, Urteil vom 15.09.2011, B 2 U 22/10 R;  BSG, Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 30/07 R; BSG, Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 9/08 R, alle juris). Es gelten die allgemeinen Regeln der materiellen Beweislast. Danach trägt derjenige, der ein Recht für sich beansprucht, nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Ermittlung die materielle Beweislast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen dieses Rechts (BSG, Urteil vom 18.11.2008, B 2 U 27/07 R, juris). Insbesondere bei psychischen Gesundheitsstörungen darf nicht aus einem rein zeitlichen Zusammenhang und der Abwesenheit konkurrierender Ursachen automatisch auf die Wesentlichkeit der einen festgestellten naturwissenschaftlich-philosophischen Ursache geschlossen werden. Angesichts der Komplexität psychischer Vorgänge und des Zusammenwirkens gegebenenfalls lange Zeit zurückliegender Faktoren, die unter Umständen noch nicht einmal der versicherten Person bewusst sind, würde dies zu einer Beweislastumkehr führen, für die keine rechtliche Grundlage zu erkennen ist (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, juris). 

(2.)
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze können die bei der Klägerin vorliegenden psychischen Erkrankungen jedenfalls ab Juni 2014 nicht mehr auf den Arbeitsunfall zurückgeführt werden. Der Senat schließt sich der auf Grundlage einer sorgfältigen Auswertung der Aktenlage erarbeiteten schlüssigen und nachvollziehbaren Stellungnahme der F1 an, der sich auch der M3 angeschlossen hat. Danach lag bei der Klägerin zunächst eine akute Belastungsreaktion vor, die in eine Anpassungsstörung übergegangen ist. So berichtete H1 im Juli 2011 über eine leichte depressive Symptomatik. Daneben wurde auch über eine phobische Angststörung der Klägerin berichtet (Entlassungsbericht der BG-Klinik, H2, R2, alle im Februar 2012). Im weiteren Behandlungsverlauf zeichnet sich in den Befundberichten sowohl seitens des unfallchirurgischen Fachgebiets wie auch des psychiatrisch-psychosomatischen Gebiets eine sukzessive, teilweise deutliche Besserung der Symptomatik ab. So teilte H1 im Februar 2012 mit, der psychische Befund habe sich deutlich gebessert; er gehe von einer Arbeitsfähigkeit der Klägerin zum April 2012 aus. Nach dem Bericht der R2, BG-Klinik, vom Februar 2012 gelang eine Reduzierung der psychischen Belastungssymptome in Form von posttraumatischen Belastungssymptomen; hier ist nochmals darauf zu verweisen, dass nach Auffassung sämtlicher Gerichtsgutachter das Vollbild einer PTBS zu keinem Zeitpunkt vorgelegen hat. Ebenso konnte ein Abbau der Fahrangst durch gezieltes Fahrtraining erreicht werden. Die Klägerin war wieder in der Lage, selbst ein Auto zu führen. Damit ist bei der Klägerin im Februar 2012, 8 Monate nach dem Unfallereignis, ein deutliches Abklingen der Symptomatik auf psychiatrischem Fachgebiet und ein Wiedererlangen des Fahrvermögens gesichert.

Erst im Zusammenhang mit der seitens des D-Arztes angeregten Arbeits- und Belastungserprobung nach knapp einem Jahr der Arbeitsunfähigkeit wird dann eine erneute, sukzessive psychische Destabilisierung berichtet – ein für eine rein traumabedingte Störung untypischer Verlauf, so W1. Sämtliche weiteren von der Klägerin geklagten Symptomverschlechterungen, übrigens auch auf unfallchirurgischem Gebiet und auch dort nicht nachvollziehbar, so G1, und auch Symptomausweitungen (die Klägerin berichtete nun über eine Ausweitung der Ängste auch beim Schwimmen, beim Einkaufen, usw.) korrespondierten, so F1, nun mit Änderungen ihres Sozialstatus, so z.B. mit dem Auslaufen der Verletztengeldzahlungen im April 2013 und des sich anschließenden Rechtsstreits, der Einschätzung einer vollschichtigen Arbeitsfähigkeit durch den Amtsarzt bzw. das Jobcenter, die Ablehnung einer Erwerbsminderungsrente durch die gesetzliche Rentenversicherung, die Bekanntgabe des Gutachtens von W1 mit anschließendem Arbeitsplatzverlust bei M4. Zwar ist die erstmalige Verschlimmerung der psychischen Beschwerden im Zusammenhang mit der angestrebten beruflichen Reintegration ab Mitte 2012 zum Teil noch dem Unfallereignis zuzuordnen, weil die Klägerin durch die Notwendigkeit, wieder ein Kraftfahrzeug führen zu müssen und sich einer Berufsfähigkeit auszusetzen, zwangsläufig verstärkt psychische Adaptions- und Kompensationsprozesse aktivieren musste. Ab diesem Zeitpunkt haben jedoch, so F1, zunehmend umweltbezogene unfallunabhängige Stressoren die psychische Symptomatik (mit-)unterhalten. Solche vorbestehenden Belastungen hat bereits S1 in seinem Gutachten vom September 2013 in Form einer schwierigen Kindheit (welche die Klägerin so allerdings gegenüber W1 und W2 nicht mehr eingeräumt hat), 2 Scheidungen und 2 zu diesem Zeitpunkt arbeitslose Söhne, die noch bei der Klägerin gewohnt haben, festgestellt. Als weitere unfallunabhängige Stressoren ließen sich den Befundberichten und den spärlichen Angaben der Klägerin gegenüber W1 zusätzlich die Verselbständigungsbemühungen der beiden erwachsenen Söhne, die Pflegebedürftigkeit der in Rumänien allein lebenden Mutter und vor allem ein erheblicher sekundärer Krankheitsgewinn feststellen, so F1.

Dieser sekundäre Krankheitsgewinn bildet sich in der Erfolglosigkeit sämtlicher Behandlungsbemühungen ab. So ist trotz einer Vielzahl an zeitnah durchgeführten ambulanten und stationären Behandlungen keine durchgreifende Beschwerdelinderung gelungen. Bereits im 1. Unfallfolgejahr sind bei der Klägerin mehrere stationäre und ambulante Intensivbehandlungen auf psychiatrischem Gebiet durchgeführt worden. Dass sich dennoch kein durchgreifender Behandlungserfolg eingestellt hat, sondern sogar noch eine Beschwerdeausweitung eingetreten ist, ist vor allem dem therapielimitierenden Wirken der sekundären Motive bei ausgeprägter Begehrenshaltung, die den Heilungswunsch dominiert, geschuldet, so F1. Diese Fixierung der Klägerin in einer passiven Patientenrolle und auf ihre Begehrenshaltung bestätigt exemplarisch eine E-Mail der Klägerin vom April 2017 an die Beklagte, in welcher die Klägerin betont hat, unbedingt wieder gesund werden und arbeiten zu wollen, während sie gleichzeitig versucht hat, ihre Berentung wegen Erwerbsminderung und eine höhere Unfallrente per Klage durchzusetzen, ohne dass ihr diese Diskrepanz aufgefallen wäre. Wenngleich von den behandelnden Nervenärzten und Psychologen nicht kritisch diskutiert wird, warum die Klägerin trotz Vorhaltung von zeitnahen und suffizienten Behandlungsmaßnahmen nicht entsprechende psychische Kräfte aktivieren konnte, um ihre psychische Erkrankung zu überwinden, wird von diesen dennoch durchgängig bestätigt, dass die Therapieerfolge nicht erreicht werden konnten, weil die Klägerin sich ganz auf ihre Klageverfahren zur Durchsetzung von finanziellen Leistungen fokussiert hat und dadurch massiv belastet war und ist. Deutlich wird dies beispielsweise in den Verlaufsberichten der B2 vom April 2014, in welchen die äußerst instabile psychische Situation der Klägerin mit der schwierigen finanziellen Situation, den offenen Gerichtsverhandlungen, den Schwierigkeiten in der Kommunikation mit der Unfallkasse und der Krankenkasse begründet wird. Diese aktuell bei der Klägerin vorherrschenden Probleme würden momentan therapeutisch nur stützende, stabilisierende Interventionen gestatten und es sei nicht zu erwarten, dass sich die psychische Befindlichkeit der Klägerin vor einer Klärung dieser Probleme deutlich verbessern werde. Auch S1 hat in seinem 2. Gutachten vom Februar 2015 die Angststörung und die mittelgradige depressive Episode als Störungen im Rahmen der aktuellen schwierigen sozialen und finanziellen Belastungen bewertet, die mit einer längeren zeitlichen Latenz nach dem Unfall aufgetreten seien und nicht als unfallbedingt gesehen werden könnten. Ihm zufolge hat sich seit 2013 eine deutliche Verschlechterung der psychischen Symptomatik gezeigt, wobei es sich um ein psychodynamisches Geschehen handele, das nicht mehr alleine durch den Unfall bzw. die PTBS hervorgerufen werde, sondern auf die schwierige Lebenssituation zurückzuführen sei.

Zusammenfassend ist spätestens im April 2014 von einer Verschiebung der Wesensgrundlage der psychischen Erkrankung hin zu unfallunabhängigen Faktoren der Krankheitsunterhaltung und -chronifizierung auszugehen, so schlüssig und nachvollziehbar F1. Dieser Einschätzung hat sich auch der M3 in vollem Umfang angeschlossen. Dieser hat ebenfalls unfallunabhängige Faktoren wie die finanziellen Probleme, den Kampf um die Entschädigung des Unfalls und eine Verbitterung bzw. Enttäuschung über die Behandlung des Unfallgeschehens durch die Beklagte und durch die weiteren aus Sicht der Klägerin entschädigungspflichtigen Leistungsträger und Versicherungen im Vordergrund gesehen.

Zur gleichen Bewertung ist im Ergebnis auch W1 gelangt, die gleichfalls von einer akuten Belastungsreaktion infolge des Unfalls ausgegangen ist, die ihrer Ansicht nach abgeklungen ist. Auch sie hat zur Begründung ihrer Bewertung auf den untypischen Verlauf der Symptomatik für eine rein traumabedingte Störung verwiesen. Zu Recht macht sie geltend, dass nicht nachvollziehbar ist, weshalb zunächst für ein Jahr eine isolierte Phobie vor dem Autofahren bestanden haben soll, die sich dann aber trotz Behandlung ausgeweitet hat. Zwar kann noch nachvollzogen werden, so W1, dass eine Annäherung an den Unfallort oder auch das Autofahren an sich von der Klägerin zunächst vermieden wurde, um keine negativen Erinnerungen auszulösen; völlig unklar bleibt aber, warum die nach Angaben der Klägerin angeblich positive besetzte Arbeit einen ähnlichen Effekt entwickelt hat. Es ist deshalb selbst bei unterstellter Ursächlichkeit des Unfallereignisses nicht verständlich, warum sich die Symptomatik der Klägerin im Lauf der Zeit verschlechtert haben soll. Zusammenfassend geht auch W1 davon aus, dass die finanziellen und rechtlichen Schwierigkeiten infolge der fortgesetzten Arbeitsunfähigkeit bzw. der erkennbare erhebliche sekundäre Krankheitsgewinn die fortbestehende psychische Symptomatik maßgeblich unterhalten. Sie nimmt dabei im Unterschied zu F1 eine deutlich frühere Verschiebung der Wesensgrundlage der psychischen Erkrankung an, ohne dass dies vorliegend von Bedeutung wäre.

Abweichend hiervon hat W2 die mittelgradige depressive Episode als die von ihm als maßgeblich erkannte Erkrankung auf psychiatrischem Gebiet und die spezielle Fahrphobie mittelbar auf den Unfall aus 2011 zurückgeführt. Diese Ursächlichkeit hat der Sachverständige auf die nicht indizierte Traumabehandlung und die daraus resultierte Fixierung der Klägerin auf das Unfallereignis und die daraus resultierenden Konsequenzen zurückgeführt. Der Argumentation von F1 und W1 könne er dagegen nicht folgen, weil die von diesen angeführten konkurrierenden Faktoren seines Erachtens nicht stichhaltig seien. Tatsächlich ist aber vielmehr die Begründung von W2 wenig überzeugend. Zwar ist zuzugeben, dass es entgegen der Einschätzung von W1 in 2011 zu keinem „echten“ Wechsel des Arbeitsplatzes gekommen und die Trennung vom 2. Ehemann bereits 2009 erfolgt ist und 2011 dann nur noch die Scheidung ausgesprochen wurde. Auf die oben aufgezeigten maßgeblichen Belastungsfaktoren und auf den sekundären Krankheitsgewinn bzw. die offensichtliche Begehrenshaltung der Klägerin ist der Sachverständige aber nicht eingegangen, wie der M3 zu Recht festgehalten hat. Dabei hat W2 selbst die zunehmende finanzielle Unsicherheit der Klägerin, die nach der Scheidung von ihrem 2. Ehemann durchaus in einer schwierigen finanziellen Situation stand, als weiteren Faktor, der ihre Depressivität sowie ihre Fahrphobie verstärkt habe, und der (wohl) auch seiner Auffassung nach nicht rechtlich-wesentlich auf den Unfall zurückgeführt werden kann, benannt. Überraschenderweise hat sich der Sachverständige auch in seiner ergänzenden Stellungnahme vom Oktober 2019, die das SG gerade im Hinblick auf die Einschätzung des M3 erbeten hatte, nicht bzw. nicht weiterführend mit diesen zentralen Argumenten der F1 für konkurrierende krankheitsunterhaltende Faktoren auseinandergesetzt.

Zu Recht weist der M3 auch auf die Schwächen des Sachverständigen bei der Objektivierung der von der Klägerin beklagten Beeinträchtigungen hin.
Im vom Sachverständigen erhobenen strukturierten Fragebogen simulierter Symptome hat die Klägerin 26 Punkte erreicht; bei einem Cut-off-Wert von 16 Punkten liegen somit Hinweise für eine nicht authentische Beschwerdeschilderung vor. 26 Punkte im strukturierten Fragebogen simulierter Symptome sind, so der M3, ein Beweis für eine negative Antwortverzerrung, d.h. für eine deutliche Übertreibung von Beschwerden und ein Hinweis auf eine bewusstseinsnahe Begehrenshaltung. Allein dieses Ergebnis spricht aber deutlich für eine bewusstseinsnahe Begehrenshaltung der Klägerin. In gleicher Weise sind die von der Klägerin im Rahmen der Begutachtung bei W1 in den Selbstbeurteilungsbögen getroffenen Aussagen mit den anamnestischen Angaben und den klinischen Untersuchungsbefunden nicht gut vereinbar. Die von der Klägerin angegebene massivste Beeinträchtigung durch Schmerzen war angesichts des Untersuchungsbefunds und ihre übrigen Angaben nicht nachvollziehbar. Aus dem von W1 erhobenen Untersuchungsbefund und auch anhand der außerhalb der Selbstbeurteilungsbögen genannten Angaben war insbesondere keine schwere depressive Symptomatik, die aber die Angaben der Klägerin im Selbstbeurteilungsbogen (Beck Depressions-Inventar) nahelegte, erkennbar. Auch W1 hat daher das Antwortverhalten der Klägerin bei den genannten Selbstbeurteilungsbögen als Hinweis für Aggravation gewertet. Zu diesem Eindruck hat auch die Diskrepanz im Rahmen der Untersuchung zwischen den dort beklagten Beschwerden und dem erhobenen Befund und dem von der Klägerin geschilderten Alltagsleben wie auch die zu beobachtende übertriebene Schilderung von Symptomen, wie beispielsweise Flashbacks, beigetragen. Zu berücksichtigen ist, dass bereits H2 vom Zentrum von Nervenheilkunde L1 im Februar 2012 über eine doch beachtliche Verdeutlichungs- und Katastrophisierungstendenz der Klägerin bei der Beschwerdeschilderung berichtet hat. L2, der die Klägerin im Mai 2014, also zeitnah zum hier interessierenden Zeitpunkt des Erlasses der maßgeblichen Bescheide, für das SG in einem Rentenverfahren begutachtet hat, hat noch nicht einmal Hinweise auf eine depressive Verstimmung gefunden und die Klägerin in einer adäquaten Grundstimmung bei gut erhaltener affektiver Schwingungsfähigkeit angetroffen. Gleiches gilt für den im Auftrag der unfallgegnerischen Privathaftpflichtversicherung tätigen Gutachter S3 im September 2013. Auch er erhob einen unauffälligen psychiatrischen Befund. Mit der von W2 aufgestellten Behauptung einer seit Unfallzeitpunkt durchgehend andauernden depressiven Erkrankung lassen sich diese Gutachten nur schwerlich in Einklang bringen. Soweit F1 wiederum zum Ergebnis gelangt ist, dass nicht primär von einer bewusstseinsnahen Aggravation oder Simulation auszugehen sei, sondern die dramatische Ausgestaltung ihrer Symptomatik mit ständig wechselnden Symptombildern eher der histrionischen Persönlichkeitsakzentuierung der Klägerin zuzuordnen sei, lässt dies den Kern der Aussage des M3 unberührt: Die Beschwerdeschilderung durch die Klägerin ist nachgewiesenermaßen nicht authentisch; die Dramatisierung und Ausgestaltung der Symptomatik erschwert bzw. verunmöglicht die Diagnose wie auch Feststellung des konkreten Ausprägungsgrades, so ja auch W1 und F1. Die deshalb gebotene Beschwerdevalidierung hat W2 allerdings unterlassen, was die Aussagekraft seines Gutachtens erheblich schwächt. Damit kann aber auch seine Diagnose einer mittelgradigen depressiven Episode nicht nachvollzogen werden. Gegen diese spricht wie gesehen der psychopathologische Querschnittsbefund, so zu Recht der M3. Gleiches gilt im Übrigen für die Ausprägung der Phobie. Diesbezüglich hat zuletzt der M3 auf Inkonsistenzen hingewiesen. So spricht der Kauf des Mercedes Cabrio wie auch die Freude, die die Klägerin an diesem laut ihren Angaben gegenüber dem Sachverständigen empfindet, gegen eine Fahrphobie bzw. stellt den Ausprägungsgrad infrage.

(3.)
Zusammenfassend können die weiteren geltend gemachten psychischen Erkrankungen, insbesondere die depressive Erkrankung und die Phobie, jedenfalls ab April 2014 nicht mehr auf den hier streitgegenständlichen Arbeitsunfall zurückgeführt werden. Darüber hinaus kann sowohl die Diagnose der depressiven Erkrankung wie auch der Phobie und deren jeweiliger konkreter Ausprägungsgrad nicht mit der notwendigen Sicherheit (fest-)gestellt werden. Weiterhin hat auch W2 der Phobie keine für die Rente maßgebliche Bedeutung zuerkannt. Die von ihm angenommene MdE um 40 v.H. auf seinem Fachgebiet hat er ausschließlich mit der mittelgradigen depressiven Episode begründet und bei der spezifischen Phobie noch keine MdE um 10 v.H. angenommen (vergleiche zur Bewertung Schönberger/Mehrtens/Valentin, 9. Aufl. 2017, Seite 171).

cc)

Nachdem auf den streitgegenständlichen Arbeitsunfall keine Unfallfolgen auf nervenärztlichem Gebiet (mehr) zurückgeführt werden können, war auch die Gewährung einer Rente rechtswidrig.

Anspruchsgrundlage für die Gewährung einer Verletztenrente ist § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls (§§ 8, 9 SGB VII) über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern (§ 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII).

Als Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.04.2011 liegen nur die mit Bescheid vom 12.06.2014 in Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 04.08.2015 festgestellten Gesundheitsstörungen auf unfallchirurgischen Fachgebiet vor, die nach dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des S2 vom Februar 2015 mit einer MdE um 10 v.H. zu bewerten sind, was die Beteiligten im Übrigen auch nicht in Zweifel ziehen. Damit hat(te) die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente.


b)
Der Bescheid vom 12.06.2014 in der Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 04.08.2015 und des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2015 kann aber trotz seiner anfänglich-rechtswidrigen Feststellung einer PTBS und einer Panikstörung als Unfallfolge und der Gewährung einer Rente nicht nach § 45 SGB X zurückgenommen werden. Denn unabhängig von der Frage eines schutzwürdigen Vertrauens kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nur bis zum Ablauf von 2 Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X). Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung liegen nicht vor (§ 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X). Auch die Voraussetzungen nach § 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 und Nr. 2 SGB X für die Anwendung einer 10-jährigen Rücknahmefrist liegen nicht vor, weil die Bescheide weder auf unrichtigen oder unvollständigen Angaben der Klägerin beruhten noch diese die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte noch der Verwaltungsakt mit einem Widerrufsvorbehalt erlassen worden ist. Die Rücknahmefrist war demnach zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids vom 23.06.2020 bereits seit langem abgelaufen.

3.
Nachdem damit eine Rücknahme des Bescheids vom 12.06.2014 in der Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 04.08.2015 und des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2015 nicht mehr möglich war, war für die Beklagte der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB X eröffnet. Verfahrensmäßig setzt nach der Rechtsprechung des BSG die „Abschmelzung“ gemäß dieser Norm eine konstitutive Feststellung der Rechtswidrigkeit des Ursprungsbescheids voraus (BSG, Urteil vom 22.06.1988, 9/9a RV 46/86; Urteil vom 18.03.1997, 2 RU 19/96; Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 6/12 R, alle juris). Die Beklagte war damit nach zuvor erfolgter Anhörung nicht nur berechtigt, im Bescheid vom 23.06.2020 die Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 12.06.2014 in der Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 04.08.2015 und des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2015 festzustellen, sondern hierzu verpflichtet. Dabei stand es ihr frei, die Feststellung der Rechtswidrigkeit isoliert in einem gesonderten Bescheid oder, wie hier, zusammen und als Teil des Abschmelzungsbescheids zu erlassen (BSG, Urteile vom 22.06.1988; vom 18.03.1997; vom 17.04.2013; a.a.O.).

Die Beklagte war aufgrund dieser bescheidmäßigen Feststellung weiterhin im Hinblick auf die zum 01.07.2020 anstehende jährliche Rentenanpassung wie auch auf die in der Folgezeit eintretenden Rentenanpassungen gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB X berechtigt, mit Bescheid vom 23.06.2020 den Rentenbetrag auf den Umfang zu begrenzen, wie er sich bei fehlerfreier Erstfeststellung ergeben hätte. Nachdem bei fehlerfreier Erstfeststellung eine Rente nicht hätte gewährt werden dürfen, weil die gewährte Leistung bereits dem Grunde nach rechtswidrig war, und die Höhe der rechtmäßigen Leistung in diesem Fall eigentlich „Null“ betragen müsste, ist eine Anpassung der Leistungshöhe an die geänderten Verhältnisse gemäß § 48 Abs. 3 SGB X dauerhaft ausgeschlossen. Die Rente war daher zwingend auf den bisherigen Zahlbetrag der rechtswidrigen Leistung – nur in diesem Umfang ist die Rentenleistung geschützt – zu begrenzen.

4.
Auch die verfügte Ablehnung der Übernahme von „Behandlungskosten oder sonstige Leistungen“ hinsichtlich der psychischen Erkrankungen ist nicht zu beanstanden.

Der Senat legt diese Verfügung dahingehend aus, dass der Beklagte damit die Gewährung von Heilbehandlung ausgeschlossen hat. Rechtsgrundlage des Anspruches auf Heilbehandlung ist § 27 SGB VII. Diese Leistungen sind nach § 26 Abs. 4 Satz 2 SGB VII als Sach- und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen und daher als Naturalleistung zu gewähren. Nur ausnahmsweise kommt ein Zahlungsanspruch des Versicherten in Betracht, wenn dies im SGB VII oder im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) ausdrücklich vorgesehen ist. Aus Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers unter Berücksichtigung der vorstehend erläuterten Auslegungsgesichtspunkte kann die diesbezügliche Regelung im Bescheid vom 23.06.2020 daher nur dahingehend verstanden werden, dass die Beklagte die zukünftige Gewährung von Heilbehandlung für die Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet ausschließen wollte.

Voraussetzung für einen Anspruch der Klägerin auf Übernahme der Heilbehandlung ist, dass die begehrten Leistungen in Folge des Eintritts eines Versicherungsfalles (§§ 7 ff. SGB VII) erforderlich sind. Wie aber bereits dargelegt wurde, sind die Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet, insbesondere die depressive Erkrankung und die Phobie, nicht (mehr) auf den Arbeitsunfall vom 14.04.2011 zurückzuführen. Die Beklagte hat somit die Übernahme der weiteren Heilbehandlung insoweit zu Recht ausgeschlossen.

5.
Nach alledem war auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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