L 2 SO 1469/24 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SO 773/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 1469/24 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 12. April 2024 wird aufgehoben.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin einstweilen bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens für den Zeitraum von sechs Monaten, die Kosten einer Autismustherapie im Autismuszentrum M1 gGmbH zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Antrags- und Beschwerdeverfahren.



Gründe

Die Beschwerde der Antragstellerin vom 10. Mai 2024 gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Freiburg vom 12. April 2024 ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -  SGG -), und auch begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint.  Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch voraus, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu welcher der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen.

Die Frage, ob der Antragstellerin ein Anspruch auf die von ihr begehrte Kostenübernahme einer Autismustherapie im Autismuszentrum M1 gGmbH in Form ihr zu gewährender Eingliederungshilfe gemäß §§ 99 Abs. 1, 102 Abs. 1 Nr. 4 (Leistungen zur sozialen Teilhabe), § 113 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 (Heilpädagogische Leistungen als Leistungen zur sozialen Teilhabe) Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) hat, lässt sich im Eilverfahren mit den zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten nicht erschöpfend beantworten.

Bei isolierter Betrachtung nach nationalem Recht ist ein Anspruch der Antragstellerin auf Gewährung von Eingliederungshilfe als Leistungen zur sozialen Teilhabe in Form heilpädagogischer Leistungen (§§ 99 Abs. 1, 102 Abs. 1 Nr. 4, 113 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 SGB IX) nicht gegeben. Zwar liegt bei der Klägerin eine wesentliche Behinderung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX vor, da sie an einem atypischen Autismus mit einer leichten Intelligenzminderung mit einem sprachfreien IQ von 69 leidet. Die Antragstellerin zeigt erhebliche Verhaltensauffälligkeiten, die tägliche Abläufe mit ihr erheblich erschweren. Sie zeigt deutliche Einschränkungen im Bereich der sozialen Kommunikation. Die Notwendigkeit der Gewährung von Eingliederungshilfe in Form heilpädagogischer Leistungen im Rahmen von Leistungen zur sozialen Teilhabe (Kostenübernahme einer Autismustherapie im Autismuszentrum M1 gGmbH) ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den insbesondere im Klageverfahren (S 6 SO 564/24) eingereichten Unterlagen. Seitens des Staatlichen Schulamtes O1 wurde am 14. Juli 2020 ein Anspruch der Antragstellerin auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot festgestellt; die Antragstellerin besucht das SBBZ A1-Schule in W1. Das Universitätsklinikum F1 befürwortete im Befundbericht vom 12. Juli 2021 eine autismusspezifische Förderung der Antragstellerin. In den weiteren Behandlungsberichten des Universitätsklinikums F1 vom 10. Januar 2022 und 17. Januar 2023 behielt es diese Einschätzung bei. Der die Antragstellerin behandelnde E1 führte in seiner Stellungnahme vom 23. September 2020 aus, dass „eine spezifische Autismustherapie helfen könnte, dass sich die Antragstellerin im sozialen Kontext besser einfinden kann“. In seiner Stellungnahme vom 8. März 2024 hat er die “erheblichen autismusbedingten Verhaltensauffälligkeiten“ betont und eine Autismustherapie im Autismuszentrum M1 gGmbH für dringend notwendig erachtet. Die die Antragstellerin behandelnde K1 hat in ihrer Stellungnahme vom 26. Februar 2024 die Kommunikationsschwierigkeiten der Antragstellerin beschrieben und ausgeführt, dass es „wichtig sei, dass die Antragstellerin eine spezifische Autismustherapie erhält“. Schließlich hat die Klassenlehrerin der Antragstellerin in ihrer Stellungnahme vom 27. Februar 2024 die autismusbedingten Verhaltensmuster der Antragstellerin beschrieben, die auf einen erhöhten Unterstützungsbedarf hinweisen. Sie hat ausgeführt, dass sich diese autismustypischen Verhaltensweisen in den letzten Monaten verstärkt hätten und sie hält eine spezifische Autismustherapie für unerlässlich.

Dem Anspruch steht jedoch entgegen, dass die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland hat, sondern in Frankreich (Gemeinde D1), wodurch sie nach § 101 Abs. 1 Satz 1 SGB IX von Leistungen ausgeschlossen ist. Ein minderjähriges Kind hat regelhaft seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) bei seinen Eltern, die das Personensorgerecht ausüben und bei denen es sich tatsächlich aufhält; dies ist in der Gemeinde D1 in Frankreich. Der Schwerpunkt der Lebensführung der Antragstellerin und ihrer Familie liegt in Frankreich. Die Voraussetzungen der Rückausnahme vom Leistungsausschuss nach § 101 Abs. 1 Satz 2 SGB IX liegen nicht vor. Es sind auch keine Leistungen im Sinne des § 101 Abs. 2 SGB IX von einem französischen Leistungsträger erbracht worden oder zu erwarten. Die Caisse primaire d’assurance maladie (CEPAM) lehnte einen entsprechenden Antrag der Gewährung einer autismusspezifischen Therapie für die Antragstellerin bereits ab.

Ein Sachleistungsanspruch der Antragstellerin ergibt sich auch nicht unmittelbar aus Art. 19 UN-BRK. Diese Konvention ist durch Vertragsgesetz zur UN-BRK (BGBl. II 2008, S. 1419) in nationales Recht umgewandelt worden. Subjektive Ansprüche für behinderte Menschen vermittelt Art. 19 UN-BRK seinem Wortlaut nach nicht, sondern erklärt, dass die nähere Umsetzung des in Art. 19 UN-BRK eingeräumten Rechts den Vertragsstaaten vorbehalten bleiben soll.

Allerdings ist zu Gunsten der Antragstellerin eine unionsrechtliche Rechtsgrundlage in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABL. L 141 vom 27. Mai 2011,S. 1 bis 12) in Betracht zu ziehen. Gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 darf ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaats ist, aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden, als die inländischen Arbeitnehmer. Gemäß Art. 7 Abs. 2 genießt er dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer. Der Vater der Antragstellerin, der französischer Staatsangehöriger ist, arbeitet in Deutschland. Somit ist vorliegend die Rechtsfrage zu klären, ob der Ausschluss eines Unionsbürgers von Leistungen der Eingliederungshilfe mit Art. 7 Abs. 2 i.V.m. Abs.1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 vereinbar ist, wenn er nicht im Aufenthaltsstaat (Deutschland), sondern in einem grenznahen Mitgliedsstaat (Frankreich) wohnt. Nach dieser Norm genießt ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaats (Frankreich) ist, aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedsstaaten dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer. Soziale Vergünstigungen in diesem Sinne müssen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Arbeitsverhältnis gewährt werden (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Juli 1984, Castelli, C-261/83, ECL I:EU:C: 1984: 280, Rn. 11).  Vielmehr genügt es, wenn die Vergünstigungen „den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedsstaates sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Union zu erleichtern“ (EuGH, Urteil vom 12. Juli 1984, a.a.O.). Leistungen an Familienangehörige des Grenzarbeitnehmers sind dann „soziale  Vergünstigungen“ des Grenzarbeitnehmers im Sinne von Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011, wenn sich die aus den Leistungen erwachsenen Vorteile zugleich als Vergünstigungen  zu Gunsten des Grenzarbeitnehmers selbst darstellen, was  wiederum dann der Fall ist, wenn der Grenzarbeitnehmer für den Unterhalt der unmittelbar begünstigten Person zu sorgen hat (EuGH, Urteil vom 18. Juni 1987,  Lebon C-316/85, ECL I:EU:C: 1987:  302, Rn. 12 f.).

Davon ausgehend dürfte der persönliche Anwendungsbereich der Norm für die Antragstellerin eröffnet sein. Der Vater der Klägerin, der französischer Staatsangehöriger ist, arbeitet in Deutschland. Da dieser Arbeitnehmer von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch macht, ist er berechtigt, sich auf Art. 7 Abs. 2 der V (EU) Nr. 492/2011 zu berufen. Der Vater der Antragstellerin gewährt ihr als minderjährigem Kind Unterhalt.

Ob Leistungen der Eingliederungshilfe in Gestalt von Leistungen zur sozialen Teilhabe für das Kind eines Grenzarbeitnehmers eine „soziale Vergünstigung“ im Sinne des Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011 darstellen, hat der EuGH bislang noch nicht entschieden. Diesbezüglich ist jedoch seitens des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 8. April 2024 (L 12 SO 87/22) folgende Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union  dahin auszulegen, dass er einer Vorschrift des nationalen Rechts entgegensteht, die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX in Gestalt von Schulassistenzleistungen von einem gewöhnlichen Aufenthalt im Inland abhängig macht? Die noch ausstehende Entscheidung des EuGH darüber dürfte auch für den geltend gemachten Anspruch der Antragstellerin auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme einer Autismustherapie von Bedeutung sein.

Deshalb hat der Senat unter Beachtung des Gebotes der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden. Hier überwiegt nach Auffassung des Senats das Interesse der Antragstellerin an der Gewährung der erforderlichen Autismustherapie. Der Antragstellerin droht eine erhebliche Benachteiligung im Sinne ihrer sozialen Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, wenn sie zeitlich unabsehbar (abzuwartende Entscheidung des EuGH, Entscheidung im Klageverfahren S 6 SO 564/24 vor dem SG) auf die erforderliche Autismustherapie warten muss. Bezüglich der Notwendigkeit einer spezifischen Autismustherapie für die Antragstellerin wird an dieser Stelle auf die schon oben in Bezug genommenen Stellungnahmen hingewiesen, aus denen der Senat die Erforderlichkeit der spezifischen Autismustherapie über die Antragstellerin ableitet.

Vor diesem Hintergrund hat die Antragstellerin auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).  


 

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