L 2 SO 1639/24 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 11 SO 1470/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 1639/24 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 15. Mai 2024 wird zurückgewiesen.

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Sozialgericht ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 15. Mai 2024 wird zurückgewiesen.

Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.


Gründe


I.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts (SG) Stuttgart vom 15.05.2024 hat keinen Erfolg. Mit diesem Beschluss hat das SG den Antrag des Antragstellers auf die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 23 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in gesetzlicher Höhe für die Dauer von sechs Monaten abgelehnt.

Der 1961 geborene Antragsteller ist polnischer Staatsbürger und hält sich spätestens seit Mitte September 2023 in S1 auf. Jedenfalls entsandte ihn das in Polen ansässige Pflegeunternehmen „P1 KG“ zum 14.09.2023 nach S1, um hier in einem Seniorenhaushalt Betreuungsdienstleistungen zu erbringen. Am 29.09.2023 erhielt der Antragsteller 200,00 Euro von seiner Arbeitgeberin. Nach übermäßigen Alkoholkonsum endete die Beschäftigung in diesem Seniorenhaushalt jedoch bereits zum 09.10.2023.

Auf seinen Antrag vom 11.10.2023 hin gewährte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit Bescheid vom 04.03.2024 Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 SGB XII für den Zeitraum vom 11.10.2023 bis 15.03.2024. Mit einem weiteren Bescheid vom 05.04.2024 wurden diese Leistungen für den Zeitraum vom 16.03.2024 bis 22.03.2024 verlängert.

Zudem bot die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 15.03.2024 die darlehensweise Übernahme der Kosten für eine begleitete Rückreise ins Heimatland an. Die Antragsgegnerin teilte zudem mit, diese Rückreise zu organisieren (vgl. Email vom 15.03.2024).

Am 21.04.2024 ist vorliegender Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim SG Stuttgart gestellt und die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Umfang des § 23 Abs. 1 SGB XII für die Dauer von sechs Monaten begehrt worden.


II.
Die am 28.05.2024 beim SG gegen den dem Antragstellervertreter am 16.05.2024 gegen elektronisches Empfangsbekenntnis zugestellten Beschluss eingegangene Beschwerde ist gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und nach § 173 SGG insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden.
Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein Anordnungsgrund ist dann gegeben, wenn der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragssteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in Mayer-Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 28). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage aufgrund einer summarischen Prüfung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (Bundesverfassungsgericht [BVerfG] Beschluss vom 02.05.2005 -1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237, 242). Allerdings sind die an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. BVerfG NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (BVerfG Beschluss vom 14.03.2019 - 1 BvR 169/19 - juris Rn. 15; LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 13.10.2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 06.09.2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - <beide juris> jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG).

Gemessen an diesen Grundsätzen bleibt die Beschwerde des Antragstellers ohne Erfolg. Das SG hat den Antrag auf Gewährung von Überbrückungsleistungen zu Recht abgelehnt.

Hierbei hat das SG zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt für Ausländerinnen und Ausländer dargelegt (§ 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) und zutreffend ausgeführt, dass unabhängig davon, ob der Antragsteller überhaupt dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem 3. oder 4. Kapitel des SGB XII ist, eine Leistungsgewährung aufgrund des Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 SGB XII scheitert. Denn - wie das SG zutreffend dargelegt hat - der Antragsteller ist nicht erwerbstätig, hält sich unstreitig seit Mitte September 2023 in S1 auf und ist nach eigenen Angaben zum Zwecke der Arbeitssuche eingereist. Das Aufenthaltsrecht kann sich daher allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergeben, was allein schon wegen des Gesundheitszustandes des Antragstellers jedoch fraglich erscheint. Ein anderweitiges Aufenthaltsrecht des Antragstellers ist nicht ersichtlich. Auch die Rückausnahme des § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII liegt nicht vor, da der Antragsteller keinen durchgreifenden tatsächlichen fünfjährigen Aufenthalt in Deutschland glaubhaft gemacht hat. Den Ausführungen des SG schließt sich der Senat nach eigener Prüfung uneingeschränkt an und sieht deshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab (vgl. § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Ergänzend ist auszuführen, dass auch der Senat nicht der Auffassung des Antragstellervertreters folgt, nach der eine Verlustfeststellung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Freizügigkeitsgesetz/EU nicht vorliege und damit eine Ausreisepflicht nicht bestehe, denn das Bundessozialgericht (BSG) - wie bereits vom SG zitiert - hat entschieden, dass die Auffassung, es müsse ein Leistungsanspruch bestehen, solange der Staat das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nicht festgestellt habe, nicht der gesetzlichen Konzeption entspreche (vgl. BSG, Urteil vom 29.03.2022 - B 4 AS 2/21 R - juris, Rn. 41). Im Übrigen hat auch das BVerfG im Kontext des § 120 Abs. 5 Satz 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) nicht beanstandet, wenn das Leistungsrecht dem Betroffenen faktisch engere Vorgaben macht als sie ihm ausländerrechtlich vorgegeben sind. Ähnlich wie eine unterbliebene Vermögensverwertung nicht zu einem Leistungsanspruch führt, sind Leistungen nicht allein deshalb zu gewähren, weil die Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland unterbleibt (BSG a.a.O., juris Rn. 41 m.w.N.).
So darf der Gesetzgeber Unionsbürger auch regelmäßig darauf verweisen, die erforderlichen Existenzsicherungsleistungen durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Heimatstaat als Ausprägung der eigenverantwortlichen Selbsthilfe zu realisieren (BSG a.a.O., juris Rn. 38 m.w.N.). Auch das BVerfG hat bereits von einem Beschwerdeführer verlangt, sich mit der Möglichkeit einer Bedarfsdeckung im Ausland auseinanderzusetzen (BVerfG [Kammer] Beschluss vom 4.10.2016 -1 BvR 2778/13 - juris Rn. 8).

Etwas anderes folgt weiter auch nicht aus den vom Bevollmächtigten des Antragstellers in der Beschwerdebegründung zitierten Urteilen des BVerfG. Zunächst kann der Senat in diesem Zusammenhang auch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs, wie vom Antragstellervertreter vorgetragen, erkennen, weil das SG die von ihm zitierten Entscheidungen des BVerfG vom 18.07.2012, vom 05.11.2019 und vom 19.10.2022 nicht berücksichtigt habe. Dies ist schlichtweg falsch, denn das SG hat diese Entscheidungen sehr wohl in der angefochtenen Entscheidung genannt (vgl. Seite 2 und 6 des Beschlusses vom 15.05.2024).

Darüber hinaus führen diese genannten Entscheidungen des BVerfG entgegen der Ansicht des Antragstellervertreters zu keinem anderen Ergebnis.

Das Urteil vom 18.07.2012 (- 1 BvL 10/10 -, - 1 Bvl 2/11 -, juris) zum Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und insbesondere der dortigen Formulierung, dass Existenzminimum müsse in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein, betraf eine andere Fallgestaltung. Denn die dortigen Ausführungen betrafen zum einen nur die Frage der höhenmäßigen Bemessung des Bedarfs, nicht aber die davon zu trennende Frage der Zumutbarkeit anderer Bedarfsdeckung und Bedarfsvermeidung. Zum anderen betrafen sie nur den von § 1 Abs. 1 AsylbLG erfassten Personenkreis, bei dem der Gesetzgeber typisierend davon ausgeht, dass diesem eine Rückreise in das Heimatland gegenwärtig nicht möglich oder zumutbar ist. Dies ist bei Unionsbürgern grundsätzlich, vorbehaltlich individueller Umstände im Einzelfall, anders (siehe hierzu insgesamt mit weiteren Fundstellen BSG a.a.O., juris Rn. 39).

Auch aus der Formulierung des BVerfG, die Menschenwürde dürfe nicht migrationspolitisch relativiert werden folgt nichts Anderes (BSG a.a.O., juris Rn. 40). Abgesehen davon, dass die - eine Abwägung schlechthin nicht zugängliche - Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) nicht identisch ist mit dem auf Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angewiesenen Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG), ist diese Formulierung in thematischen - auf den Anwendungsbereich des AsylbLG bezogenen - Kontext zu sehen. Sie bezog sich auf eine Absenkung des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum für einen Personenkreis, dem (wie ausgeführt) eine Rückkehr in das Herkunftsland prima facie nicht zumutbar ist und nicht auf den hier betroffenen Personenkreis der Unionsbürger (BSG a.a.O., juris Rn. 40).

Auch die weitere vom Bevollmächtigten des Antragstellers zitierte Entscheidung des BVerfG vom 19.10.2022 (- 1 BvL 3/21 -) ist nicht auf den hier vorliegenden Sachverhalt eines Unionsbürgers anwendbar, denn auch diese Entscheidung betrifft die Höhe von Leistungen nach dem AsylbLG, sodass das oben Gesagte auch hier gilt.

Das ferner vom Bevollmächtigten zitierte Urteil des BVerfG vom 05.11.2019 betrifft ebenfalls einen anderen Personenkreis, nämlich die Leistungsempfänger nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) im Zusammenhang mit Sanktionen nach § 31a SGB II, also ebenfalls einen Personenkreis, der anders als der Antragsteller, über einen gesicherten Aufenthalt verfügt.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht hinsichtlich des vom Bevollmächtigten weiter zitierten Kommentierung und verschiedener Literaturmeinungen zu § 23 SGB XII, denn, unabhängig davon, ob diese die Position des Antragstellers überhaupt stützen, teilt der Senat die dortigen Bedenken nicht und folgt vielmehr der Argumentation des BSG in seinem Urteil vom 29.03.2022 (- B 4 AS 2/21 R -). Dies gerade auch vor dem Hintergrund, dass dem Antragsteller bereits von der Antragsgegnerin angeboten wurde, eine Heimreise samt Begleitperson zu organisieren und diese (darlehensweise) zu finanzieren, dieser der Heimreise zunächst zustimmte, sich nun aber weigert die Heimreise anzutreten, obwohl ihm dies zu diesem Zeitpunkt nach Überzeugung des Senats auch medizinisch zumutbar war (vgl. amtsärztlich- psychiatrische Stellungnahme des Gesundheitsamtes vom 16.02.2024). Inwieweit der Antragsteller unter diesen Umständen über mögliche Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 SGB XII hinaus noch schutzbedürftig sein soll, erschließt sich dem Senat nicht.

Ein Anspruch des Antragstellers auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII kommt damit nicht in Betracht.

Im Falle des Antragstellers kämen allenfalls Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII in Betracht, solche sind jedoch hier im Eilverfahren ausdrücklich nicht beantragt worden, zumal im Beschwerdeverfahren keine weiteren Unterlagen dahingehend vorgelegt worden sind aus denen sich ergibt, dass eine begleitete Rückreise aufgrund des aktuellen Gesundheitszustandes nicht (mehr) möglich wäre.

Auch aus diesen Gründen ist die Beschwerde zurückzuweisen.


III.
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird gemäß § 73a SGG i.V.m. § 114 ZPO abgelehnt. Hinreichende Erfolgsaussichten waren bereits zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung nicht gegeben, wie sich aus dem oben Dargestellten ergibt.


IV.
Aus diesen Gründen ist auch die Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem SG zurückzuweisen.


Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).


 

Rechtskraft
Aus
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