L 11 KR 354/22 KH

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 93 KR 4915/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KR 354/22 KH
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 30. März 2022 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Zinsen erst ab dem 11. August 2018 zu zahlen sind.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 309,65 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über stationäre Behandlungskosten.

Die Versicherte (C., geb. am 00.00.0000) befand sich vom 28. Januar 2018 bis zum 31. Januar 2018 in vollstationärer Behandlung im Q., welches in Trägerschaft der Klägerin steht und zur vollstationären Behandlung gesetzlich Krankenversicherter zugelassen ist.

Die Versicherte stellte sich am 28. Januar 2018 um 14:00 im Krankenhaus der Klägerin vor, wo sich die stationäre Aufnahme anschloss. Am 29. Januar 2018 erhielt sie ab 3.15 Uhr eine Oxytocin-Gabe mittels Tropfes. Die Entbindung erfolgte am 29. Januar 2018 um 7.58 Uhr durch Vakuumextraktion.

Die Klägerin forderte die Beklagte mit Rechnung vom 5. Februar 2018 zur Zahlung einer Vergütung in Höhe von 2.327,40 € auf unter Zugrundelegung der Diagnosis Related Group (DRG) O60C (Vaginale Entbindung mit schwerer oder mäßig schwerer komplizierender Diagnose oder Schwangerschaftsdauer bis 33 vollendete Wochen). Dabei kodierte sie als Nebendiagnose die ICD-Ziffer O75.6 (Protrahierte Geburt nach spontanem oder nicht näher bezeichnetem Blasensprung).

Die Beklagte beglich die Rechnung zunächst vollständig und beauftragte am 19. Februar 2018 den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit einer Prüfung des Behandlungsfalles unter der Fragestellung, ob die Hauptdiagnose und die Nebendiagnosen korrekt seien. Dabei wies sie darauf hin, dass zwischen der Aufnahme und der Entbindung weniger als 18 Stunden gelegen hätten, und fragte an, ob die ICD-Ziffer O42.9 neben der ICD-Ziffer O75.6 kodierbar sei. Der MDK zeigte die Prüfung dem Krankenhaus der Klägerin am 20. Februar 2018 an und forderte es zur Unterlagenübersendung auf. Er kam in seinem Gutachten vom 12. Juni 2018 zu dem Ergebnis, dass die Hauptdiagnose korrekt, jedoch die Nebendiagnose mit der ICD-Ziffer O75.6 nicht zu kodieren sei. Bei aktiver Wehensteuerung im Krankenhaus sei eine Geburt als protrahiert zu bezeichnen, wenn sie nach 18 Stunden regelmäßiger Wehentätigkeit nicht unmittelbar bevorstehe. Die Vorstellung der Versicherten sei am 28.1.2018 bereits am Nachmittag gegen 14.00 Uhr mit Wehentätigkeit erfolgt. Es habe jedoch keine aktive Steuerung mittels Oxytocin-Dauertropf stattgefunden, sondern primär sei der Spontanverlauf abgewartet worden. Die Geburt sei dann per vaginaler Entbindung am 29. Januar 2018 um 7.28 Uhr erfolgt. Das Zeitintervall sei daher nicht erfüllt. Hierdurch ändere sich die DRG in die O60D (Vaginale Entbindung ohne komplizierende Diagnose, Schwangerschaftsdauer mehr als 33 vollendete Wochen).

Mit Schreiben vom 15. Juni 2018 forderte die Beklagte die Klägerin erfolglos zur Rechnungskorrektur auf. Die Klägerin beantragte am 21. Juni 2018 ein Nachverfahren und legte Widerspruch gegen das Gutachten des MDK ein. Hinsichtlich der Wehensteuerung gebe es außer einem Oxytocin-Dauertropf weitere Möglichkeiten zur aktiven Steuerung, die im Bereich der Hebammentätigkeit lägen und nicht über einen Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) abbildbar seien. Auch das Zeitintervall sei erfüllt. Die Aufnahme in den Kreißsaal sei wenige Minuten vor 14.00 Uhr mit Wehentätigkeit und Blasensprung erfolgt.

Das beantragte Nachverfahren lehnte die Beklagte am 2. Juli 2018 ab. In der Aufnahmenachricht sei mitgeteilt worden, dass die Versicherte am 28. Januar 2018 um 15.25 Uhr aufgenommen worden sei, die Geburt sei am 29. Januar 2018 um 7.58 Uhr gemeldet. Die Versicherte habe sich laut MDK-Gutachten um 14.00 Uhr mit Wehentätigkeit vorgestellt. Eine aktive Wehensteuerung mittels Oxytocin-Dauertropf sei nicht erfolgt. Mit Schreiben vom 31. Juli 2018 erklärte sie die Aufrechnung der vermeintlichen Forderung in Höhe von 309,65 € mit einer Vergütungsforderung aus dem unstreitigen Behandlungsfall N01 mit der Rechnungsnummer N02.

Die Klägerin hat am 16. Juli 2019 Klage erhoben und ihr Begehren auf vollständige Begleichung des Vergütungsanspruches aus dem unstreitigen Behandlungsfall N01 verfolgt. Nach der Deutschen Kodierrichtlinie 2018 (DKR) 1521o werde bei aktiver Wehensteuerung im Krankenhaus eine Geburt als protrahiert bezeichnet, wenn sie nach 18 Stunden regelmäßiger Wehentätigkeit nicht unmittelbar bevorstehe. Die Beklagte lese die DKR 1521o so, dass die gesamte Dauer von 18 Stunden regelmäßiger Wehentätigkeit und aktiver Wehensteuerung im Krankenhaus absolviert werden müsse. Diese Auffassung sei medizinisch unsinnig, da in keinem Krankenhaus eine Gebärende unter aktiver Wehensteuerung einer 18 Stunden andauernden Geburt ausgesetzt würde, weil dies mit unzumutbaren Belastungen der Patientin verbunden wäre. Zudem lasse die DKR 1521o auch ihrem Wortlaut nach einen Beginn der regelmäßigen Wehentätigkeit außerhalb des Krankenhauses zu. Für dieses Verständnis spreche schon der Umstand, dass die DKR 1521o die Kodierung von Diagnosen regele, weshalb die Diagnose nicht davon abhängig gemacht werden könnte, dass ein bestimmter Aufwand angefallen sei. Für die Abbildung eines Aufwandes sei der OPS-Katalog vorgesehen. Diagnosen hingegen müssten nur die Voraussetzungen der DKR D002 beziehungsweise DKR D003 erfüllen. Die DKR 1521o verlange zum einen eine aktive Wehensteuerung im Krankenhaus und zum anderen 18 Stunden regelmäßiger Wehentätigkeit. Dabei sei die zweite Voraussetzung nicht an den Zusatz „im Krankenhaus“ geknüpft. Die aktive Wehensteuerung im Krankenhaus sei durch die Oxytocin-Gabe erfüllt. Ferner sei bei der Versicherten eine regelmäßige Wehentätigkeit von 19 Stunden 58 Minuten nachgewiesen. Zudem könne die Zeit der aktiven Wehensteuerung auch während der Zeit der regelmäßigen Wehentätigkeit liegen, da die DKR 1521o keine zeitliche Abfolge in der Art verlange, dass erst eine regelmäßige Wehentätigkeit von 18 Stunden und dann eine aktive Wehensteuerung erfolgen müsse. Vielmehr sei die DKR 1521o so zu lesen, dass eine protrahierte Geburt immer dann vorliege, wenn trotz aktiver Wehensteuerung im Krankenhaus nach 18 Stunden regelmäßiger Wehentätigkeit die Geburt noch nicht unmittelbar bevorstehe.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie einen Betrag in Höhe von 309,65 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 3. August 2018 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat sich auf das Ergebnis des MDK-Gutachtens vom 12. Juni 2018 bezogen und die Ansicht vertreten, dass das Zeitfenster von 18 Stunden nicht erfüllt sei, da der Zeitraum vor der stationären Aufnahme nach dem klaren Wortlaut der DKR „im Krankenhaus“ keine Berücksichtigung finde.

Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2021 und die Beklagte mit Schriftsatz vom 3. März 2022 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 30. März 2022 hat das SG der Klage stattgeben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 309,65 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 3. August 2018 zu zahlen. Die Berufung ist zugelassen worden. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen das am 3. Mai 2022 den Beteiligten zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19. Mai 2022 Berufung eingelegt und ausgeführt, dass streitentscheidend sei, ob die 18 Stunden regelmäßiger Wehentätigkeit im Krankenhaus stattfinden müssten oder ob auch Zeiträume außerhalb des Krankenhauses anzurechnen seien. Die beiden Halbsätze der streitigen Nebendiagnose stünden in einer Wenn-Dann-Beziehung. Der Bezugspunkt im zweiten Halbsatz zum ersten Halbsatz sei die Geburt und nicht die Wehentätigkeit. Die Geburt werde als protrahiert bezeichnet (1. Halbsatz), wenn sie nicht unmittelbar bevorstehe (2. Halbsatz). Ausgefüllt werde der Begriff „protrahiert“ dann durch die aktive Wehensteuerung im Krankenhaus, wenn eben diese regelmäßige Wehentätigkeit 18 Stunden betrage. Da sich die Wehentätigkeit als solche auf die aktive Wehensteuerung beziehe, müsse diese ebenfalls „im Krankenhaus“ stattfinden. Eine aktive Wehensteuerung sei außerhalb der Klinik nicht erfolgt. Eine Berücksichtigung von Zeiten außerhalb des Krankenhauses könne auch bereits aus Gründen fehlender Dokumentation und Nachweisbarkeit nicht in Betracht kommen. Entgegen der Auffassung des SG sei auch sehr wohl der Aufwand im Krankenhaus zu berücksichtigen. Eine mindestens 18-stündige Belegung des Kreißsaals erfordere einen höheren Aufwand im Krankenhaus, was die höhere Vergütung für eine protrahierte Geburt rechtfertige. Von einer „regelmäßigen“ Wehentätigkeit sei auszugehen, wenn diese ca. alle 20 Minuten auftrete (Eröffnungswehen). Dass dies vor Ankunft im Krankenhaus bereits der Fall gewesen sei, könne anhand der Akte nicht nachvollzogen werden. Unstreitig sei nur, dass die Versicherte ca. 2 Stunden vor Ankunft im Krankenhaus Wehen gehabt habe. Dass diese regelmäßig i.S.d. DKR gewesen seien, werde bestritten. Der Blasensprung sei erst um 19.50 Uhr dokumentiert. Die Austreibungsphase sei der Beginn der Geburt. Diese beginne mit der vollständigen Öffnung des Muttermundes. Dies sei am 29. Januar 2018 erst um 6.05 Uhr der Fall gewesen. Laut dem Geburtenprotokoll habe die Austreibungsphase 113 Minuten gedauert. „Unmittelbar bevor“ habe die Geburt um 6.05 Uhr am 29. Januar 2018 gestanden. Der Zeitraum vom 28. Januar 2018, 17.20 Uhr (Beginn regelmäßiger Wehentätigkeit) bis 29. Januar 2018, 6:05 Uhr (unmittelbar bevorstehende Geburt) umfasse 12 Stunden 45 Minuten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 30. November 2022 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie nimmt auf die erstinstanzliche Entscheidung Bezug und führt ergänzend aus, dass keine Mindestanforderungen an den aufzuwendenden Ressourcenverbrauch gestellt werden könnten (DRK D003). Maßgeblich sei zudem nicht, ob schon Wehen in einem bestimmten zeitlichen Abstand vorgelegen hätten, sondern ob bereits der Geburtsbeginn festzustellen gewesen sei. Dies sei vorliegend der Fall. Hier sei sogar der Blasensprung schon vor Eintreffen im Krankenhaus erfolgt. Es sei auszuschließen, dass zwei Stunden vor Vorstellung in der Klinik Senkwehen oder Vorwehen aufgetreten seien. Es hätten vielmehr regelmäßige Eröffnungswehen vorgelegen. Im Zusammenhang mit einer Geburt seien Wehen als regelmäßig anzusehen, wenn sie zeitlich stets gleich wiederkehrten bzw. gleichmäßig aufeinanderfolgten. Zu beachten sei, dass regelmäßig nicht „in exakt gleichem zeitlichem Abstand“ bedeuten könne. Dies wäre im Zusammenhang mit Wehen widersinnig, da sich die Abstände zwischen den einzelnen Wehen typischerweise verkürzten. In diesem Zusammenhang sei auch zu beachten, dass die DKR nicht von „regelmäßigen Wehen“ sondern von „regelmäßiger Wehentätigkeit“ sprächen. Es reiche also aus, wenn aufeinander folgend Wehen stattfänden, deren zeitlicher Abstand sich zunehmend reduziere. Das Tatbestandsmerkmal „nicht unmittelbar bevorstehend“ bedeute „durch keinen oder kaum einen räumlichen oder zeitlichen Abstand getrennt.“. Im vorliegenden Fall sei die 18-Stunden-Grenze gegen 6:00 Uhr am 29. Januar 2018 erreicht worden. Die Geburt sei erst um 7:58 Uhr erfolgt, mithin ca. 2 Stunden später. Angesichts dessen könne nicht von einer gegen 6:00 Uhr unmittelbar bevorstehenden Geburt gesprochen werden. Um 6:05 Uhr sei zwar vermerkt, dass der Muttermund vollständig eröffnet gewesen sei. Es habe jedoch noch der weiteren Wehensteuerung mittels Oxytocin bedurft.

Am 11. Januar 2023 haben die Beteiligten die Sach- und Rechtslage erörtert.

Die Klägerin hat eine undatierte ärztliche Stellungnahme von Herrn L. aus dem Hause der Klägerin zur Akte gereicht. Die Beklagte hat sich den medizinischen Ausführungen nach Rücksprache mit dem MDK angeschlossen. Es werde übereinstimmend davon ausgegangen, dass die Austreibungsphase um 6:05 Uhr begonnen habe. Die Dauer von 2 Stunden sei normal. Wäre der Blasensprung bei Aufnahme im Krankenhaus bereits erfolgt, hätte eine spezifischere Hauptdiagnose verwendet werden müssen.

Der Senat hat den Beteiligten von Amts wegen gestattet, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen über den von der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen zur Verfügung gestellten Virtuellen Meetingraum (VMR) vorzunehmen (Beschluss vom 26. Oktober 2023), wovon die Beklagte Gebrauch gemacht hat.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten sowie die beigezogene Patientenakte der Klägerin Bezug genommen, die Gegenstand der der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

A. Die Anträge im Berufungsverfahren sind wirksam im Rahmen der mündlichen Verhandlung gestellt. Soweit die Beteiligten nicht persönlich im Gerichtssaal vertreten gewesen sind, sondern von ihrem Behörden- bzw. Kanzleisitz aus per Video- und Tonübertragung an der Verhandlung teilgenommen haben, war dies gemäß § 110a Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufgrund des gerichtlichen Beschlusses vom 26. Oktober 2023 zulässig.

B. Die am 19. Mai 2022 schriftlich eingelegte Berufung der Beklagten gegen das ihr am 3. Mai 2022 zugestellte Urteil des SG Dortmund vom 30. März 2022 ist zulässig. Sie ist aufgrund Zulassung im Urteil des SG insbesondere statthaft (§ 143 i.V.m. § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG). An die Zulassung ist der Senat gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).

C. Die Berufung der Beklagten ist im Wesentlichen unbegründet. Die auf Zahlung von 309,65 € nebst Zinsen in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 3. August 2018 gerichtete Klage ist zulässig (I.) und überwiegend begründet (II.).

I. Die Klage ist zulässig. Für den im vorliegenden Fall verfolgten Zahlungsanspruch eines Krankenhausträgers auf Zahlung von weiteren Behandlungskosten ist die (echte) Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) statthaft (Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 16. Dezember 2008 - B 1 KN 1/07 KR R - SozR 4-2500 § 109 Nr. 13). Es handelt sich um einen Beteiligtenstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt, kein Vorverfahren durchzuführen und auch keine Klagefrist zu beachten ist (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 23. Juli 2002 - B 3 KR 64/01 R - SozR 3-2500 § 112 Nr. 3). Die Klägerin hat den Zahlungsanspruch auch konkret beziffert (vgl. zur Notwendigkeit der Bezifferung des Klageantrags BSG, Urteil vom 28. Januar 1999 - B 3 KR 4/98 R - SozR 3-2500 § 37 Nr. 1; BSG, Urteil vom 13. Mai 2004 - B 3 KR 18/03 R - SozR 4-2500 § 39 Nr. 2).

II. Die Klage ist überwiegend begründet.

 1. Streitgegenstand in der Hauptsache ist der sich nach der Verrechnung ergebende offene Vergütungsanspruch aus den zwischen den Beteiligten nicht umstrittenen Behandlungsfällen (hierzu BSG, Urteil vom 30. Juli 2019 - B 1 KR 31/18 R – juris-Rn. 9; Urteil vom 23. Juni 2015 - B 1 KR 13/14 R - SozR 4-5560 § 17b Nr. 6, juris-Rn. 8; jeweils m.w.N.).

2. Der Vergütungsanspruch der Klägerin aus dem unstreitigen Behandlungsfall ist nicht durch Aufrechnung mit einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch der Beklagten erloschen.

a) Die Aufrechnung ist zulässig. Sie richtet sich – neben hier nicht problematischen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in analoger Anwendung, § 69 Abs. 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) – nach § 10 der Prüfverfahrensvereinbarung (PrüfvV) 2016 vom 3. Februar 2016. Die PrüfvV 2016 erfasst Krankenhausaufnahmen ab dem 1. Januar 2017 und ist zeitlich – als auch sachlich - anwendbar.

b) Gemäß § 8 Satz 1 PrüfvV 2016 hat die Krankenkasse dem Krankenhaus ihre abschließende Entscheidung zur Wirtschaftlichkeit der Leistung oder zur Korrektur der Abrechnung und den daraus folgenden Erstattungsanspruch mitzuteilen. Wenn die Leistung nicht in vollem Umfange wirtschaftlich oder die Abrechnung nicht korrekt war, sind dem Krankenhaus die wesentlichen Gründe darzulegen (Satz 2). Die Mitteilungen nach Satz 1 und 2 haben innerhalb von 11 Monaten nach Übermittlung der Prüfanzeige nach § 6 Abs. 3 zu erfolgen (Satz 3).

Die Beklagte hat der Klägerin ihre abschließende Entscheidung zur Korrektur der Abrechnung und den daraus folgenden Erstattungsanspruch und die dafür wesentlichen Gründe mitgeteilt. Dies erfolgte innerhalb der Frist von 11 Monaten nach Übermittlung der Prüfanzeige (Prüfanzeige an Klägerin am 20. Februar 2018, Mitteilung der Aufrechnung am 31. Juli 2018). Die Beklagte hat auch den Leistungsanspruch (unstreitige Vergütungsforderung mit der Nummer N01 und der Rechnungsnummer N02) und den Erstattungsanspruch (Erstattungsanspruch aus dem Behandlungsfall der Versicherten in Höhe von 309,65 €) genau bezeichnet.

c) Aufgrund der Anwendbarkeit der PrüfvV 2016 kommt das landesvertragliche Aufrechnungsverbot (§ 15 Abs. 1 Satz 4 LV NRW) nicht zur Anwendung (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Januar 2023 – L 11 KR 281/21 KH).

d) Der Beklagten stand kein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch in Höhe der noch streitigen Klageforderung gegen die Klägerin zu.

Der im öffentlichen Recht seit langem anerkannte öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch setzt voraus, dass im Rahmen eines öffentlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht oder sonstige rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen vorgenommen worden sind (vgl. BSG, Urteil vom 8. November 2011 – B 1 KR 8/11 RBSGE 109, 236 ff., juris-Rn. 11, m.w.N.). Seine Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfolgen entsprechen, soweit sie nicht spezialgesetzlich geregelt sind, denen des zivilrechtlichen Bereicherungsanspruchs; ein Rückgriff auf die zivilrechtlichen Normen scheidet aber aus, soweit der vom öffentlichen Recht selbständig entwickelte Erstattungsanspruch reicht (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juli 1974 – 1 RA 183/73BSGE 38, 46 ff., juris-Rn. 12).

Ein Erstattungsanspruch der Beklagten scheitert vorliegend daran, dass sie mit Rechtsgrund Krankenhausvergütung infolge der Rechnung vom 5. Februar 2018 in Höhe von 2.327,40 € an die Klägerin gezahlt hat. Die Behandlung der Versicherten ist zutreffend von der Klägerin abgerechnet worden.

aa) Rechtsgrundlage der von der Klägerin geltend gemachten und von der Beklagten gezahlten Vergütung sind § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V i.V.m. § 7 Satz 1 KHEntgG und § 17b KHG, die Vereinbarung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser für das Jahr 2018 und die von den Vertragsparteien auf Bundesebene getroffene Vereinbarung zu den DKR für das Jahr 2018. Die von der Krankenkasse zu zahlende Vergütung errechnet sich im Wesentlichen nach der mithilfe einer zertifizierten Software (Grouper) ermittelten DRG. Für die Zuordnung eines Behandlungsfalles zu einer DRG sind maßgebliche Kriterien die Hauptdiagnose, die Nebendiagnosen, eventuell den Behandlungsverlauf wesentlich beeinflussende Komplikationen, die im Krankenhaus durchgeführten Prozeduren sowie weitere Faktoren (Alter, Geschlecht etc.). Die Diagnosen werden mit einem Kode gemäß dem im vorliegend streitigen Zeitraum vom DIMDI (seit dem 26. Mai 2020 vom BfArM) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit herausgegebenen ICD-10 verschlüsselt. Die Prozeduren werden nach dem ebenfalls vom DIMDI (nunmehr vom BfArM) herausgegebenen OPS kodiert. Aus diesen Kodes wird dann zusammen mit den weiteren für den Behandlungsfall maßgeblichen Faktoren unter Verwendung eines Groupers die entsprechende DRG ermittelt (sogenannte Groupierung), anhand derer die von der Krankenkasse zu zahlende Vergütung errechnet wird (ausführlich dazu BSG, Urteil vom 8. November 2011 – B 1 KR 8/11 RBSGE 109, 236 ff., juris-Rn 14 ff.).

bb) Zwischen den Beteiligten steht außer Streit, dass die Grundvoraussetzung eines Anspruchs auf Krankenhausvergütung erfüllt ist; d.h. die Versicherte während der Dauer des Krankenhausaufenthalts der stationären Krankenbehandlung bedurfte.

cc) Die Beteiligten sind ebenfalls darüber einig, dass der Anspruch der Klägerin auf die höhere Vergütung für die streitige Krankenhausbehandlung nach der DRG O60C allein von der Kodierung der Nebendiagnose ICD O75.6 abhängt. Soweit Berechnungsergebnisse keinem Streit zwischen Beteiligten mit insoweit besonderer professioneller Kompetenz ausgesetzt sind, sind weitere Ermittlungen des Gerichts entbehrlich (vgl. BSG, Urteil vom 19. Juni 2018 – B 1 KR 39/17 R – SozR 4-5562 § 9 Nr. 10,juris Rn. 9; Urteil vom 21. April 2015 – B 1 KR 9/15 RBSGE 118, 225 ff., juris Rn. 29).

dd) Die Klägerin hat die Nebendiagnose ICD O75.6 („Protrahierte Geburt nach spontanem oder nicht näher bezeichnetem Blasensprung“) zu Recht kodiert.

(1) Die Anwendung der DKR und der FPV-Abrechnungsbestimmungen einschließlich des ICD-10-GM und des OPS erfolgt eng am Wortlaut orientiert und unterstützt durch systematische Erwägungen; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht. Nur dann kann eine Vergütungsregelung, die für die routinemäßige Abwicklung von zahlreichen Behandlungsfällen vorgesehen ist, ihren Zweck erfüllen. Da das DRG-basierte Vergütungssystem vom Gesetzgeber als jährlich weiter zu entwickelndes (§ 17b Abs. 2 Satz 1 KHG) und damit „lernendes“ System angelegt ist, sind bei zutage tretenden Unrichtigkeiten oder Fehlsteuerungen in erster Linie die Vertragsparteien berufen, diese mit Wirkung für die Zukunft zu beseitigen (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 23. Juni 2015 – B 1 KR 13/14 R – SozR 4-5560 § 17b Nr. 6, juris-Rn. 15, m.w.N.).

Die Klassifikationssysteme können Begriffe entweder ausdrücklich definieren oder deren spezifische Bedeutung kann sich ergänzend aus der Systematik der Regelung ergeben. Ferner kann der Wortlaut ausdrücklich oder implizit ein an anderer Stelle normativ determiniertes Begriffsverständnis in Bezug nehmen. Fehlt es an solchen normativen definitorischen Vorgaben, gilt der Grundsatz, dass medizinische Begriffe im Sinne eines faktisch bestehenden, einheitlichen wissenschaftlich-medizinischen Sprachgebrauchs zu verstehen sind. Ergeben sich danach keine eindeutigen Ergebnisse, ist der allgemeinsprachliche Begriffskern maßgeblich (vgl. zu Vorstehendem BSG, Urteil vom 22. Juni 2022 – B 1 KR 31/21 R – BSGE 134, 193 ff.). Hinsichtlich der im IDC-10-GM enthaltenen Diagnosekriterien ist der diesbezügliche aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand maßgeblich (BSG, Urteil vom 27. Juni 2017 – B 2 U 17/15 R, juris-Rn. 17).

(2) Nach dieser Vorgabe sind die Voraussetzungen der Nebendiagnose ICD O75.6 („Protrahierte Geburt nach spontanem oder nicht näher bezeichnetem Blasensprung“) gegeben. Im streitigen Behandlungsfall lag eine protrahierte Geburt [(a)] nach einem spontanem oder nicht näher bezeichnetem Blasensprung [(b)] vor.

(a) Eine protrahierte Geburt ist in DKR 1521o wie folgt legaldefiniert:

„Bei aktiver Wehensteuerung im Krankenhaus wird eine Geburt als protrahiert bezeichnet, wenn sie nach 18 Stunden regelmäßiger Wehentätigkeit nicht unmittelbar bevorsteht. Die Kodierung erfolgt mit passenden Kodes aus:

O63.–

Protrahierte Geburt

O75.5

Protrahierte Geburt nach Blasensprengung

O75.6

Protrahierte Geburt nach spontanem oder nicht näher bezeichnetem Blasensprung“

 

Ausgehend davon gilt:

 

(aa) Die Nebendiagnose O75.6 fällt in den Anwendungsbereich der DKR 1521o (vgl. Satz 2 der DKR 1521o).

 

(bb) Eine aktive Wehensteuerung, d.h. ein Prozess der Überwachung und Regulierung der Wehen während der Geburt, fand mittels der Gabe von Oxytocin statt (vgl. Eintrag in der Patientendokumentation vom 29. Januar 2018, 3:15 Uhr „Oxy“).

 

(cc) Die aktive Wehensteuerung fand nicht außerhalb, sondern erst im Krankenhaus statt. Entgegen der Ansicht der Beklagten gibt der Wortlaut der Vorschrift keine Anhaltspunkte dafür her, dass eine Wehensteuerung mit einer Dauer von 18 Stunden erforderlich ist. Der Wortlaut knüpft das Zeitelement nur an das Merkmal der „regelmäßigen Wehentätigkeit“.

 

(dd) Eine mindestens 18-stündige regelmäßige Wehentätigkeit hat vorgelegen.

 

Eine Wehentätigkeit, d.h. Kontraktionen der glatten Muskulatur der Gebärmutter während der Schwangerschaft und der Geburt, die durch hormonelle Einflüsse ausgelöst werden (vgl. https://flexikon.doccheck.com/de/Wehe), gilt - nach der Definition des Dudens zum Wort „regelmäßig“ (https://www.duden.de/rechtschreibung/regelmaeszig) - als regelmäßig, wenn die Wehen einer „bestimmten festen Ordnung folgen“. Eine solche feste Ordnung haben Wehen, wenn das Stadium der Eröffnungsphase erreicht ist, womit der Geburtsbeginn beschrieben wird, der mit dem Beginn regelmäßiger, schmerzhafter und progressiver Wehentätigkeit assoziiert wird (in Anlehnung an den medizinischen Sprachgebrauch der S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin <Stand 22.12.2020>, AWMF 015/083, S. 25, 105, 16).

 

Ausgehend hiervon hat zur Überzeugung des Senats bei der Versicherten eine 18-stündige regelmäßige Wehentätigkeit vorgelegen.

 

Der Senat stützt seine Überzeugungsbildung dabei auf die zur Akte gereichte Patientendokumentation der Versicherten, die in Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit in die Feststellung des Sachverhalts im Wege der Amtsermittlung einfließen darf. Ihr Beweiswert ist hierbei jeweils im Einzelfall tatrichterlich zu bewerten. Hat das Tatsachengericht bei vorgelegter Dokumentation Zweifel an Rechtserheblichem, muss es den Sachverhalt ergänzend aufklären, etwa durch Vernehmung der behandelnden Ärzte und der behandelten Versicherten. Lässt sich nach Ausschöpfen der gebotenen Aufklärung nicht feststellen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der abgerechneten Fallpauschale erfüllt gewesen sind, trägt das Krankenhaus die objektive Beweislast für das Vorliegen dieser tatbestandlichen Voraussetzungen (vgl. BSG, Urteil vom 19. November 2019 – B 1 KR 33/18 R – SozR 4-2500 § 109 Nr. 77, Rn. 19). Hieraus folgt, dass ergänzende Maßnahmen zur Tatsachenfeststellung nur dann geboten sind, wenn das Tatsachengericht bei Auswertung der Patientendokumentation Zweifel hat, die weiterer Aufklärung bedürfen.

 

Dahingehende Zweifel bestehen vorliegend nicht. Die Klägerin hat hinreichend dokumentiert, dass sich die Versicherte am 28. Januar 2018 um 14:00 Uhr im Krankenhaus der Klägerin vorgestellt und angegeben hat, „seit 2 Stunden“ (d.h. seit 12:00 Uhr) bestehe Wehentätigkeit.

 

Entgegen der Auffassung der Beklagten gibt der Wortlaut der streitigen DKR nicht vor, dass die Zeit der Wehentätigkeit vor Krankenhausaufnahme zur Berechnung der 18 Stunden nicht mitgezählt wird. Die Worte „im Krankenhaus“ beziehen sich auf die „aktive Wehensteuerung“, aber nicht auf die im zweiten Satzteil vorgegebene Wehentätigkeit. Dies entspricht dem Grundsatz, dass es bei Diagnosen keinen zeitlichen Bezug zur Aufnahme im Krankenhaus und deren Kodierbarkeit gibt.

 

Bereits um 14:04 Uhr wurde eine Kardiotokographie (CTG) gefertigt, die im Zeitraum bis 14:24 Uhr eine deutliche Wehentätigkeit im Abstand von unter 10 Minuten dokumentiert hat. Es bestehen aus der Dokumentation keine Anhaltspunkte, dass die Wehentätigkeit erst zum Zeitpunkt der Aufnahme im Krankenhaus deutlich zugenommen hat. Auch gibt es bei lebensnaher Betrachtung für den Senat keine Zweifel, dass die Angaben der Versicherten zum Beginn der Wehen zutreffend sind.

 

Die nächste CTG erfolgte um 17:22 Uhr. Sie zeigt eine Wehentätigkeit, die deutlich zugenommen hat. Dass sich zwischenzeitlich die Wehentätigkeit eingestellt hat, ist nicht dokumentiert. Dahingehende Anhaltspunkte ergeben sich nicht daraus, dass keine durchgehende CTG-Dokumentation stattgefunden hat. Die Annahme der Beklagten, dass daraus abzuleiten sei, die CTG weise verschiedentlich Zeitintervalle als „wehenfrei“ aus, teilt der Senat nicht. Die Beklagte begründet bereits nicht, warum eine kontinuierliche CTG-Aufzeichnung erforderlich gewesen sein soll, obwohl in der aktiven Eröffnungsphase bei einer Erstgebärenden sogar der gänzliche Verzicht auf ein CTG empfohlen wird (vgl. S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin <Stand 22.12.2020>, AWMF 015/083, S. 22).

 

Für ergänzende Darlegungen hätte umso mehr Anlass bestanden als die in der Patientendokumentation vermerkte Wehenabfolge eine regelmäßige, fortschreitende, sich steigernde schmerzhafte Wehentätigkeit („WTK“) der Versicherten manifestiert:

 

Datum

Uhrzeit

Eintrag in der Patientendokumentation

28.1.2018

14.00 Uhr

mit WTK belastet sein 2 Std.

 

14.40 Uhr

l. WTK

 

17.20 Uhr

WTK nimmt zu

 

17.40 Uhr

WTK ~ 2-3 min.

 

19.00 Uhr

veratmet WTK gut

 

19:25 Uhr

WTK nimmt zu

 

20.00 Uhr

WTK ~ 2-3 min.

 

20.30 Uhr

spürt immer wieder Druck in der Wehe

 

20.50 Uhr

WTK ~ 2 min.

 

21.45 Uhr

WTK ~ 2-3 min

 

22.15 Uhr

WTK 2-3 min

 

23.30 Uhr

WTK ~ 2-4 min

 

23.55 Uhr

2-3 min

 

 

 

29.1.2018

1.00 Uhr

WTK palpatorisch 2 min

 

2.00 Uhr

gibt starke WTK an

 

2.13 Uhr

WTK 1-2 min

 

2.40 Uhr

WTK 1-3 min

 

3.10 Uhr

WTK 3 Min

 

4.00 Uhr

WTK 1-2 min

 

5.10 Uhr

WTK 1-3 min

 

5.50 Uhr

WTK 1-4 min

 

6.20 Uhr

WTK 1-2 min

 

6.45 Uhr

WTK 1-2 min

 

7.20 Uhr

WTK alle 2 m

 

7.40 Uhr

WTK alle 2 m

 

7.50 Uhr

keine WTK

 

7:58 Uhr

Geburt Sohn

 

Gegen eine regelmäßige Wehentätigkeit spricht ferner nicht, dass die Versicherte gegen 15:00 Uhr noch selbständig zur Aufnahme gegangen ist. Die Beklagte hat nicht dargelegt, aus welchen Gründen eine Schwangere im Stadium der frühen Geburtsphase derartige Verrichtungen nicht mehr erledigen können soll.

Nach dieser Maßgabe steht zur Überzeugung des Senats fest, dass regelmäßige Wehen von 12.00 Uhr am 28. Januar 2018 bis 7.58 Uhr am 29. Januar 2018 (Geburt des Kindes), d.h. insgesamt 19 Stunden und 58 Minuten; mithin über 18 Stunden bestanden haben.

(ee) Nach einer 18-stündigen regelmäßigen Wehentätigkeit (d.h. um 6:00 Uhr am 29. Januar 2018) stand die Geburt noch nicht unmittelbar, d.h. direkt bzw. geradewegs (vgl. zur Definition https://www.duden.de/rechtschreibung/unmittelbar), bevor.

 

Eine Geburt steht (erst dann) unmittelbar bevor, wenn die Austreibungsphase erreicht ist. Das ist der Fall, wenn der Muttermund mit etwa zehn Zentimetern vollständig geöffnet ist. Mit der Austreibungsphase ist ein Prozess in Gang gesetzt, der sich in eine frühe Wehenphase, die bei der ersten Geburt bis zu zwei Stunden dauern kann, und eine späte Wehenphase mit Presswehen unterteilt (vgl. S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin <Stand 22.12.2020>, AWMF 015/083, S. 67 ff.). Verzögerungen in der Austreibungsphase sind von der ICD O63.1 („protrahiert verlaufende Austreibungsperiode bei der Geburt“) erfasst.

Hier war ausweislich der Patientendokumentation der Muttermund (erst) um 6.05 Uhr vollständig geöffnet. Frühere Dokumentationen legen eine vollständige Öffnung des Muttermundes nicht nahe. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Der Beginn der Austreibungsphase wird vom behandelnden Arzt aus dem Hause der Klägerin auf 6.05 Uhr datiert. Die Beklagte hat sich dieser Einschätzung angeschlossen (Schreiben der Beklagten vom 28. April 2023).

(b) Auch die weitere Voraussetzung „nach spontanem oder nicht näher bezeichnetem Blasensprung“ i.S.d. ICD O75.6 ist gegeben. Aus der Angabe in der Patientendokumentation „Blasensprung: ?wann?“ zieht der Senat den Schluss, dass der genaue Zeitpunkt des Blasensprungs unbekannt ist und daher von einem „nicht näher bezeichnetem Blasensprung“ auszugehen ist.

2. Der Anspruch ist nicht einredebehaftet.

a) Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch ist – unabhängig davon, dass die Einrede bisher nicht erhoben wurde – nicht verjährt (§ 214 BGB). Der Rückforderungsanspruch einer Krankenkasse ist in seiner Rechtsnatur als öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch nur die Kehrseite des Vergütungsanspruchs des Krankenhauses. Grundsätzlich gilt demnach für den Rückforderungsanspruch wie für den Vergütungsanspruch die vierjährige Verjährungsfrist, wobei der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch im Augenblick der Überzahlung entsteht und die Verjährung entsprechend § 41 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch nach Ablauf des Kalenderjahres beginnt, in dem die Krankenhausrechnung beglichen wurde (Wahl in: jurisPK-SGB V, 3. Auflage, § 109 Rn. 197, 172).

Die Beklagte stellte der Klägerin mit Schreiben vom 5. Februar 2018 die Behandlungskosten für die Versicherte in Rechnung. Die Beklagte zahlte im Februar 2018. Die Verjährung lief erst ab dem 1. Januar 2019 und endete zum 31. Dezember 2022. Die Verjährung wurde vorliegend entsprechend § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB durch die Erhebung der Klage am 16. Juli 2019 gehemmt.

b) Der Geltendmachung des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs steht nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. In der vorbehaltlosen Zahlung kann weder ein Verzicht auf die Geltendmachung von Rückzahlungsansprüchen noch ein dessen Verwirkung auslösender Umstand gesehen werden. Zahlt eine Krankenkasse vorbehaltlos auf eine Krankenhaus-Rechnung, kann sie lediglich dann mit der Rückforderung ausgeschlossen sein, wenn sie (positiv) gewusst hat, dass sie zur Leistung nicht verpflichtet war (Rechtsgedanke des § 814 BGB; Wahl in: jurisPK-SGB V, 3. Auflage, § 109 Rn. 194 m.w.N.). Davon kann nicht ausgegangen werden, da sie aus diesem Grund gerade das Prüfverfahren eingeleitet hat.

c) Anhaltspunkte dafür, dass der Anspruch verwirkt gewesen wäre, sind gleichfalls nicht ersichtlich und wurden durch die Beteiligten auch nicht vorgetragen.

3. Der von der Klägerin geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus § 15 Abs. 1 Satz 4 Landesvertrag NRW i.V.m. § 1 Diskontsatzüberleitungsgesetz (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 1. September 2011 – L 16 KR 212/08 –, Rn. 28, juris; Urteil vom 9. Juli 2020 – L 16 KR 395/16). Danach kann das Krankenhaus bei Überschreitung des Zahlungsziels von 15 Tagen nach Eingang der Rechnung (vgl. § 15 Abs.1 Satz 1 Landesvertrag NRW) nach Maßgabe der „§§ 284, 285, 288 Abs. 1 BGB“ (nach heutigem Recht: §§ 286, 288 BGB) Verzugszinsen in Höhe von 2 v. H. über dem jeweiligen Basiszins der Europäischen Zentralbank ab dem auf den Fälligkeitstag folgenden Tag verlangen. Hier klagt die Klägerin auf eine Forderung aus dem Behandlungsfall N01 mit der Rechnungsnummer N02 (Zugang der Rechnung bei der Beklagten am 26. Juli 2018), die binnen 15 Tagen, d.h. bis zum 10. August 2018 zu erfüllen war, sodass der Zinsanspruch erst ab dem Folgetag (11. August 2018) und nicht bereits am 3. August 2018 entstanden ist. Die angefochtene Entscheidung ist insoweit abzuändern.

C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 S 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung.

D. Es besteht kein Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen.

E. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 11 SGG i.V.m. §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 und Abs. 3 S 1, 47 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes.

Rechtskraft
Aus
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