Landessozialgericht Baden-Württemberg
L 2 R 2345/23
S 2 R 1156/21
Im Namen des Volkes
Urteil
Der 2. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in Stuttgart hat ohne mündliche Verhandlung am 10.07.2024 für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 18. Juli 2023 insoweit abgeändert, dass die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 13. November 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Mai 2021 verurteilt wird, der Klägerin ausgehend von einem Leistungsfall im Januar 2022 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer ab 1. Februar 2022 und unter Anrechnung dieser eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. August 2022 bis zum 31. Juli 2025 zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in dem Berufungsverfahren.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.
Die 1972 geborene Klägerin, für die ein Grad der Behinderung von 60 v.H. und der Pflegegrad 3 festgestellt ist, ist seit 2014 in Teilzeit tätig als Altenpflegehelferin; seit März 2020 ist sie durchgehend arbeitsunfähig. Bis Januar 2022 bezog die Klägerin Krankengeld.
Vom 1. Oktober bis 21. November 2018 befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung im V1-Hospital in R1. Im Entlassungsbericht vom 19. November 2018 wurde als Diagnose u.a. eine schwere depressive Episode genannt. Vom 20. Januar bis 3. März 2020 absolvierte die Klägerin eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik am s1 in S2. Im Entlassungsbericht vom 12. März 2020 wurden folgende Diagnosen gestellt: Rezidivierende depressive Störungen, gegenwärtig mittelgradige Episode, einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung und vorwiegend Zwangshandlungen (überwiegend Kontrollzwang).
Die Klägerin beantragte bei der Beklagten am 9. Oktober 2020 die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 13. November 2020 ab, da die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nicht vorliegen würden.
Hiergegen erhob die Klägerin am 24. November 2020 Widerspruch. Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin u.a. den Bericht des H1-Klinikums vom 22. September 2020 vor, in welchem eine schwere Depression und eine posttraumatische Belastungsstörung sowie Zwangsgedanken beschrieben wurden.
Die Klägerin wurde sodann im Auftrag der Beklagten vom G1 ambulant untersucht. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 30. Januar 2021 ein degeneratives Halswirbelsäulensyndrom mit deutlicher Osteochondrose C5 bis C7 mit mittelgradigen Funktionseinschränkungen, ein leichtes degeneratives Lumbalsyndrom mit Bandscheibenprotrussion L5/S1 und leichter Hyperlordose bei leichten Funktionseinschränkungen, eine rezidivierende depressive Störung bei gegenwärtig mittelgradiger Episode, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren im Sinne eines somatoformen Störbildes, eine selbstunsichere Persönlichkeitsstörung, ein behandeltes mitgeteiltes ADHS sowie eine Neigung zu Zwangsstörungen in Form von Kontrollzwängen fest. Die Tätigkeit als Altenpflegehelferin sei vor dem Hintergrund der chronischen Schmerzstörung und der Überlagerung durch Depression nicht mehr möglich. Leichte Tätigkeiten in Tagschicht seien vollschichtig möglich.
Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin daraufhin unter Bezugnahme auf das Gutachten von G1 mit Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 2021 als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente lägen nicht vor. Das Leistungsvermögen der Klägerin sei nicht auf unter sechs Stunden herabgesunken.
Hiergegen hat die Klägerin am 18. Mai 2021 zum Sozialgericht (SG) Reutlingen Klage erheben lassen. Zur Begründung ist vorgetragen worden, vor dem Hintergrund des vorliegenden Pflegegrades 3 und der Schwerbehinderteneigenschaft sei die sozialmedizinische Einschätzung des Gutachters G1 äußerst fraglich. Im ärztlichen Behandlungsbericht des H1-Klinikums vom 22. September 2020 seien eine schwere Depression, eine posttraumatische Belastungsstörung sowie Zwangsgedanken beschrieben worden. Die Klägerin könne unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes einer Tätigkeit nicht mehr nachgehen.
Das SG hat zunächst Beweis erhoben durch die Befragung der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen.
Der V2 hat mit Schreiben vom 20. August 2021 die Diagnosen schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome, posttraumatische Belastungsstörung, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und Zwangsgedanken und -handlungen gemischt mitgeteilt. Im Vordergrund stünde eine schwere depressive Episode. Im August 2020 sei eine stationäre Behandlung in der Psychosomatischen Klinik des H1-Klinikums erfolgt mit einer leichten psychischen Stabilisierung bei nach wie vor gegebener mittelgradiger depressiver Störung. Es bestünden Bedenken gegen die Beurteilung, die Klägerin könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mindestens sechs Stunden eine leichte Tätigkeit ausüben. Es sei eine zumindest befristete Erwerbsminderungsrente zu befürworten.
Der V3 hat mit Schreiben vom 7. September 2021 von rezidivierenden depressiven Episoden sowie einem Fibromyalgiesyndrom berichtet. Seit nun drei Jahren sei ein erhebliches rezidivierendes depressives Syndrom zu beobachten, welches auch durch anhaltende ambulante Facharztbetreuung, medikamentöse Therapie und drei stationäre Heilverfahren nicht so habe stabilisiert werden können, dass eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorstellbar sei.
Der M1 hat für die Beklagte in einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 19. Oktober 2021 hierzu ausgeführt, bei nahezu übereinstimmenden Diagnosen seitens der psychiatrischen Berichte und dem psychiatrischen Gutachten von G1 werde eine ausgeprägte Depressivität und Antriebsminderung im Gutachten beschrieben. Unbestritten sei eine ungünstige familiäre Konfliktsituation, welche einer intensiven psychosozialen und psychotherapeutischen Behandlung bedürfe. Diese Voraussetzungen erschienen jedoch bei der aktuellen Behandlungsfrequenz nicht gegeben.
Mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 11. November 2021 hat die Klägerin darauf hinweisen lassen, dass sie sich derzeit in den A1 Kliniken B1 wegen ihrer Fibromyalgie in stationärer Behandlung befinde. Eine Überweisung in die L1klinik zur stationären Behandlung sei veranlasst. Aus der erheblichen Behandlungsdichte ergäbe sich, dass die Klägerin hinsichtlich der psychischen Problematik und der Schmerzproblematik unter einem hohen Leidensdruck stehe.
Die R2 hat mit Schreiben vom 26. November 2021 mitgeteilt, bei der Klägerin bestünden eine rezidivierende depressive Störung bei gegenwärtig mittelgradiger Episode bei aktualisiertem Arbeitsplatzkonflikt auf dem Boden einer ängstlich-unsicheren Neurosenstruktur sowie vorwiegend Zwangshandlungen in Form von Zwangsritualen, eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung. Psychomotorisch sei die Klägerin hoch angespannt bei hohem Leidensdruck. Es würden Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, Schlafstörungen, Schmerzen im Nacken und im Lendenwirbelbereich und immer wieder Stimmungstiefs vorliegen. Es bestünde ein sozialer Rückzug, starkes Vermeidungsverhalten, hohe Gleichgültigkeit, keine Lebensfreude; der Antrieb sei stark gemindert. Im Vordergrund der Behandlung stünde die depressive Episode. Im Laufe der Behandlung habe sich keine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand der Klägerin ergeben. Es bestünde dauerhaft eine niedrige körperliche Leistungsfähigkeit.
Der Chefarzt der A1 Kliniken für Psychosomatik und Psychotherapie B1 S3 hat in seiner schriftlichen Zeugenaussage vom 19. Januar 2022 von der stationären Behandlung der Klägerin im Zeitraum vom 19. bis 25. November 2021 berichtet. Bei der Klägerin bestünde ein schweres Fibromyalgiesyndrom, ein degeneratives Wirbelsäulensyndrom, eine chronische Depression, ADHS sowie ein latenter Eisenmangel. Das Leistungsvermögen betrage drei bis unter sechs Stunden arbeitstäglich.
Der M1 hat für die Beklagte in einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 3. Februar 2022 hierzu ausgeführt, ausgehend davon, dass während der stationären Behandlung keine medikamentöse Anpassung an die verfassten Diagnosen stattgefunden habe, sei ein in sich nicht stimmiges Behandlungsregime bei nach wie vor erforderlicher intensiver tagesklinischer und auch ambulanter Psychotherapie festzustellen. Die Frage, warum keine leitliniengerechte Schmerztherapie bei chronischen Schmerzen durchgeführt werde und auch keine Änderung der Medikation stattgefunden habe, lasse die Frage aufkommen, ob der Leidensdruck wirklich so gravierend wie dargestellt sei. Es verbleibe bei der bisher getroffenen Leistungsbeurteilung.
Die Klägerin hat den Entlassungsbericht der L1klinik D1 vom 14. April 2022 über eine vom 18. Januar bis 15. März 2022 erfolgte stationäre und vom 16. März bis 14. April 2022 teilstationäre Behandlung vorgelegt. Als Diagnosen werden (u.a.) eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome, eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, eine residuale juvenil-adulte Verlaufsform einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Zwangsgedanken und -handlungen gemischt sowie eine posttraumatische Belastungsstörung genannt. Die Klägerin habe sich hoch belastet mit einem sehr komplexen Krankheitsbild und schwerst depressiv zur Aufnahme in die Klinik eingefunden. Durch die Behandlung mit entsprechender medikamentöser Umstellung habe es eine leichte Besserung der Stimmung, des Antriebs und des Schlafverhaltens gegeben. Weiterhin sei es zu einer leichten Verbesserung von Fokussierung, Selbststrukturierung, der Konzentration und der Merkfähigkeit gekommen. Die Klägerin bedürfe jedoch weiterer therapeutischer Unterstützung bei einer anhaltend stark eingeschränkten psychophysischen Belastbarkeit. Zur sozialmedizinischen Beurteilung sei eine psychosomatische Rehamaßnahme beantragt worden. Es sei ein sehr hoher Leidensdruck durch starke und anhaltende tägliche Schmerzen sowie ausgeprägte Schlafstörungen gegeben.
Mit Bescheid vom 6. Mai 2022 hat die Beklagte eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation in der L1klinik bewilligt.
Vom 1. Juni bis 5. Juli 2022 hat die Klägerin diese Rehamaßnahme absolviert. Im Entlassungsbericht vom 11. Juli 2022 haben die Ärzte folgende Diagnosen gestellt:
Rezidivierende depressive Störung gegenwärtig mittelgradige Episode,
chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren,
kombinierte und andere Persönlichkeitsstörungen mit emotional-instabilen und selbstunsicheren Anteilen,
posttraumatische Belastungsstörung,
einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, Fibromyalgie.
Der Rehaverlauf habe eine erhebliche Beeinträchtigung bei komplexem, vielseitigem und chronifiziertem Beschwerdebild sowie eine weitgehende Überforderung und geringe Belastbarkeit gezeigt. Im Rehaverlauf habe sich ein ausgeprägtes psychisches sowie auch somatisches Beschwerdebild ergeben, aus welchem sich gravierende Einschränkungen der qualitativen und quantitativen Leistungsfähigkeit ergäben. Trotz mehrfacher stationärer sowie ambulanter Vorbehandlungen habe auch durch die Rehabehandlung keine ausreichende Stabilisierung erreicht werden können. Die Summenkomplexität der beschriebenen Symptomatik und hiermit zusammenhängenden beschriebenen Einschränkungen erreichten ein so erhebliches Ausmaß, dass quantitativ von einer Aufhebung des Leistungsvermögens auszugehen sei. Bei der Klägerin bestünde sowohl für ihre letzte Tätigkeit als Altenpflegehelferin als auch für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein Restleistungsvermögen von unter drei Stunden täglich.
Die G2 hat für die Beklagte in der sozialmedizinischen Stellungnahme vom 13. Oktober 2022 hierzu ausgeführt, im Vorfeld sei die Klägerin durch G1 fachpsychiatrisch und internistisch begutachtet worden, wobei dieser ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen und ein aufgehobenes Leistungsvermögen für den Beruf als Altenpflegehelferin bestätigt habe. Von diesem Gutachten 2021 bis zum aktuell vorliegenden Reha-Entlassungsbericht 2022 werde eine massive Eskalation der Beschwerden beschrieben, welche nicht nachvollziehbar sei. Antragsbegründende Diagnose sei eine schwere depressive Episode gewesen, was an sich schon die Reha-Fähigkeit in Frage stelle. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Klägerin an einer fünfwöchigen stationären intensivierten Behandlung teilnehme, die sie „häufig nur erdulden und unter großer Erschöpfung ertragen konnte“; hier wäre dann eher ein Abbruch des Heilverfahrens und eine Verlegung in die Akutpsychiatrie indiziert gewesen. Eine Optimierung der medikamentösen Behandlung habe im Verlauf der Behandlungen zumindest nach dem Gutachten von G1 stattgefunden. Aufgrund der erfahrungsgemäß hohen therapeutischen Ambivalenz seitens der Versicherten in laufenden Rechtsstreitigkeiten sei die Änderungsmotivation und das daraus resultierende Behandlungsergebnis der durchgeführten Maßnahmen besonders kritisch zu prüfen bei doch im Vordergrund stehenden Rentenbegehren. Die Beurteilung des Leistungsvermögens seitens der L1klinik sei in der Zusammenschau nicht komplett nachvollziehbar. Es werde empfohlen, bei der bisherigen Leistungsbeurteilung zu verbleiben.
Das SG hat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen bei dem Oberarzt der M2 Kliniken N1, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie H2. Dieser hat die Klägerin am 5. Januar 2023 ambulant untersucht und in seinem Gutachten vom 6. Januar 2023 folgende Diagnosen gestellt:
Double-Depression im Sinne einer depressiven Neurose durch zeitweise Überlagerung durch rezidivierende mittelgradige depressive Episoden,
kombinierte Persönlichkeitsstörung mit selbstunsicheren und abhängigen Zügen sowie Anteilen an Traumafolgenstörung,
chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren,
anamnestisch einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung.
Die Klägerin weise auf psychiatrischem Fachgebiet eine komplexe psychische Gesundheitsstörung auf, durch welche Funktionsbeeinträchtigungen bezüglich der Regulation ihrer Affekte, ihrer Stimmungslage, ihres Selbstwerterlebens sowie ihrer Impulssteuerung bedingt seien. Die Stressbelastbarkeit, die Selbstbehauptungsfähigkeit, die Abgrenzungsfähigkeit und die Konfliktbewältigungsfähigkeiten seien erheblich eingeschränkt. Die Klägerin zeige ein Rückzugs- und Vermeidungsverhalten. Diese Funktionsbeeinträchtigungen begründeten qualitative Einschränkungen der beruflichen Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit. Die körperlichen Gesundheitsstörungen im Verbund mit der chronischen Schmerzstörung führten zu weiteren qualitativen Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit. Die Funktionsbeeinträchtigungen infolge der komplexen psychischen Gesundheitsstörung seien so stark ausgeprägt, dass diese auch quantitative Leistungseinschränkungen bedingten. Die Klägerin sei lediglich noch dazu in der Lage, eine leichte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes, bei welcher die genannten qualitativen Einschränkungen berücksichtigt seien, arbeitstäglich drei bis unter sechs Stunden an fünf Tagen in der Woche zu verrichten, ohne ihre Restgesundheit zu gefährden. Die Leistungsfähigkeit läge bei drei bis vier Stunden täglich. Dieses Leistungsvermögen bestehe seit Anfang 2022. Eine Besserungsmöglichkeit des Zustandes der Klägerin bestehe nicht.
Die G2 hat für die Beklagte in der sozialmedizinischen Stellungnahme vom 5. April 2023 zum Gutachten von H2 ausgeführt, das Gutachten sei inhaltlich gut nachvollziehbar, ebenso zum großen Teil die Einschätzung der qualitativen Einschränkungen. Nicht ganz nachvollzogen werden könne das quantitative Leistungsvermögen. Trotz der benannten vorliegenden multiplen psychischen und somatischen Erkrankungen sei kein Summationseffekt der Beschwerden ableitbar. Es werde ein recht blander psychischer Befund beschrieben. Die vorliegenden psychischen Erkrankungen seien durch leitliniengerechte Behandlung stabilisierbar. Fehlende Therapiemotivation und Änderungsbereitschaft begründeten keine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens. Die Therapie sei im Rahmen der zumutbaren Willensanpassung durchaus abzuverlangen. Weitere therapeutische Optionen stünden noch offen. Die benannten Gesundheitsstörungen seien in den beschriebenen qualitativen Einschränkungen ausreichend gewürdigt.
In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 5. Mai 2023 hat H2 ausgeführt, soweit angemerkt werde, dass er einen „recht blanden psychischen Befund“ beschrieben habe, weise er darauf hin, dass er neben der remittierten depressiven Episode auch eine chronische neurotische Depression, eine kombinierte Persönlichkeitsstörung, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert habe. Diese Störungen seien in dem von ihm dokumentierten psychischen Befund, welchen er nicht ganz so blande finde, auch zum Ausdruck gekommen. Er habe ausgeführt, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Behandlungen zunehmend immer kränker beschrieben worden sei bzw. alternativ, dass es zu einer zunehmenden Verschlechterung ihrer komplexen psychischen Erkrankung gekommen sei. Seine Beurteilung der beruflichen Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit der Klägerin gründe sich auf die von ihm im Rahmen der Untersuchung festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen. Seiner Überzeugung nach seien hierbei durchaus additive Effekte der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund der komplexen psychischen Störung und der körperlichen Erkrankungen zu berücksichtigen. Er halte an seiner Leistungsbeurteilung fest.
Mit Urteil vom 18. Juli 2023 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 13. November 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Mai 2021 verurteilt, der Klägerin ausgehend von einem Leistungsfall im Januar 2022 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer ab 1. Januar 2022 und unter Anrechnung dieser eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. August 2022 bis zum 31. Juli 2025 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, dass auf der Grundlage der maßgeblichen gesetzlichen Regelungen die Voraussetzungen für eine Rente wegen (teilweiser und voller) Erwerbsminderung gegeben seien. Es stütze sich hierbei auf das schlüssige und nachvollziehbare Sachverständigengutachten von H2 und seine ergänzende Stellungnahme. Seine Einschätzung des Leistungsvermögens der Klägerin decke sich mit der des behandelnden V2, des V3 sowie den Ärzten in der L1klinik. Diese hätten jeweils ein eingeschränktes Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gesehen. Soweit der Sozialmedizinische Dienst der Beklagten sich den Ausführungen von H2 nicht habe anschließen können, überzeuge dies im Ergebnis nicht. H2 führe hierzu aus, soweit von der Beklagten kritisiert werde, dass er eine remittierte Depression diagnostiziert habe und einen „recht blanden psychischen Befund“ dargestellt habe, habe er neben der remittierten depressiven Episode gerade auch eine chronische neurotische Depression, eine kombinierte Persönlichkeitsstörung, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung bei der Klägerin diagnostiziert. Diese Störungen seien in dem von ihm dokumentierten psychischen Befund, welchen er nicht blande finde, auch zum Ausdruck gekommen. Er habe auch darauf hingewiesen, dass die Klägerin im Rahmen ihrer durchaus zahlreichen Behandlungen zunehmend immer kränker beschrieben worden bzw. alternativ, dass es zu einer zunehmenden Verschlechterung ihrer komplexen psychischen Erkrankung gekommen sei. Deshalb erscheine die Einschätzung des Sachverständigen H2 für das Gericht nachvollziehbar und schlüssig. Da er von einer teilweisen Erwerbsminderung, mithin einem Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden ausgegangen sei und weiter ausführe, dass dieser Zustand dauerhaft seit Anfang 2022 bestehe, sei die Beklagte zur Gewährung einer unbefristeten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ausgehend von einem Leistungsfall im Januar 2022 mit einem Rentenbeginn im Januar 2022 zu verurteilen gewesen. Da die Klägerin keinen Teilzeitarbeitsplatz innehabe, sei die Beklagte zudem zur Gewährung einer „Arbeitsmarktrente“, d.h. einer befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung wegen Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes zu verurteilen gewesen. Nach der Regelung des § 101 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) sei mit Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit, mithin ab dem 1. August 2022 diese Rente befristet auf drei Jahre, mithin bis zum 31. Juli 2025, zu gewähren. Da die Klägerin die Gewährung einer unbefristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung beantragt habe, sei die Klage im Übrigen abzuweisen.
Die Beklagte hat gegen das ihr mit elektronischem Empfangsbekenntnis am 27. Juli 2023 zugestellte Urteil am 14. August 2023 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung erhoben. Zur Begründung führt sie gestützt auf die sozialmedizinische Stellungnahme von N2 vom 8. August 2023 aus, das Gutachten von H2 überzeuge nicht. Er teile diagnostisch eine Befundverbesserung mit, indem die frühere rezidivierend verlaufene Depression sich klinisch als chronifizierte depressive Neurose niedergeschlagen habe. Einem über sechsstündigen Leistungsvermögen stehe die diagnostische Einschätzung einer kombinierten Persönlichkeitsstörung nicht entgegen, da die Klägerin mit entsprechenden Persönlichkeitseigenschaften bereits im Erwerbsleben gearbeitet habe. Eine somatoforme Schmerzkomponente zeige keine wesentlichen Auffälligkeiten in dem Untersuchungsbefund. Darüber hinaus bestünde eine in das Erwerbsleben eingebrachte kinder- und jugendpsychiatrische Krankheitsentität. Im Entlassungsbericht der L1klinik vom 11. Juli 2022 seien Widersprüchlichkeiten zu bemerken. Psychopathologisch werde eine leichtergradige Depressivität mitgeteilt, die eine relevante Krankheitsschwere im Sinne der Fragestellung nicht zweifelsfrei nachvollziehen lasse. Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung lasse sich anhand des mitgeteilten psychopathologischen Befundes nicht nachvollziehen. Es sei anzumerken, dass die Klägerin trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen seit 12. Juli 2018 Pflegegeld beziehe und daher offensichtlich eine Person nicht erwerbsmäßig pflege. Die Pflege von Personen sei keine leichte Tätigkeit, sondern vielmehr mittelschwer oder gar schwer. Die ausgeübte nichterwerbsmäßige Pflegetätigkeit werde in den Gutachten von H2 und von G1 nicht thematisiert. Durch die Pflege könne die Tagesstruktur nicht so passiv sein, wie sie in der Anamnese im Gutachten von H2 beschrieben werde. Auch spräche eine aktiv ausgeübte Pflegetätigkeit gegen ein allzu ausgeprägtes Rückzugs- und Vermeidungsverhalten, da Pflegepersonen versorgt werden wollten und müssten. Bei einer Pflegetätigkeit sei von einer erheblichen körperlichen und auch seelischen Belastung auszugehen. Aus dem Pflegegutachten vom 25. April 2023 folge, dass die Pflegeleistungen im häuslichen Bereich bezüglich der Tochter erbracht würden. Die Tochter benötige eine umfangreiche personelle Unterstützung im Wohnumfeld im Umfang von 28 Wochenstunden. Es sei nicht erkennbar, dass diese Tätigkeit ein „Schonarbeitsplatz“ sei. Pflegerische Betreuungsmaßnahmen ohne körperbezogene Pflegemaßnahmen seien mit Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vergleichbar. Weiterhin sei die Klägerin als Vorsitzende des Reitvereins K1 bzw. als Beisitzerin im Vereinsvorstand aktiv. In solche Vorstandsämter würden regelmäßig Personen gewählt, die sich für den Verein einsetzten und die Vereinszwecke aktiv förderten. Zusammen mit der Pflege der Tochter sei weiterhin davon auszugehen, dass die Klägerin Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich ausüben könne.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 18. Juli 2023 insoweit aufzuheben, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer ab dem 1. Januar 2022 und unter Anrechnung dieser eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. August 2022 bis zum 31. Juli 2025 zu gewähren und die Klage insoweit abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das SG habe die Beklagte zutreffend zur Gewährung einer Rente wegen (teilweiser und voller) Erwerbsminderung verurteilt. Mit überzeugender Begründung sei es dem Sachverständigengutachten von H2, der Einschätzung des behandelnden Nervenarztes, des Hausarztes sowie der Ärzte der L1klinik gefolgt. Soweit die Beklagte auf die von der Klägerin durchgeführte Pflegetätigkeit eingehe, sei zwar zutreffend, dass für die Klägerin Pflichtbeiträge wegen nichterwerbsmäßiger Pflege gezahlt würden. Die Klägerin pflege allerdings ihre sich im Teenageralter befindliche Tochter. Diese sei in Pflegegrad 2 eingestuft. Körperliche Pflege im eigentlichen Sinne sei nicht erforderlich. Keinesfalls übe die Klägerin schwere Pflegetätigkeiten an fünf Stunden oder mehr pro Tag aus. Die Klägerin habe im März 2023 ihre Vorsitzendentätigkeit im Reitverein abgegeben. Der Beklagten sei zuzugestehen, dass die zugesprochene Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung erst ab dem 1. Februar 2022 zu gewähren sei.
Der Berichterstatter hat die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten am 7. November 2023 und am 30. Januar 2024 erörtert. Dabei haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig; der Senat entscheidet über die Berufung auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung.
Die Berufung ist insoweit begründet, als die Beklagte dazu verurteilt worden ist, eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer bereits ab dem 1. Januar 2022 und nicht erst ab dem 1. Februar 2022 zu gewähren; im Übrigen ist die Berufung jedoch unbegründet.
Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die hier von der Klägerin beanspruchte Rente wegen (hilfsweiser und voller) Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) dargelegt und zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung - jedoch erst ab dem 1. Februar 2022 - und ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. August 2022 bis zum 31. Juli 2025 besteht, weil die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankungen nicht mehr in der Lage ist, noch mindestens sechs Stunden täglich leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten und sie diesbezüglich nur noch ein Leistungsvermögen im zeitlichen Umfang von drei bis unter sechs Stunden täglich aufweist. Der Senat schließt sich der Begründung des SG hierfür nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage uneingeschränkt an, sieht deshalb gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab und weist die Berufung - soweit sie nicht begründet ist - aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurück.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Begründung der Beklagten im Berufungsverfahren und der Würdigung des Gutachtens von H2 und des Entlassungsberichts der L1klinik vom 11. Juli 2022 in der sozialmedizinischen Stellungnahme von N2 vom 8. August 2023. Dieser geht einzeln und isoliert auf die jeweiligen Diagnosen und die diesbezügliche Befunderhebung sowohl im Reha-Entlassungsbericht der L1klinik vom 11. Juli 2022 als auch des psychiatrischen Gutachtens von H2 vom 6. Januar 2023 ein, merkt diesbezüglich Inkonsistenzen/Widersprüchlichkeiten an und zieht die sozialmedizinischen Einschätzungen des H2 wie der L1klinik auf die jeweilige einzelne Erkrankung bezogen in Zweifel. N2 würdigt jedoch in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 8. August 2023 nicht, dass bei der Klägerin insbesondere nach dem Sachverständigengutachten von H2 wie auch nach dem Reha-Entlassungsbericht der L1klinik eine komplexe psychische Gesundheitsstörung vorliegt, welche sich aus der depressiven Störung im Sinne einer „Double Depression“ mit chronifizierter depressiver Neurose und zeitweiser Überlagerung durch mittelgradige depressive Episoden, einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit selbstunsicheren und abhängigen Zügen sowie Anteilen einer Traumafolgenstörung, einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom „zusammensetzt“. Insoweit folgt der Senat dem überzeugenden Gutachten von H2. Insbesondere nach dem Reha-Entlassungsbericht der L1klinik vom 11. Juli 2022 liegt bei der Klägerin ein ausgeprägtes psychisches wie auch somatisches Beschwerdebild im Sinne des Zusammenwirkens der mehrfachen Erkrankungen der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet vor, aus welchem sich gravierende Einschränkungen der qualitativen und quantitativen Leistungsfähigkeit ergeben. Im Reha-Entlassungsbericht der L1klinik vom 11. Juli 2022 werden die Komplexität der bei der Klägerin vorliegenden Symptomatik überzeugend folgendermaßen beschrieben: Einschränkungen der Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, geringe Stresstoleranz, Vermeidungstendenz und Katastrophisierungsgedanken, Einschränkungen bezüglich der Kompetenz-Wissensanwendung im Sinne von Konzentrationsproblemen und Angst vor Fehlern, Einschränkungen der Proaktivität und Spontanaktivitäten bei fehlendem Antrieb und geringer Eigeninitiative bei hoher Erschöpfung, Einschränkungen der Widerstands- und Durchhaltefähigkeit bei rascher Erschöpfbarkeit und Überforderungserleben vor dem Hintergrund einer dysfunktionalen Grundeinstellung und erhöhtem Schmerzerleben, Einschränkungen der Selbstbehauptungsfähigkeit im Sinne von Schwierigkeiten und emotionalen Abgrenzungen und Schwierigkeiten, entsprechend eigener Bedürfnisse zu handeln und um Hilfe zu bitten und schließlich Einschränkungen der Konversation und Kontaktfähigkeit zu Dritten im Sinne von sozialer Unsicherheit mit Selbstabwertung bei erhöhtem Schamerleben und eingeschränkter Kritikfähigkeit. Dieses ausgeprägte, komplexe psychische wie auch somatische Beschwerdebild, das bei der Klägerin gegeben ist, erreicht nach überzeugender Einschätzung sowohl des Sachverständigen H2 als auch der L1klinik ein so erhebliches Ausmaß, dass nicht nur in qualitativer, sondern auch in quantitativer Hinsicht das Leistungsvermögen der Klägerin auf ein Ausmaß von drei bis unter sechs Stunden täglich gesunken ist. Diese Einschätzung basiert sowohl seitens H2 als gerade auch der L1klinik auf eigener Befunderhebung - betreffend die L1klinik auf einer fünfwöchigen stationären medizinischen Rehamaßnahme -, wohingegen N2 seine Einschätzung des Leistungsvermögens der Klägerin ausgehend von den von ihm in Bezug genommenen ärztlichen Stellungnahmen „lediglich“ nach Aktenlage vorgenommen hat.
Der Senat - wie auch das SG - folgt auch der Einschätzung des Sachverständigen H2, dass dieser Erkrankungszustand der Klägerin, der zu einer quantitativen Reduzierung des Leistungsvermögens der Klägerin führt, seit Anfang (Januar) 2022 gegeben ist. Diesbezüglich stützt sich der Senat insbesondere auf den Entlassungsbericht der L1klinik vom 14. April 2022 über eine stationäre Behandlung der Klägerin vom 18. Januar bis 15. März 2022 und eine teilstationäre Behandlung vom 16. März bis 14. April 2022. In diesem Bericht ist ebenso wie in dem Sachverständigengutachten von H2 und dem Rehaentlassungsbericht der L1klinik vom 11. Juli 2022 von dem komplexen Krankheitsbild der Klägerin die Rede, die sich laut diesem Bericht im Januar 2022 schwerst depressiv zur Aufnahme in die Klinik eingefunden hat. In diesem Bericht werden ein sehr hoher Leidensdruck der Klägerin durch starke und anhaltende tägliche Schmerzen sowie ausgeprägte Schlafstörungen dargestellt. Zwar ist es durch die stationäre und teilstationäre Behandlung in der L1klinik zu einer gewissen Verbesserung des Gesundheitszustandes der Klägerin bedingt auch durch die medikamentöse Umstellung gekommen; jedoch ist von einer weiterhin anhaltend stark eingeschränkten psychophysischen Belastbarkeit auch nach Beendigung dieser Behandlung die Rede. Eine weitere Verbesserung des Gesundheitszustandes und damit verbunden des Leistungsvermögens der Klägerin konnte jedoch auch durch die stationäre medizinische Rehamaßnahme in der L1klinik vom 1. Juni bis 5. Juli 2022 nicht erreicht werden. Denn es ist in dem Reha-Entlassungsbericht vom 11. Juli 2022 ausgeführt, dass trotz mehrfacher stationärer ambulanter Vorbehandlungen auch durch die aktuelle Rehabehandlung keine ausreichende Stabilisierung der Klägerin erreicht werden konnte. Es wird deshalb von einem unter sechsstündigen Leistungsvermögen der Klägerin ausgegangen. Ebenso ist es nach der stationären medizinischen Rehamaßnahme nicht zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes der Klägerin gekommen, wie durch das Sachverständigengutachten von H2 bestätigt wird.
Der Senat ist deshalb ebenso wie das SG davon überzeugt, dass aufgrund der „Multimorbidität“ der Klägerin insbesondere auf psychiatrischem Fachgebiet seit Januar 2022 von einem zeitlich reduzierten Leistungsvermögen der Klägerin von unter sechs Stunden täglich für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen ist.
Zu einer anderen Auffassung gelangt der Senat auch nicht unter Berücksichtigung der der Tochter der Klägerin gegenüber erbrachten Pflegetätigkeit. Zu berücksichtigen ist dabei, dass es sich ausschließlich um „pflegerische Betreuungsmaßnahmen“ und nicht um körperbezogene Pflegemaßnahmen handelt. Dies folgt aus dem Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg vom 25. April 2023. Ausgehend von den pflegebegründenden Diagnosen „sonstige hyperkinetische Störungen und kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten“ beschreibt die Klägerin die „Defizite“ ihrer Tochter, auf die bezogen eine pflegende Tätigkeit erbracht wird, damit, dass die Tochter wenig Lust zu Unternehmungen habe und Motivation und Aufforderungen im Alltag brauche. Gemäß dem Pflegegutachten bestehen im Bereich kognitive und kommunikative Fähigkeiten, im Bereich Verhaltensweisen und psychische Problemlagen sowie im Bereich Selbstversorgung und schließlich im Bereich Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte gewisse Defizite. Dabei liegt ausgehend von den bei den Modulwertungen gewichteten Punkten ein Schwerpunkt in den Bereichen Selbstversorgung und Gestaltung des Alltaglebens und sozialer Kontakte. Der Senat ist deshalb und auch ausgehend von den Angaben der Klägerin in den Terminen zur Erörterung des Sachverhalts am 7. November 2023 und 30. Januar 2024 - sie sei dabei, wenn ihre Tochter die schulischen Hausaufgaben erledige, sie versuche, mit Gesprächen auf eine gewisse Verhaltensänderung der Tochter hinzuwirken - davon überzeugt, dass die Betreuungsmaßnahmen der Klägerin in Bezug auf ihre Tochter keinesfalls ein Ausmaß erreichen und Anforderungen an ihr psychisches und körperliches Leistungsvermögen stellen, welche einer regelmäßigen mindestens sechsstündigen Arbeitstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch nur annähernd entsprechen. Im Übrigen folgt schon aus der zeitlichen Ansetzung von 28 Pflegestunden pro Woche, dass es nicht um eine Pflegetätigkeit geht, die das zeitliche Ausmaß einer Erwerbstätigkeit erreicht, welche im Sinne des § 43 SGB VI mit mindestens 30 Stunden wöchentlich Erwerbsminderung ausschließt.
Schließlich führt auch nicht der Umstand, dass die Klägerin bis März 2023 im Vereinsvorstand des Reitvereins K1 als Vorsitzende tätig war bzw. ab März 2023 im Vorstand als Beisitzerin „aktiv“ ist, zur Verneinung der bei der Klägerin gegebenen Erwerbsminderung. Überzeugend hat die Klägerin diesbezüglich angegeben, dass sie diese Funktion „pro forma“ innegehabt habe; ihr Ehegatte habe in seiner Funktion als „Kassierer“ des Vereins die anfallenden Vereinstätigkeiten erledigt.
Die Berufung hat jedoch insoweit Erfolg, als die Beklagte zu einer Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer ab 1. Januar 2022 verurteilt worden ist. Dies widerspricht der Regelung des § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI ausgehend davon, dass der Eintritt des Versicherungsfalls der teilweisen Erwerbsminderung im Januar 2022 festgestellt wird. Die Renten an Versicherte werden vom Beginn des Kalendermonats an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Voraussetzung ist, dass der Antrag bis zum Ablauf der drei folgenden Kalendermonate gestellt worden ist. Wird die Rente später beantragt, beginnt sie erst mit dem Ersten des Antragsmonats. Für die Prüfung, ob zu Beginn eines Kalendermonats die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, ist der Zeitpunkt festzustellen, in dem sämtliche Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Zu den Anspruchsvoraussetzungen gehören die Mindestversicherungszeit (Wartezeit) und die jeweiligen besonderen versicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen. Die Anspruchsvoraussetzungen liegen dann zum Beginn eines Kalendermonats vor, wenn sie vom Beginn des ersten Tages des Kalendermonats an vorhanden sind. Die Anspruchsvoraussetzungen müssen also grundsätzlich mit Ablauf des vorangegangenen Kalendermonats erfüllt sein. Ausgehend davon, dass der Eintritt des Versicherungsfalls der teilweisen Erwerbsminderung in Person der Klägerin im Januar 2022 - zu Anfang des Jahres 2022 so der Sachverständige H2 - festzustellen ist, und damit nicht vor dem 1. Januar 2022, beginnt die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach der gesetzlichen Regelung am 1. Februar 2022.
Insoweit war der Berufung stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 R 1156/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 2345/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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