Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15. Januar 2021 geändert.
Der Antrag des Antragstellers auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die Vollziehung des Bescheides der Antragsgegnerin vom 18. Oktober 2019 wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 10.055,15 Euro festgesetzt.
Gründe:
I.
Der Antragsteller wehrt sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Vollziehung des Bescheides der Antragsgegnerin vom 18. Oktober 2019, mit dem diese das Honorar des Antragstellers unter der Abrechnungsnummer N01 für das Quartal 1/2019 neu auf 40.220,59 Euro festgesetzt und die diesen Betrag übersteigende ausgezahlte Vergütung zurückgefordert hat.
Der Antragsteller nimmt als zugelassener Vertragszahnarzt an der vertragszahnärztlichen Versorgung teil. Er übt seine vertragszahnärztliche Tätigkeit mit Genehmigung des Zulassungsausschusses zu jeweils 50 % am Vertragszahnarztsitz M. (Abrechnungsnummer N01) sowie am Vertragszahnarztsitz C. (Abrechnungsnummer N02) aus. Für den Sitz in F. ist die Beschäftigung eines angestellten Zahnarztes genehmigt. Darüber hinaus beschäftigte der Antragsteller im Quartal 1/2019 bis zum 28. Februar 2019 (Ende des Beschäftigungsverhältnisses) einen Vorbereitungsassistenten, jeweils halbtags für beide Sitze (Genehmigungsbescheide der Antragsgegnerin vom 18. Oktober 2018).
Ihren Bescheid vom 18. Oktober 2019 begründete die Antragsgegnerin im Wesentlichen wie folgt: Der Antragsteller haben die ihm genehmigte Tätigkeitsform missbraucht. Er habe im Rahmen eines am 21. August 2019 geführten Gesprächs eingeräumt, dass sowohl der Vorbereitungsassistent als auch der angestellte Zahnarzt unabhängig voneinander je nach Bedarf in beiden und im Rahmen der aufsuchenden Versorgung für beide Praxen tätig gewesen seien. Der Anteil der konservierend-chirurgischen (KCH) Mehrfachbehandlungen für die Abrechnungsnummer N01 habe im Quartal 1/2019 6,70 % gegenüber einer durchschnittlichen Mehrfachbehandlungsquote aller bei der Antragsgegnerin gemeldeten Praxisgemeinschaften von lediglich 3,85 % betragen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei auch unterhalb eines Anteils der Patientenidentität von 20 % ein Formenmissbrauch anzunehmen, wenn eine ungewöhnlich hohe Patientenidentität mit weiteren Hinweisen auf einen Formenmissbrauch zusammentreffe. Derartige Hinweise seien vorliegend der Mehrfachansatz der nur einmal pro Kalenderjahr abrechenbaren Position Nr. 107 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes für zahnärztliche Leistungen (BEMA) innerhalb eines Quartals in fünf Fällen sowie der Umstand, dass 10 Patienten in Pflegeeinrichtungen jeweils unter beiden Abrechnungsnummern abgerechnet worden seien. Derartige Mehrfachbehandlungen in dem vom Antragsteller betriebenen Praxiskonstrukt bärgen nicht nur das Risiko unzulässiger Mehrfachansätze, sondern erschwerten es den Selbstverwaltungskörperschaften zudem, ihren Überprüfungspflichten nach §§ 106 ff. Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) nachzukommen. Des Weiteren führte die Antragsgegnerin Abrechnungsauffälligkeiten bei vier Patientinnen bzw. Patienten auf: Unter anderem sei bei der Patientin O. am 15. März 2019 in der Praxis N02 für den Zahn 33 eine endodontische Behandlung und am 19. März 2019 in der Praxis N01 eine Nachbehandlung abgerechnet worden. Auf Nachfrage, weshalb er eine Nachbehandlung ohne vorherige chirurgische Leistung abgerechnet habe, habe der Antragsteller mitgeteilt, dass der Zahn 33 am 18. März 2019 im Notdienst entfernt worden sei. Eine Recherche insoweit habe jedoch ergeben, dass der Zahn 33 weder in der Praxis des Antragstellers noch einer anderen Praxis extrahiert worden sei. Zudem sei bei der Patientin K. eine systematische PAR-Behandlung an Zähnen abgerechnet worden, die laut Parodontalstatus als fehlend gekennzeichnet gewesen seien.
Der danach festgestellte Formenmissbrauch machte eine Korrektur des Honorarbescheides erforderlich. Dabei habe sie, die Antragstellerin, das Recht, die Honorarrückforderung im Wege pauschalierter Schätzung zu ermitteln. Von der ihr somit eingeräumten Schätzungsbefugnis mache sie Gebrauch, indem sie das Honorar des Antragstellers ausgehend vom Fallwert der Vergleichsgruppe der nordrheinischen Vertragszahnärzte neu berechne. Hierbei ergab sich die im Bescheidtenor ausgewiesene Überzahlung, mit der die Antragsgegnerin das Abrechnungskonto des Antragstellers für das Quartal 4/2019 belastete (Buchungsbeleg vom 8. Januar 2020).
Gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller mit Schreiben vom 15. November 2019 am 18. November 2019 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er u.a. aus: Der ihm vorgeworfene Formenmissbrauch liege nicht vor. Während es bei Praxisgemeinschaften, die Räumlichkeiten gemeinsam nutzten, in der Regel sofort auffalle, wenn ein Patient die Praxis mehrfach betrete und durch einen anderen, der Gemeinschaft angehörenden Zahnarzt behandelt werden wolle, sei dies bei der hier vorliegenden Konstellation von Praxen an unterschiedlichen Orten so gut wie ausgeschlossen. Im Übrigen könnten Patienten sich selbst aussuchen, ob sie sich innerhalb eines Quartals in unterschiedlichen Praxen des Antragstellers behandeln ließen. Bei der Umgehung von Ausschlusstatbeständen seien lediglich 5 Patienten mit einem Abrechnungswert von 90,00 Euro betroffen gewesen. Die Hausbesuche oder Behandlungen in Pflegeeinrichtungen seien von derjenigen Praxis abgerechnet worden, von der aus der Hausbesuch stattgefunden habe. Es sei nicht geregelt, dass Patienten, die im Hausbesuch oder einer Pflegeeinrichtung behandelt würden, nur von einer Praxis aus angefahren werden dürften. Hinsichtlich der Patientin O. habe er bereits im Gespräch am 21. August 2019 darauf hingewiesen, dass er sich auf die Aussage der Patientin habe verlassen müssen. Bei der Patienten K. sei ein Übertragungsfehler einzuräumen. Wenn es nach allem zu einer Korrektur des ursprünglichen Abrechnungsbescheides kommen dürfe, dann nur in festgestellten Einzelfällen, nicht jedoch in dem von der Antragsgegnerin angenommenen Ausmaß.
Zudem hat der Antragsteller am 7. Januar 2020 einstweiligen Rechtsschutz durch das Sozialgericht (SG) Düsseldorf beantragt. Ergänzend zu seinem Vorbringen im Widerspruchsbescheid hat er vorgetragen: Die Antragsgegnerin habe seine Einlassungen beim Gespräch am 21. August 2019 missverstanden. Tatsache sei, dass es nur Behandlungen innerhalb der zugelassenen Tätigkeiten gegeben habe. Im Übrigen gelte: Wenn – entsprechend der Rechtsprechung des BSG – in einer Praxisgemeinschaft ein Missbrauch angenommen werde bei 20 % Patientenidentität, könne dieser Wert in keiner Weise angenommen werden bei einer auf zwei Praxissitze verteilten Einzelpraxis, bei der es nur einen berechtigten Abrechner gebe. Selbst wenn bei Praxisgemeinschaften lediglich 3,85 % Mehrfachbehandlungen vorgekommen sein sollten, habe dies aus den im Widerspruchsverfahren genannten Gründen keine Auswirkungen auf eine Praxis, wie er sie führe. Völlig unangemessen seien schließlich die Rechtsfolgen, welche die Antragsgegnerin aus ihrer Annahme eines Formenmissbrauchs gezogen habe.
Die Antragsgegnerin ist dem Antrag entgegengetreten. Sie hat im Wesentlichen auf den angegriffenen Bescheid Bezug genommen.
Das SG hat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 18. Oktober 2019 sowie die Aufhebung seiner Vollziehung angeordnet (Beschluss vom 15. Januar 2021). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Es stehe nach summarischer Prüfung bereits nicht fest, dass der Antragsteller den für den Vertragszahnarztsitz in F. genehmigten angestellten Zahnarzt tatsächlich auch für den Vertragszahnarztsitz in Bergheim eingesetzt habe. Es sei nicht auszuschließen, dass es bei dem Gespräch am 21. August 2019 insoweit zu Missverständnissen gekommen sei. Selbst wenn der angestellte Zahnarzt in unzulässiger Weise in Bergheim tätig geworden sein sollte, würde dies nicht die mit dem angegriffenen Bescheid durchgeführte Richtigstellung für den Vertragszahnarztsitz in F. rechtfertigen. Auch wenn man die vom BSG entwickelten Grundsätze zum Rechtsformmissbrauch bei Praxisgemeinschaften auf die hier zu beurteilende Konstruktion eines Vertragszahnarztes mit zwei Sitzen übertrage, spreche die von der Antragsgegnerin angegebene Quote der Patientenidentität der Höhe nach von 6,7 % noch nicht für einen Gestaltungsmissbrauch, zumal nach § 10 Abs. 2 der Richtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Spitzenverbände der Krankenkassen zum Inhalt und zur Durchführung der Abrechnungsprüfungen (AbrPr-RL) eine Abrechnungsauffälligkeit (erst) bei der Überschreitung eines Grenzwertes von 20 % Patientenidentität zu vermuten sei. Auch die weiteren hierzu von der Antragsgegnerin herangezogenen Indizien überzeugten nicht. Zwar scheine die Abrechnung von Patienten in Pflegeheimen unter beiden Abrechnungsnummern dafür zu sprechen, dass der Antragsteller keine deutliche Trennung zwischen beiden Vertragszahnarztsitzen vorgenommen habe. Jedoch habe nur bei zwei der vier aufgeführten Einzelfälle eine Behandlung unter beiden Abrechnungsnummern stattgefunden. Die beiden anderen Einzelfälle hätten keinen Bezug zu einem Gestaltungsmissbrauch. Gleiches gelte für die Mehrfachabrechnung der Position 107 BEMA. Vor diesem Hintergrund erschließe sich auch die Grundlage für die Schätzung der Honorarneufestsetzung nicht. Namentlich stehe der Anteil der Patientenidentität von 6,7 % nicht im Verhältnis zur vorgenommenen Reduzierung des ursprünglichen Honorars.
Gegen diesen ihr am 25. Januar 2021 hat die Antragsgegnerin am 24. Februar 2021 Beschwerde erhoben. Sie trägt insbesondere vor: In tatsächlicher Hinsicht lägen der Rückforderung ein Statusmangel in Gestalt eines nicht genehmigten angestellten Zahnarztes, ein Verstoß gegen Abrechnungsvorschriften sowie ein Missbrauch zulässiger Gestaltungsformen zugrunde. Soweit der Antragsteller meine, nicht wissen zu können, ob derselbe Patient in demselben Quartal bereits in der jeweils anderen Praxis behandelt worden sei, sei es seine vertragszahnärztliche Pflicht, sich dieses Wissen zu verschaffen. Bei den im Altenheim behandelten Patienten sei dies sehr leicht zu erkennen gewesen. Der Antragsteller sei gehalten, Patienten auf die eingeschränkte Wechselmöglichkeit innerhalb eines Quartals hinzuweisen. Zudem habe ihm klar sein müssen, dass er sich durch die Abrechnung über jeweils eine andere Praxis für diese Praxis ein zusätzliches Punktzahlvolumen verschaffe und so die Mechanismen der Leistungsbegrenzung unterlaufe. Angesichts dessen sei auch die Rechtsprechung zum Rechtsformmissbrauch auf die vorliegende Konstellation zu übertragen. Bezüglich der Praxis in Bergheim sei es zu Überschneidungen in Höhe von 21,38 % gekommen. Der diesbezügliche Rückforderungsbescheid vom 18. Oktober 2019 sei bestandskräftig geworden. Soweit im Übrigen das SG auf § 10 Abs. 2 AbrPr-RL verwiesen habe, seien die Werte aus dem vertragsärztlichen Bereich im vertragszahnärztlichen Bereich weder normativ verbindlich noch sonst auf diesen übertragbar.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15. Januar 2021 abzuändern und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung und Aufhebung der Vollziehung des Bescheides vom 18. Oktober 2019 abzulehnen.
Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückzuweisen.
Er hält den Beschluss des SG für richtig und trägt ergänzend vor: Der Auffangtatbestand der „Patientenidentität“ dürfte gegenstandslos sein, wenn der zugelassene Vertragszahnarzt sämtliche Behandlungen selbst durchgeführt habe. Wenn in einem solchen Fall Behandlungen durchgeführt würden, die nicht hätten durchgeführt werden dürfen, liege kein Missbrauch einer Kooperationsform vor, sondern einfach eine unrichtige Abrechnung, die entsprechend berichtigt werden müsse. Einer Schätzung bedürfe es dann nicht. Sämtliche streitigen Behandlungen seien vom Antragsteller persönlich durchgeführt worden. Es komme insoweit nicht darauf an, was im Protokoll des Gesprächs vom 21. August 2019 stehe, sondern, was tatsächlich passiert sei. Das Gespräch vom 21. August 2019 stelle zudem keine wirksame Anhörung dar, weil es dort um andere Inhalte gegangen sei als diejenigen, die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens seien. Soweit die Antragsgegnerin ihrer Schadensberechnung einen durchschnittlichen Fallwert von 83,53 zugrunde gelegt habe, werde dies bestritten.
Im Übrigen wird auf die Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen worden. Der Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin ist beigezogen worden.
II.
Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Beschwerde ist begründet. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. Oktober 2019 und die Aufhebung seiner Vollziehung ist abzulehnen.
1. Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, diese ganz oder teilweise anordnen. Die aufschiebende Wirkung entfällt bei Honorarberichtigungs- und Rückforderungsbescheiden im vertragszahnärztlichen Bereich kraft Gesetzes gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG, § 85 Abs. 4 Satz 6 SGB V.
a) Die Entscheidung, ob die aufschiebende Wirkung ausnahmsweise dennoch durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Aufschubinteresses der Antragstellerin einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Dabei steht eine Prüfung der Erfolgsaussichten zunächst im Vordergrund: Am Vollzug eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts besteht kein öffentliches Interesse. Umgekehrt überwiegt das öffentliche Interesse grundsätzlich, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist. Sind die Erfolgsaussichten nicht offensichtlich, müssen die für und gegen eine sofortige Vollziehung sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abgewogen werden. Dabei kommt in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG vor allem dem Grad der Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides Bedeutung zu. Daneben können aber auch wirtschaftliche Gesichtspunkte abhängig davon eine Rolle spielen, in welchem Umfang die sofortige Vollziehung für den Adressaten des Bescheides eine besondere Härte darstellt (vgl. zu diesen Kriterien Senat, Beschluss vom 28. August 2020 – L 11 KA 60/18 B ER – juris; Beschluss vom 20 März 2019 – L 11 KA 76/18 B ER - GesR 2019, 446 ff.; Beschluss vom 22. Mai 2019 - L 11 KA 70/18 B ER - MedR 2020, 248 ff.; jeweils m.w.N.).
b) Der Senat konkretisiert diese Prüfungsmaßstäbe wie folgt:
aa) Da § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 85 Abs. 4 Satz6 SGB V das Vollzugsrisiko bei Honorarfestsetzungs- und -änderungsbescheiden grundsätzlich auf den Vertragszahnarzt verlagert, können nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Suspensivinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlich erscheinen lassen. Hierfür reicht es nicht schon aus, dass im Rechtsbehelfsverfahren möglicherweise noch ergänzende Tatsachenfeststellungen zu treffen sind. Maßgebend ist vielmehr, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht (entsprechend zu
§ 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Januar 2011 –
L 8 R 864/10 B ER – NZS 2011, 906 ff. – juris-Rn. 22 m.w.N.; Beschluss vom 16. März 2022 – L 8 BA 141/21 B ER – juris-Rn. 5 m.w.N.).
bb) Maßstab zur Darlegung überwiegender Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides ist derjenige der Glaubhaftmachung (Rechtsgedanke des
§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 294 Zivilprozessordnung; vgl. hierzu LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. April 2020 – L 8 BA 266/19 B ER – juris-Rn. 15; ausführlich Burkiczak in jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 86b Rn. 178 m.w.N.).
cc) Ob vor Erlass des im einstweiligen Rechtsschutz angegriffenen Bescheides eine den Anforderungen des § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) genügende Anhörung stattgefunden hat, bedarf im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dann keiner abschließenden Entscheidung, wenn zum einen der Antragsteller in diesem Verfahren ausreichend Gelegenheit zur Darlegung des Sachverhaltes und seiner Rechtsauffassung hat und ein möglicher Anhörungsmangel unter den Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB X noch im Widerspruchsverfahren geheilt werden kann.
2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze bestehen im Rahmen der im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung derzeit keine überwiegenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides der Antragsgegnerin vom 18. Oktober 2019.
a) Rechtsgrundlage für die nachgehende sachlich-rechnerische Richtigstellung ist
§ 106d Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V. Danach stellt die Kassenzahnärztliche Vereinigung die sachliche und rechnerische Richtigkeit der Abrechnungen der Vertragszahnärzte fest. Die damit verbundene Prüfung zielt auf die Feststellung, ob die Leistungen rechtmäßig, also im Einklang mit den gesetzlichen, vertraglichen und satzungsrechtlichen Vorschriften des Vertragsarztrechts – mit Ausnahme des Wirtschaftlichkeitsgebotes – erbracht und abgerechnet worden sind (BSG, Urteil vom 26. Januar 2022 – B 6 KA 8/21 R – zur Veröffentlichung vorgesehen in: SozR 4-5531 Nr. 31148 Nr. 1; Urteil vom 13. Mai 2020 –
B 6 KA 24/18 R – SozR 4-2500 § 106d Nr. 9; Urteil vom 24. Oktober 2018 – B 6 KA 42/17 R – SozR 4-2500 § 106a Nr. 19). Die Befugnis zu Richtigstellungen besteht auch bei bereits erlassenem Honorarbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit (nachgehende Richtigstellung). Sie löst in diesem Fall eine Rückzahlungsverpflichtung des Honorarempfängers aus (vgl. zu beidem näher BSG, Urteil vom 24. Oktober 2018 – B 6 KA 34/17 R - SozR 4-2500 § 106d Nr. 2).
b) Die Antragsgegnerin stützt ihre Richtigstellung zunächst maßgeblich auf den Vorwurf des Missbrauchs der dem Antragsteller genehmigten Gestaltungsform der vertragszahnärztlichen Tätigkeit an zwei verschiedenen Praxissitzen unter Einschaltung eines angestellten Zahnarztes bzw. eines Vorbereitungsassistenten. Insoweit erweist sich der angegriffene Bescheid jedenfalls nicht als offensichtlich rechtswidrig.
aa) In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass der Missbrauch vertrags(zahn)arztrechtlich zulässiger Gestaltungsformen die Kassen(zahn)ärztliche Vereinigung zu einer sachlich-rechnerischen Richtigstellung berechtigen kann. Die insoweit hauptsächlich anerkannte Fallgruppe ist diejenige der Führung einer Praxisgemeinschaft so, als ob eine Gemeinschaftspraxis bestünde (vgl. exemplarisch BSG, Urteil vom 22. März 2006 –
B 6 KA 76/04 R – BSGE 96, 99 ff.). Ebenso hat das BSG aber einen Formenmissbrauch auch in einem Fall anerkannt, in dem eine genehmigte Gemeinschaftspraxis tatsächlich nicht betrieben wurde, sondern einer der beiden vermeintlichen Praxispartner in Wahrheit zu dem anderen in einem nicht genehmigten Anstellungsverhältnis stand (BSG, Urteil vom 23. Juni 2010 – B 6 KA 7/09 R – BSGE 106, 222 ff.).
bb) Ob die genannten Fallgruppen um die hier zu beurteilende Konstellation zu erweitern sind, in welcher dem Vorwurf der Antragsgegnerin zufolge der Antragsteller die genehmigte Tätigkeit als Vertragszahnarzt an zwei Praxisstandorten mit zumindest einer auf einen Standort beschränkten Anstellungsgenehmigung missbraucht, um unter letztlich rein bedarfsorientiertem Einsatz von drei Zahnärzten an zwei Standorten gebührenordnungsrechtlich nicht zulässige Mehrfachabrechnungen zu verschleiern und Leistungsbegrenzungen zu unterlaufen, ist eine offene Rechtsfrage. Nach dem weitgefassten Begriff des Gestaltungsmissbrauchs im Sinne der Rechtsprechung des BSG liegt ein solcher immer dann vor, wenn die formal gewählte Rechtsform nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2020 – a.a.O., BSG, Beschluss vom 11. Oktober 2017 –
B 6 KA 29/17 B – juris-Rn. 8). Ob ein solcher hier besteht, kann im vorliegenden Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz nicht abschließend beantwortet werden, weil sich die Antwort nur mit Blick auf die Bewertung der tatsächlichen Gesichtspunkte erschließt, hinsichtlich derer nur eine summarische Prüfung möglich ist.
(1) Dass auch die vorliegend zu beurteilende Gestaltungsform zumindest die Möglichkeit des Rechtsmissbrauchs eröffnet, erschließt sich allerdings unmittelbar aus dem Vortrag des Antragstellers hier und im Widerspruchsverfahren. Wenn der Antragsteller nämlich selbst vorträgt, es sei bei der ihm genehmigten Tätigkeitsform „so gut wie ausgeschlossen, dass auffällt, wenn eine Behandlung in der anderen Praxis bereits stattgefunden haben könnte“, räumt er zugleich ein, dass er offenbar sehenden Auges keine Vorkehrungen getroffen hat, Mehrfachbehandlungen selbst oder jedenfalls deren Abrechnung zu verhindern. Hierzu ist er indessen vertragszahnärztlich als einziger Abrechner verpflichtet. Das gilt umso mehr, wenn die Behandlungen auch noch durch unterschiedliche Zahnärzte erfolgen.
(2) Die Antragsgegnerin hat in dem angegriffenen Bescheid zudem tatsächliche Gesichtspunkte dargelegt, die im Falle ihres Vorliegens dafür sprechen, dass sich die durch die genehmigte Gestaltungsform eröffnete Möglichkeit zu missbräuchlicher Abrechnung auch realisiert hat. Das gilt namentlich für die Mehrfachabrechnung der Position 107 BEMA, aber auch für die Abrechnung von Hausbesuchen bei denselben Pflegebedürftigen unter beiden Praxisnummern. Zudem wirft die Antragsgegnerin dem Antragsteller vor, er habe im Gespräch vom 21. August 2019 selbst eingeräumt, den angestellten Zahnarzt unabhängig davon, dass die Genehmigung nur für einen Praxisstandort erteilt worden sei, an beiden Standorten nach Bedarf eingesetzt zu haben. Schließlich hat die Antragsgegnerin einen gegenüber der Fachgruppe deutlich erhöhten Fallwert festgestellt.
(3) Dass zu den von der Antragsgegnerin erhobenen Vorwürfen im Hauptsacheverfahren ggf. noch ergänzende Feststellungen getroffen werden müssen, begründet nach den oben dargelegten Grundsätzen keine überwiegenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides. Der Antragsteller hat bislang jedenfalls einen alternativen Sachverhalt, auch unter eingedenk der hierfür im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz durch das Mittel der Glaubhaftmachung eröffneten rechtlichen Möglichkeiten, nicht glaubhaft gemacht. Da er hierzu sowohl im Widerspruchsverfahren als auch im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz die Gelegenheit hatte, kann der Verwertung des Gesprächs vom
21. August 2019 nach den dargelegten Grundsätzen auch nicht entgegengehalten werden, es stelle keine wirksame Anhörung im Sinne von § 24 Abs. 1 SGB X dar.
(4) Angesichts dessen kann es im vorliegenden Verfahren letztlich dahingestellt bleiben, welche Quote der Patientenidentität ausreicht, um auch ohne weitere Anhaltspunkte eine Abrechnungsauffälligkeit zu vermuten. Insoweit hat die Antragsgegnerin indessen zutreffend darauf hingewiesen, dass § 10 Abs. 2 Nr. 1 AbrPr-RL, der diese Vermutung ab einer Quote von 20 % aufstellt, im vertragszahnärztlichen Bereich keine Anwendung findet und dass das BSG die Übertragbarkeit dieser von ihm als hoch bezeichneten Quote auf den vertragszahnärztlichen Bereich ausdrücklich abgelehnt hat (BSG, Urteil vom 27. Juni 2012 – B 6 KA 37/11 R - SozR 4-2500 § 85 Nr. 71 – Rn. 27). Unabhängig davon reicht es aber nach § 10 Abs. 2 Nr. 1 AbPr-RL aus, dass die Quote in einer der beteiligten Praxen erreicht ist. Dass dies in der Praxis in Bergheim im Streitquartal – bestandskräftig festgestellt – der Fall war, hat die Antragsgegnerin unwidersprochen vorgetragen.
(5) Keine durchgreifenden Bedenken bestehen zudem gegen die Befugnis der Antragsgegnerin, im Wege der Schätzung das Honorar des Antragstellers auf den Fachgruppendurchschnitt zu kürzen (vgl. zu dieser Schätzungsbefugnis bei Annahme eines Formenmissbrauchs BSG, Urteil vom 23. Juni 2010 – a.a.O. – Rn. 69; zum weiten Schätzungsermessen außerdem BSG, Beschluss vom 17. Februar 2016 – B 6 KA 50/15 B – juris-Rn. 7, BSG, Beschluss vom 7. September 2022 – B 6 KA 37/21 B – juris-Rn. 15). Die Antragsgegnerin hat den Schätzungsprozess und die ihm zugrunde liegenden Werte eingehend dargelegt. Der Antragsteller ist dem lediglich pauschal und nicht substantiiert entgegengetreten.
c) Unabhängig davon bestehen überwiegende Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 18. Oktober 2019 zudem deshalb nicht, weil sich die Honorarneufestsetzung ausgehend von den im Bescheid getroffenen Feststellungen der Antragsgegnerin nach derzeitiger Darstellung der Sach- und Rechtslage mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auch unabhängig vom Vorliegen eines Formenmissbrauchs als rechtmäßig erweisen wird.
aa) Nach ständiger Rechtsprechung des BSG berechtigt schon ein einziger Fall des mindestens grob fahrlässigen Falschansatzes einer nicht erbrachten Leistung die Kassen(zahn)ärztliche Vereinigung zur umfassenden Richtigstellung und Schätzung des dem Vertrags(zahn)arzt noch zustehenden Honorars (BSG, Urteil vom 13. Mai 2020 –
B 6 KA 6/19 R – SozR 4-2500 § 106d Nr. 8 – Rn. 30 m.w.N.). Die Schätzung kann sich in diesem Fall am Fachgruppendurchschnitt orientieren (BSG, Urteil vom 17. September 1997 – 6 RKa 86/95 – SozR 3-5550 § 35 Nr. 1 – Rn. 23; Clemens in jurisPK-SGB V, 4. Aufl. 2020 - § 106d Rn. 344 m.w.N.).
bb) Nach summarischer Prüfung bestehen keine überwiegenden Zweifel, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind:
(1) Die Antragsgegnerin hat im angefochtenen Bescheid ausgeführt, dass der Antragsteller im Fall der Patientin O. am 19. März 2019 in der Praxis N01 eine Nachbehandlung gemäß Position 38N BEMA abgerechnet habe, obwohl zuvor an dem betreffenden Zahn kein chirurgischer Eingriff vorgenommen, er insbesondere nicht zuvor entfernt worden sei. Darüber hinaus wirft sie dem Antragsteller vor, bei der Patientin K. eine systematische PAR-Behandlung an Zähnen abgerechnet zu haben, die laut Parodontalstatus als fehlend gekennzeichnet gewesen seien.
(2) Der Antragsteller ist diesen Vorwürfen nicht substantiiert entgegengetreten. Im Falle der Patientin K. hat er einen „Übertragungsfehler“ eingeräumt, im Fall der Patientin O. vorgetragen, er habe sich auf deren Angaben zur chirurgischen Vorbehandlung verlassen müssen. Mögliche Angaben der Patientin haben indessen keinen Einfluss auf die Frage, ob der angeblich nachbehandelte Zahn zuvor entfernt worden ist oder nicht. Dass hierzu ggf. weitere Ermittlungen im Hauptsacheverfahren erforderlich sind, begründet nach den eingangs dargelegten Grundsätzen nicht überwiegende Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides.
(3) Sollten sich die Vorwürfe der Antragsgegnerin als zutreffend erweisen, hätte der Antragsteller mithin nicht erbrachte Leistungen abgerechnet. Aufgrund des im Bescheid dargelegten Sachverhaltes (Nachbehandlung eines angeblich, in Wahrheit aber nicht entfernten Zahnes, Paradontosebehandlung tatsächlich fehlender Zähne) läge zudem auch die Annahme eines zumindest grob fahrlässigen Falschansatzes nahe.
2. Anhaltspunkte dafür, dass die sofortige Vollziehung des Bescheides vom 18. Oktober 2019 für den Antragsteller eine besondere Härte darstellt, sind nicht ersichtlich und vom Antragsteller auch nicht dargelegt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Festsetzung des Streitwertes folgt der Entscheidung des SG.
Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).