S 21 SO 162/22

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
21
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 21 SO 162/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Nach dem SGB IX nachrangige Leistungen für Wohnraum können parallel zu vorrangig zu gewährenden Leistungen als Kosten der Unterkunft nach dem SGB XII zu erbringen sein.

2. Nach dem SGB XII als unangemessen hoch geltende Kosten der Unterkunft, die einen behinderungsbedingten Ursprung haben, können nach dem Recht der Eingliederungshilfe als Leistungen für Wohnraum zur Sozialen Teilhabe in Betracht kommen (unechte Fachleistung).

3. Dies kann selbst dann der Fall sein, wenn der Leistungsberechtigte keine Assistenzleistungen im Sinne des § 77 Abs. 2 SGB IX in Anspruch nimmt.

Bemerkung

Kosten der Unterkunft als unechte Fachleistung, Leistungen für Wohnraum, Eingliedeurngshilfe, Soziale Teilhabe

 

  1. Der Bescheid der Beklagten vom 20.10.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2022 mit dem Az. 1076101480563 wird aufgehoben und die Beklagte beginnend ab dem 01.07.2021 zu monatlichen Geldleistungen zur sozialen Teilhabe gemäß der §§ 113 Abs. 2, 77 SGB IX in Höhe der Mietaufwendungen oberhalb der Angemessenheitsgrenze verurteilt.
     
  2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.
     

T a t b e s t a n d :

Die Parteien streiten über die Bewilligung derjenigen anteiligen Kosten der Unterkunft als Leistungen der Eingliederungshilfe für den Zeitraum ab 1. Juli 2021, welche die angemessenen Kosten der Unterkunft als Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung übersteigen.

Die am 26. November 1973 geborene Klägerin leidet an einer geistigen Behinderung und gilt als schwerbehindert. Sie geht in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) einer Beschäftigung als Küchenhilfe nach. Ihr wurde ein unbefristeter Schwerbehindertenausweis mit einem Grad der Behinderung von 80 und den Merkzeichen G und B zuerkannt. Die Klägerin erhält fortlaufend ergänzende Leistungen der Grundsicherung nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII), weil das Arbeitsentgelt aus der WfbM und ihre Erwerbsminderungsrente nicht zur Deckung ihres Lebensunterhalts genügen.

Mit Schreiben vom 30. November 2020 beantragt die Mutter der Klägerin in Stellvertretung die Übernahme der Kosten der Unterkunft für eine Zweizimmerwohnung, in welche die Klägerin ab dem 1. Juli 2021 umziehen möchte (Blatt 10 der Verwaltungsakte der Beklagten [VA]). Sie begründet den Umzug damit, dass die Klägerin unter Schlafstörungen leide, und sie deshalb in psychiatrischer Behandlung sei. Um die Schlafstörungen zusätzlich zur Behandlung mit Medikamenten dauerhaft beseitigen bzw. zu mildern, sei ein separater, kühler Schlafraum notwendig, der in ihrer jetzigen Wohnung nicht zur Verfügung stehe. Wegen des Straßenlärms sei es in ihrer derzeitigen Wohnung nicht möglich, das Fenster zur Lüftung nachts dauerhaft geöffnet zu lassen. Die Klägerin habe kürzlich erst von einer Wohnungsbaugenossenschaft ein Angebot für eine Wohnung erhalten, die all ihre Anforderungen erfülle und sich zudem in dem Haus befinde, in dem auch ihre Eltern wohnen würden. In der Folge des Umzuges würden sich daher auch die Betreuungs- und Unterstützungsmöglichkeiten der Klägerin durch ihre Eltern erleichtern. Der Mietvertrag ab Bl. 41 VA weist ab Mietbeginn zunächst eine Bruttokaltmiete in Höhe von 431,35 EUR und eine Vorauszahlung auf die Heizkosten in Höhe von 53,65 EUR aus (Summe: 485,00 EUR):

 

Grundnutzungsgebühr                                               372,26 EUR

Vorauszahlung auf die BK                                        43,50 EUR

Vorauszahlung auf Heiz-/Warmwasserkosten         53,65 EUR

Vorauszahlung auf Wasser                                       15,59 EUR

                                                           Summe           485,00 EUR

 

Am 3. Dezember 2020 erhält die Klägerin eine Bestätigung, dass eine Zusicherung über die Übernahme der vollständigen Kosten der Unterkunft nicht erteilt werden würde, da die Kosten der Unterkunft für einen Einpersonenhaushalt unangemessen hoch seien (Bl. 13 VA). Zwar sei die Klägerin anspruchsberechtigt nach dem SGB XII und der Umzug würde aus Sicht der Beklagten aus gesundheitlichen Gründen auch als notwendig anerkannt werden; dies rechtfertige aber nicht die Übernahme der zu hohen Kosten der Unterkunft und ebenfalls nicht der anfallenden Umzugskosten.

Mit Schreiben vom 11. Februar 2021 beantragte die spätere Prozessbevollmächtigte der Klägerin bei der Beklagten die Übernahme der vollständigen Unterkunfts- und der anfallenden Umzugskosten für die Klägerin (Bl. 1 VA). Der Umzug in die in Aussicht genommene Wohnung sei erforderlich, weil die Klägerin aufgrund ihrer Behinderungen bestimmte Anforderungen an die Wohnung habe, welche von ihrer derzeitigen Wohnung nicht erfüllt würden. Dies betreffe zum einen das wegen der Schlafstörungen bestehende Bedürfnis der Klägerin, einen kühlen und lärmgeschützten Schlafraum zu haben, der deshalb vom Aufenthaltsraum abgetrennt sein müsse. Zum anderen solle die Klägerin „elternnah“ wohnen. Sie legt zum Nachweis ein ärztliches Attest der Frau Dr. med. Johanna Kunze, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie - Zusatzbezeichnung Sozialmedizin vor (Bl. 3 d. VA). Dem Attest ist zu entnehmen, dass die Klägerin an massiven Schlafstörungen leidet und deshalb ein separater Schlafraum für notwendig gehalten wird. Daher sei, soweit die Kosten der Unterkunft nicht als Leistung der Grundsicherung bewilligt werden würden, hinsichtlich der übersteigenden Kosten eine Prüfung von Leistungen der Eingliederungshilfe anzustellen.

Mit Änderungsbescheid vom 8. Juni 2021 werden für den Zeitraum 07/2021 bis 10/2021 die Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII hinsichtlich der Kosten der Unterkunft für die neu angemietete Wohnung der Klägerin angepasst (Bl. 74 VA). Die tatsächlich zu zahlende Miete in Höhe von 372,26 EUR wird um 52,96 EUR auf das Maß der Angemessenheit gekürzt und die Betriebs- und Heizkosten in voller Höhe bewilligt.

Da die Beklagte eine Übernahme der vollständigen Kosten der Unterkunft nach den Bedarfsregelungen des 4. Kapitels des SGB XII nicht für möglich hielt, wurde der Antrag an das Sachgebiet Eingliederungsleistungen weitergeleitet. Dort wurde ein behinderungsbedingter Mehrbedarf als Leistung zur sozialen Teilhabe geprüft und unter dem 27. August 2021 ein Integrierter Teilhabeplan (ITP) erstellt, nachdem die amtsärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Innere Medizin – Amtsärztin Frau Dr. Tharandt vom 16. Juni 2021 vorlag (Bl. 91 VA). Die Stellungnahme enthält: „Da mitgeteilt wurde, dass die wohnungsbedingten Schlafprobleme aus der Wärme des Raumes infolge nicht verkleideter Heizungsrohre mit resultierenden nächtlichen Raumtemperaturen von über 20 Grad und nur eingeschränkten Lüftungsmöglichkeiten infolge des nächtlichen Lärms resultieren, ist ein Umzug in einen Raum mit verkleideten Heizungsrohren und in Richtung einer ruhigen Straße oder eines ruhigen Innenhofes sowie möglichst nicht nach Süden zielführend.“. Nach dem ITP ist die Klägerin wesentlich behindert und es besteht ein anhaltender Betreuungs- und Unterstützungsbedarf, der gegenwärtig durch die Eltern der Klägerin gedeckt wird. Wäre dies nicht der Fall, so müssten wohl Eingliederungshilfeleistungen in Form des ambulant betreuten Wohnens gewährt werden. Daher sei der Umzug behinderungsbedingt notwendig, die Übernahme der Kosten der Unterkunft und die des Umzuges werden als angemessen, geeignet und erforderlich eingeschätzt und daher befürwortet (Bl. 83 der Gerichtsakte [GA]).

Mit Schreiben ohne Rechtsmittelbelehrung vom 30. September 2021 teilt die Beklagte der Klägerin mit, dass die Umzugskosten nicht und die Kosten der Unterkunft nur in Höhe der angemessenen Kosten anerkannt würden (Bl. 99 VA). Mit Bescheid vom 20. Oktober 2021 gewährt die Beklagte der Klägerin die Übernahme der Kosten des Umzuges (Bl. 109 d. VA), lehnt jedoch mit weiterem Bescheid vom 20. Oktober 2021 die weitergehenden Kosten der Unterkunft, soweit sie über der allgemeinen Angemessenheitsgrenze für Kosten der Unterkunft liegen, ab.

Der hiergegen gerichtete Widerspruch vom 3. November 2021 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2022 zurückgewiesen, sodass die Klägerin unter dem 21. Juli 2022 Klage erhebt.

Die ab dem 1. Oktober 2022 um 23,91 EUR erhöhten Vorauszahlungen auf die kalten Betriebskosten und um 5,35 EUR erhöhten Vorauszahlungen auf die Heizkosten anerkennt die Beklagte mit Änderungsbescheid vom 6. Oktober 2022 (Bl. 24 GA). Im laufenden Gerichtsverfahren erstellt die Beklagte am 15. November 2022 einen aktualisierten ITP (Bl. 34 GA). Unter Nr. 4.1 auf Seite 2 des ITP wird die aktuelle Situation der Klägerin so beschrieben, dass die im gleichen Haus lebenden Eltern, der Klägerin ein selbständiges Leben in eigener Wohnung ermöglichen. Aus Nr. 4.3 ergibt sich das eingeschränkte Orientierungsvermögen der Klägerin und aus Nr. 4.4 die Alltagsunterstützung durch die Eltern der Klägerin (Wegetraining bei unbekannten Wegen, Kleidungskauf, Postbearbeitung, Unterstützung im Umgang mit Behörden, Begleitung zu Arztbesuchen, Unterstützung bei sozialer Teilhabe, Motivation zur Erhaltung der Gesundheit: Dehnungsübungen, Laufen). Auf Seite 3 des ITP werden anschließend im Einzelnen die – allesamt von den Eltern – geleisteten Hilfen den einzelnen Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen zugeordnet. Aus Nr. 18 des ITP ergibt sich, dass die Beklagte den Unterstützungsbedarf der Klägerin mit einer Stunde/Tag an Werktagen von Montag bis Freitag ansetzt, an denen die Klägerin in der WfbM tätig ist. An Samstagen und Sonntagen ist zudem in unterschiedlichem Umfang in Form von außerhäuslichen Freizeitaktivitäten ein Unterstützungsbedarf gegeben.

Die Klägerin trägt vor, dass die behinderungsbedingten Besonderheiten ihre Bedürfnisse der sozialen Teilhabe rechtfertigen, sodass die weiteren als unangemessen bewerteten Kosten der Unterkunft vom Eingliederungsträger zu übernehmen seien. Dies ergebe sich auch aus dem durch die Beklagte während des laufenden Gerichtsverfahrens erstellten ITP vom 15. November 2022, sodass die Beklagte offenkundig vom selben Sachverhalt ausgehe wie die Klägerseite. Die Einschätzung beider Seiten decke sich sogar beim Umfang des zu deckenden Teilhabebedarfs. Stelle man eine Berechnung für die Erbringung von Assistenzleistungen an, so ergebe sich ein monatlicher Bedarf in Höhe von ca. 1.200,00 EUR, welcher der Klägerin auch zu bewilligen wäre. Die eingesparten Assistenzleistungen würden daher eine Übernahme der ungedeckten Kosten der Unterkunft als Teilhabeleistung rechtfertigen.
 

Sie beantragt daher,

den Bescheid der Beklagten vom 20. Oktober 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2022 mit dem Az. 1076101480563 aufzuheben und die Beklagte beginnend ab dem 1. Juli 2021 zu monatlichen Geldleistungen zur sozialen Teilhabe gemäß der §§ 113 Abs. 2, 77 SGB IX in Höhe der Mietaufwendungen oberhalb der Angemessenheitsgrenze zu verurteilen.
 

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Die Beklagte wendet dazu ein, dass die Regelungen zur Teilhabe hinsichtlich der übersteigenden Kosten der Unterkunft nur als Teilhabeleistung in Betracht kämen, soweit wegen des Umfangs von Assistenzleistungen ein gesteigerter Wohnraumbedarf bestehe oder aber eine besondere behinderungsbedingte Ausstattung erforderlich oder vorhanden sei. Ohnehin ergebe sich aus dem ITP vom 15. November 2022, dass die Klägerin von Montag bis Freitag allenfalls einen Unterstützungsbedarf in der Zeit von 17 Uhr bis 18 Uhr habe und dieser Bedarf durch die Mutter der Klägerin gedeckt werde. Für das Wochenende könne der Unterstützungsbedarf nicht explizit benannt werden, da die Höhe von den außerhäuslichen Freizeitaktivitäten abhänge, welche die Mutter der Klägerin mit ihr am Wochenende telefonisch abspreche. Abends erhalte die Klägerin von ihr Unterstützung in Form von Sport-/Dehnungsübungen sowie bei der Verabreichung von Augentropfen, beim Öffnen der Post, bei Terminabsprachen, Hilfestellung/Anleitung zur Haushaltsführung und der Klärung von persönlichen Fragen und Sorgen. Weiterer Unterstützungsbedarf bestehe jedoch nicht. Obschon eine wesentliche Behinderung vorliege, erfolge die Kompensation des Teilhabebedarfs durch die Familie, sodass kein ungedeckter Bedarf bestehe. Eine Übernahme der ungedeckten Kosten der Unterkunft als Teilhabeleistung setze aber voraus, dass dieser „wegen“ des Assistenzbedarfes bestehe, was vorliegend gerade nicht der Fall sei.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte mit den Schriftsätzen nebst Anlagen, das Protokoll über die mündliche Verhandlung sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

1. Das Gericht kann vorliegend durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Parteien hierzu jeweils ihre Zustimmung erteilt haben. Im zunächst durchgeführten Termin zur mündlichen Verhandlung erfolgte eine Vertagung, da die Beklagte nochmals eine Prüfung anstellen wollte, ob über einen möglichen Überprüfungsantrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch noch nicht entschieden worden ist, was Einfluss auf das hiesige Verfahren hätte haben können. Da dies nicht der Fall war, erfolgte sodann jeweils die Einholung der Zustimmung zur Entscheidung ohne nochmalige mündliche Verhandlung.

 

2. Die zulässige Klage ist auch begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 20. Oktober 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2022 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Übernahme der Kosten der Unterkunft als Leistungen für Wohnraum nach dem Recht der Eingliederungshilfe in Form der Sozialen Teilhabe nach §§ 90, 99, 113 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) in Verbindung mit § 77 Abs. 1 SGB IX, soweit diese nicht als Kosten der Unterkunft nach dem Vierten Kapitel des SGB XII übernommen werden.

a) Die Voraussetzungen zur Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe, die sich aus §§ 9099 SGB IX ergeben, liegen bei der Klägerin unstreitig vor, da sie an einer wesentlichen Behinderung leidet. Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2 SGB IX, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann, § 99 Abs. 1 SGB IX. Sowohl aus dem unter dem 27. August 2021, als auch aus dem zuletzt während des laufenden Gerichtsverfahrens erstellten ITP vom 15. November 2022 folgt die Feststellung, dass die Klägerin wesentlich behindert ist. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und Lebensführung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können. Besondere Aufgabe der Sozialen Teilhabe ist es, die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, § 90 Abs. 1 und 5 SGB IX.

 

b) Sowohl nach dem Recht der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, als auch nach dem Recht der Eingliederungshilfe nach dem Sechsten Kapitel aus Teil 2 des SGB IX (Soziale Teilhabe) kann ein Leistungsberechtigter dem Grunde nach einen Anspruch auf Übernahme von Kosten der Unterkunft (SGB XII) bzw. auf Leistungen für Wohnraum (SGB IX) haben. Dabei ist die Eingliederungshilfe grundsätzlich als nachrangig gegenüber den Leistungen der Grundsicherung anzusehen (vgl. Luthe in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 4. Aufl., § 77 SGB IX (Stand: 01.10.2023), Rn. 7). Denn mit den Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII soll einem Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens ermöglicht werden, das der Würde des Menschen entspricht, § 1 Satz 1 SGB XII. Dies gilt es personen- und nicht eigenschaftsbezogen zu verstehen. Mithin kommt es für die Anspruchsberechtigung auf den Leistungsberechtigten als Person an und nicht auf eine gegebenenfalls bestehende krankheits- oder behinderungsbedingte Eigenschaft, die Voraussetzung für Ansprüche des Eingliederungshilferechts ist. Hingegen ist Ziel der Eingliederungshilfe, den Leistungsberechtigten die Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken, § 1 Satz 1 SGB IX, sodass sich die Ziele wesentlich unterscheiden und die Leistungen für Wohnraum gewährt werden, um behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen.

 

c) Die Grundsicherungs- und die Eingliederungshilfeleistungen können aber grundsätzlich parallel zueinander bestehen, § 93 Abs. 1 SGB IX.

Aufgrund des sich aus § 2 SGB XII und § 91 SGB IX ergebenden Nachranggrundsatzes als Strukturprinzip der Sozialleistungen, sind die unterschiedlichen Leistungstatbestände voneinander abzugrenzen. Denn der Gesetzgeber verfolgt mit den Leistungen jeweils unterschiedliche Ziele und knüpft die Anspruchsberechtigung an verschiedene Voraussetzungen. Wenn und soweit nach dem Recht der Sozialhilfe Leistungen gewährt werden, so genießen diese Vorrang gegenüber den Leistungen der Eingliederungshilfe. Entscheidend kommt es darauf an, dass die Leistungen auch tatsächlich erbracht werden und nicht, dass lediglich ein Anspruch auf andere Sozialleistungen besteht (vgl. insbesondere BSG, Urteil vom 29. September 2009 – B 8 SO 23/08 R, Rn. 20 – juris).
 

d) Die vorliegend bestehenden Mehrkosten für die Unterkunft haben einen behinderungsbedingten Ursprung und sind demnach nicht als Kosten der Unterkunft nach dem SGB XII, sondern als unechte Fachleistung nach dem SGB IX zu gewähren.

Die Beklagte hat im Rahmen des Änderungsbescheides vom 8. Juni 2021 über die Gewährung von Grundsicherungsleistungen den Bedarf für die Kosten der Unterkunft auf das angemessene Maß beschränkt. Zwar obliegt es der Beklagten, im Rahmen der einzelfallbezogenen Prüfung auch solche Kriterien in die Bedarfsermittlung einzustellen, die einen höheren Bedarf rechtfertigen – der also oberhalb der Grenze der als angemessen geltenden Kosten der Unterkunft liegt. Allerdings reicht diese Einzelfallbetrachtung wiederum nur so weit, als nicht andere Sozialleistungen diesen als spezialgesetzliche Regelung vorgehen.

Der Gesetzgeber hat für den Bereich der Kosten der Unterkunft nach § 42a SGB XII Regelungen und damit eine Grenze dafür geschaffen, was an Kosten der Unterkunft noch als Grundsicherungsleistungen zu gewähren ist. Deutlich wird dies bei den Kosten der Unterkunft für besondere Wohnformen, auch wenn vorliegend eine solche nicht streitgegenständlich ist (§ 42a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII, der die Absätze 5 und 6 dieser Norm für anwendbar erklärt). Für die besondere Wohnform können unter bestimmten Voraussetzungen Kosten der Unterkunft nach dem SGB XII gewährt werden, die im Einzelfall um bis zu 25 % oberhalb der angemessenen Kosten liegen. Für die auch noch darüber liegenden Kosten der Unterkunft verweist Abs. 6 auf Teil 2 des SGB IX, mithin auf die Leistungen der Eingliederungshilfe. Dies verdeutlicht, dass der Gesetzgeber dem Rangverhältnis der Leistungstatbestände und der Kappung der Kostentragung durch Schaffung einer Obergrenze eine Struktur gegeben hat, die es auch auf nicht ausdrücklich geregelte Tatbestände entsprechend anzuwenden gilt.

Denn soweit die Klägerin im hiesigen Verfahren Ansprüche auf Gewährung der vollen Kosten der Unterkunft geltend macht und den tatsächlich nicht durch Grundsicherungsleistungen gedeckten Anteil als Leistungen zur Sozialen Teilhabe begehrt, beruft sie sich zu Recht auf ihre behinderungsbedingte Situation die es erforderlich macht, die Differenz als Leistungen der Eingliederungshilfe zu gewähren. Dies, weil die Einzelfallbezogenheit bei den Kosten der Unterkunft so weit nicht reicht, um allen behinderungsbedingten Anforderungen gerecht zu werden; Ziel der Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII ist eben nur die Ermöglichung eines Lebens, das objektiv der Würde des Menschen entspricht und dient nicht dazu, behinderungsbedingte Einschränkungen auszugleichen.
 

e) Der auf den angemessenen Teil beschränkte Bedarf an Kosten der Unterkunft nach den §§ 42a, 35 SGB XII führt zu einem ungedeckten Bedarf an Kosten der Unterkunft, der dem Recht der Eingliederungshilfe in Form der Sozialen Teilhabe zuzuordnen ist. Die ungedeckten Kosten der Unterkunft stellen sich vorliegend als Leistungen für Wohnraum und damit als Leistungen der Sozialen Teilhabe dar, die sowohl geeignet als auch erforderlich sind, um die Klägerin zu einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum und Sozialraum zu befähigen.

Nach § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 SGB IX werden Leistungen zur Sozialen Teilhabe erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, soweit sie nicht nach den Kapiteln 3 bis 5 von Teil 2 des SGB IX erbracht werden. Hierzu gehört, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen. Unter anderem bestimmen sich die Leistungen für Wohnraum nach den §§ 77 bis 84, soweit sich aus Teil 2 des SGB IX nichts Abweichendes ergibt. Im hiesigen Fall bestimmen sich die Leistungen allein nach § 77 SGB IX, da kein Fall der §§ 78 bis 84 SGB IX vorliegt.

Neben Assistenzleistungen nach § 78 SGB IX stellen auch Leistungen für Wohnraum Leistungen zur Sozialen Teilhabe dar, § 76 Abs. 2 SGB IX. Dabei galt schon zu Zeiten der alten Rechtslage, mithin vor Erlass des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), aber auch fortlaufend in ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), ein individueller und personenzentrierter Maßstab, der regelmäßig einer pauschalierenden Betrachtung entgegensteht (vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 2018 – B 8 SO 7/17 R – juris, Rn. 17). Leistungen für Wohnraum werden nach § 77 Abs. 1 SGB IX erbracht, um Leistungsberechtigten zu Wohnraum zu verhelfen, der zur Führung eines möglichst selbstbestimmten, eigenverantwortlichen Lebens geeignet ist. Die Leistungen umfassen Leistungen für die Beschaffung, den Umbau, die Ausstattung und die Erhaltung von Wohnraum, der den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen entspricht.

Sowohl aus den bereits in Bezug genommenen ITP, als auch aus dem ärztlichen Zeugnis und den dazu gemachten Ausführungen ergibt sich die Notwendigkeit für die Klägerin, die streitgegenständliche Wohnung anzumieten. Es gilt also die Wohnung der Klägerin zu beschaffen und ihr zu erhalten. Aufgrund ihrer behinderungsbedingten Einschränkungen ist es nach ärztlicher Einschätzung wegen massiver Schlafstörungen zielführend, dass die Wohnung der Klägerin über einen separaten Schlafraum verfügt, damit er vom beheizten Rest der Wohnung abgetrennt ist. Zudem muss das Zimmer zu einer lärmfreien Seite des Hauses liegen, damit nachts gelüftet werden kann. Diese räumlichen Anforderungen erfüllt selbstverständlich nicht nur die streitgegenständliche Wohnung. Allerdings treten die weiteren behinderungsbedingten Umstände der Klägerin hinzu, welche die streitgegenständliche Wohnung bis auf Weiteres alternativlos machen. Denn die unmittelbare Nähe der streitgegenständlichen Wohnung zur Wohnung der Mutter als Bezugsperson erfüllt eine andere Wohnung derzeit nicht. Mit ebendieser Begründung erfolgte durch die Beklagte die Kostenübernahme der angefallenen Umzugskosten. Zwischen den Parteien ist es unstreitig, dass der Umzug der Klägerin in die neue Wohnung behinderungsbedingt notwendig war. Insofern hatte die Beklagte richtigerweise eine Hilfebedarfsermittlung angestellt und auch im laufenden Gerichtsverfahren eine Evaluation des erstellten ITP vorgenommen. Damit einher geht auch zwangsläufig die Notwendigkeit und Erforderlichkeit für die Anmietung der streitgegenständlichen Wohnung.

Allerdings ungeachtet des sich bestätigenden Ergebnisses des ersten ITP, lehnte die Beklagte die Übernahme der ungedeckten Kosten der Unterkunft als Leistung der Eingliederungshilfe in Form der Sozialen Teilhabe deshalb ab, da in der Wohnung der Klägerin keine Assistenzleistungen im Sinne des § 78 SGB IX erbracht werden. Die Ablehnung der Übernahme der ungedeckten Kosten fußt also auf der Annahme der Beklagten, dass Aufwendungen für Wohnraum oberhalb der Angemessenheitsgrenze nach § 42a SGB XII nur dann als Leistungen für Wohnraum vom Leistungsträger nach § 77 Abs. 2 SGB IX zu übernehmen sind, wenn und soweit wegen des Umfangs von Assistenzleistungen ein gesteigerter Wohnraumbedarf besteht. Zwar ist es richtig, dass § 77 Abs. 2 SGB IX die Erbringung von Assistenzleistungen im Sinne des § 78 SGB IX voraussetzt und dass der Gesetzgeber eine Kausalität zwischen dem gesteigerten Wohnraumbedarf und den Assistenzleistungen fordert.

Als Assistenzleistungen haben hier auch ausschließlich diejenigen Leistungen zu gelten, die als Leistungen der Eingliederungshilfe gewährt und auch tatsächlich erbracht werden. Nicht als kausale Assistenzleistungen, die einen gesteigerten Wohnraumbedarf rechtfertigen könnten, sind die Hilfestellungen der Eltern der Klägerin zu werten. Denn nicht nur würde dies regelmäßig zu erheblichen Ermittlungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten führen, wenn auch familiäre Hilfestellungen als solche Assistenzleistungen gelten würden, die nicht im Rahmen einer Hilfebedarfsermittlung festgestellt worden sind; es ist auch schon nicht plausibel, dass diese Hilfestellungen tatsächlich kausal zu einem gesteigerten Wohnraumbedarf führen. Der konkrete Bedarf folgt vorliegend aus der Behinderung der Klägerin, die besondere Anforderungen an die Unterkunft auslöst.

Aus § 77 Abs. 2 SGB IX leitet sich keine Ausschließlichkeit ab, mithin kann aus der geforderten Kausalität nicht gefolgert werden, dass der Gesetzgeber eine Übernahme von ungedeckten Kosten der Unterkunft ausschließlich für den Fall vorsehen wollte, in dem ein gesteigerter Wohnraumbedarf kausal auf Assistenzleistungen im Sinne des § 78 SGB IX zurückgeht.

Der Begründung zum „Gesetzentwurf der Bundesregierung – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG)“ kann in Bezug auf § 77 SGB IX entnommen werden, dass der gesteigerte Wohnraumbedarf wegen der Assistenzleistungen lediglich als eine mögliche Variante gesehen wurde, nicht jedoch, dass eine Ausschließlichkeit beabsichtigt war: „Absatz 2 berücksichtigt, dass Menschen mit Behinderungen oftmals einen gesteigerten Wohnraumbedarf haben, beispielweise für Assistenten, deren Anwesenheit rund um die Uhr notwendig ist. Hierbei handelt es sich nicht um einen Bedarf an Wohnraum im Rahmen des Lebensunterhalts, sondern um eine Fachleistung.“ (vgl. BT-Drucks. 18/9522, S. 261).

Es geht bei § 77 Abs. 2 SGB IX also um solche Situationen eines Leistungsberechtigten, in denen er in der eigenen Häuslichkeit Assistenzleistungen in einem solchen Umfang erhält, dass nicht er als Leistungsberechtigter, sondern mindestens eine weitere Person dort einen zusätzlichen Wohnraumbedarf auslöst, der nicht als Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewähren ist, da zwischen dem Leistungsberechtigten und dem oder den Assistenten keine Einstandsgemeinschaft besteht. Ein Fall der Assistenzleitungen und ein damit einhergehender gesteigerter Wohnraumbedarf stellt aber nicht die einzige Konstellation von etwa erforderlichen höheren Kosten der Unterkunft dar, die auf eine wesentliche Behinderung zurückgehen (so wohl auch BSG, Urteil vom 4. April 2019 – B 8 SO 12/17 R –, BSGE 128, 43-54, SozR 4-3500 § 53 Nr 9).

Folglich können behinderungsbedingte Mehrbedarfe an Kosten der Unterkunft auf anderen behinderungsbedingten Gründen basieren, die von Existenzsicherungsleistungen nicht abgedeckt werden und einen Leistungsanspruch nach § 77 Abs. 1 SGB IX begründen (so Schweitzer in BeckOK SozR, 72. Ed. 1.3.2024, SGB IX § 77 Rn. 7).

Zudem lässt die Beklagte vorliegend außer Acht, dass der Gesetzgeber mit dem Erlass des BTHG tiefgreifende Änderungen im Bereich des Eingliederungshilferechts vorgenommen hat, die insbesondere der Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) dienten. Insoweit wurde auch § 1 SGB IX dahingehend erweitert, dass nunmehr nicht nur eine gleichberechtigte Teilhabe, sondern eine „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe“ sicherzustellen ist. Unter Berücksichtigung dessen, kommt die Beklagte im hiesigen Fall ihrem sich seit Erlass des BTHG aus § 95 Satz 1 SGB IX ergebenden Sicherstellungsauftrag nicht vollständig nach, indem sie sich auf die Übernahme der Umzugskosten beschränkt und die ungedeckten Kosten der Unterkunft nicht als Leistungen der Eingliederungshilfe übernimmt.

Nach alledem war der Klage vollumfänglich stattzugeben.

 

3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183 Satz 1, 193 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichts-gesetz (SGG) und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

 

4. Die Berufung bedarf nicht der Zulassung durch das Sozialgericht, da vorliegend laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betroffen sind, § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG.

Rechtskraft
Aus
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