S 46 SO 124/24

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 46 SO 124/24
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Auch nach Widerspruch des Erben eines Leistungsempfängers gegen einen Bescheid auf Kostenersatz nach § 102 SGB XII kann dieser Anspruch erlöschen, wenn die Ausgangsbehörde durch Nichtbetreiben des Verfahrens die Hemmung des Erlöschens beendet entsprechend § 102 Abs. 4 Satz 2, § 103 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB XII iVm § 204 Abs. 2 BGB. Die Abgabe eines Widerspruchsverfahrens an die Widerspruchsbehörde genügt für ein Weiterbetreiben des Verfahrens entsprechend § 204 Abs. 2 Satz 3 BGB und für eine erneute Hemmung des Erlöschens des Kostenersatzanspruchs. Eine Mitteilung an den Widerspruchsführer ist dafür nicht erforderlich.

 

I. Der Bescheid vom 22. Dezember 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Februar 2024 wird dahingehend abgeändert, dass die Klägerin 34.168,27 Euro an Kostenersatz zu zahlen hat.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Der Streitwert wird auf 34.710,93 Euro festgesetzt.


T a t b e s t a n d :

Die Klägerin wendet sich gegen die Verpflichtung zum Kostenersatz als Erbin einer Leistungsbezieherin gemäß § 102 SGB XII in Höhe von 34.710,93 Euro,

Der Beklagte erbrachte der Mutter der Klägerin, Frau  H., geboren 1961, ab 01.12.2016 bis 30.11.2018 Leistungen der Eingliederungshilfe für ambulante Betreuung durch einen Betreuungsdienst im Umfang von sechs Stunden pro Woche (Bewilligungsbescheid vom 03.01.2017, Änderungsbescheid vom 13.04.2017). Die verwitwete Leistungsempfängerin war aufgrund von Diabetes erblindet. Sie lebte in einem Einfamilienhaus, das zu drei Viertel in ihrem Eigentum stand, zu einem Viertel im Eigentum der Klägerin. Die Leistungsempfängerin hatte zunächst die Pflegestufe eins, ab Januar 2017 den Pflegegrad 3. Ihr wurde ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 zuerkannt sowie die Merkzeichen G, Bl, H und RF. Sie verfügte bei Leistungsbeginn über eine Erwerbsunfähigkeitsrente von monatlich 660,39 Euro und eine Witwenrente von monatlich 493,46 Euro (jeweils Zahlbetrag). Mit dem Leistungsantrag von Mitte 2016 gab sie an, über Vermögen in Form einer Kapitallebensversicherung von ca. 15.000,- Euro zu verfügen, die zur Sicherheit für das Hausdarlehen abgetreten worden war. Daneben bestanden nach Auflösung einer Sterbegeldversicherung ein Kontoguthaben in Höhe von 3.014,38 Euro. Die Leistungsempfängerin stand unter gesetzlicher Betreuung.

Neben der Eingliederungshilfe bewilligte der Beklagte der Leistungsempfängerin Blindenghilfe gemäß § 72 SGB XII in Höhe von monatlich etwa 65,- Euro. Die einzelnen monatlichen Zahlungen sind in einer Tabelle in der Verwaltungsakte Seiten 426 ff dargestellt. Der Gesamtbetrag von 34.710,93 Euro enthält neben Eingliederungshilfe und Blindengeld auch 65,- Euro für sonstige Kosten im September 2016.

Der Betreuer der Leistungsempfängerin teilte dem Beklagten im Dezember 2018 mit, dass die Lebensversicherung zum Vertragsablauf am 01.06.2018 kurzfristig freigegeben wurde und der Rückkaufswert von 18.165,30 Euro am 29.05.2018 an die Leistungsempfängerin überwiesen wurde. Von diesem Geld wurden etwa 9.500,- Euro nachweislich für die Erneuerung der Heizung des Eigenheimes verwendet.

Im Dezember 2018 teilte der Betreuer dem Beklagten mit, dass sich die Gesundheit der Leistungsempfängerin sehr verschlechtert habe und eine 24-Stunden Pflege erforderlich sei. Zu einer Bewilligung von Hilfe zur Pflege kam es nicht mehr. Die Leistungsempfängerin verstarb am 10.01.2019.

Der Beklagte fragte mit Schreiben vom 17.01.2019 bei der Klägerin an, ob diese Erbin geworden sei und welches Vermögen die Leistungsempfängerin hinterlassen habe. Die Erben seien zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe aus dem Nachlass gemäß § 102 SGB XII verpflichtet. Die Klägerin übermittelte daraufhin am 07.02.2019 den teilweise ausgefüllten Fragebogen zu Vermögenswerten mit einigen handschriftlichen Hinweisen. Am 23.04.2019 teilte das Amtsgericht-Nachlassgericht dem Beklagten, dass die Klägerin alleinige Erbin der Leistungsempfängerin wurde. Mit Schreiben vom 26.08.2019 forderte der Beklagte die Klägerin unter Fristsetzung auf, zu verschiedenen Fragen des beabsichtigten Kostenersatzes durch Erben Stellung zu nehmen und Nachweise vorzulegen. Die Klägerin reagierte nicht.

Die Klägerin zog im Februar 2021 innerhalb von M-Stadt in die S-Straße um.

Mit Schreiben vom 17.11.2021 forderte der Beklagte die Klägerin unter ihrer vormaligen Anschrift nochmals auf, Antworten und Unterlagen bis spätestens 03.12.2021 zu übermitteln. Mit Schreiben vom 25.11.2021 teilte die Klägerin dem Beklagten daraufhin mit, dass das Haus für 95.000,- Euro verkauft worden sei und übermittelte eine Kopie des notariellen Kaufvertrags. Ferner übermittelte die Klägerin Kopien zu den Beerdigungskosten und fragte an, ob die Kosten des Grabsteins dazu gehören. Die Klägerin bat um Kommunikation unter einer E-Mailadresse. Ihre neue Anschrift verschwieg sie.

Mit Schreiben vom 03.12.2021, gerichtet an die vormalige Adresse in München, hörte der Beklagte die Klägerin zum beabsichtigten Verpflichtung zum Kostenersatz nach § 102 SGB XII in Höhe von 34.710,93 Euro an. Die Klägerin nahm dazu mit E-Mail vom 15.12.2021 dahingehend Stellung, dass sie eine Aufschlüsselung der Sozialhilfekosten erhalten wolle sowie eine Fristverlängerung, um die Kosten auf Richtigkeit zu prüfen. Ihre neue Anschrift verschwieg sie. Mit E-Mail vom 17.12.2021 teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass eine Fristverlängerung nur gegen schriftlichen Verjährungsverzicht möglich sei. Die Klägerin reagierte darauf nicht.

Mit Bescheid vom 22.12.2021, mit Postzustellungsurkunde gerichtet an die vormalige Münchner Anschrift der Klägerin, verpflichtete der Beklagte die Klägerin zum Kostenersatz gemäß § 102 SGB XII in Höhe von 34.710,93 Euro. Der Beklagte habe der Mutter der Klägerin Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der ungedeckten Kosten des ambulant betreuten Wohnens gewährt sowie Blindenhilfe. Der Sozialhilfeaufwand belaufe sich in der Zeit von 01.12.2016 bis 30.11.2018 auf 34.710,93 Euro. Dem stehe gegenüber ein Nachlass im Wert von 56.778,86 Euro. Vom Nachlasswert seien Bestattungskosten in Höhe von 3.494,98 Euro abzuziehen und der dreifache Grundbetrag nach § 85 Abs. 1 SGB XII von 2.544,- Euro. Es verbleibe somit bei einem Kostenersatz in Höhe von 34.710,93 Euro.

In der Folge konnte die Zustellung des Bescheids nicht nachgewiesen werden. Mit einer Meldeabfrage stellte der Beklagte den Umzug der Klägerin fest und ließ der Klägerin den Bescheid vom 22.12.2021 erneut mit Postzustellungsurkunde an die neue Anschrift zustellen. Die Zustellung erfolgte laut Zustellungsurkunde am 16.03.2022.

Am 29.03.2022 erhob die Bevollmächtigte der Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid und machte die Verjährung der Forderung geltend. Mit Schreiben vom 11.05.2022 stellte der Beklagte die Sach- und Rechtslage umfassend dar und vertrat die Auffassung, dass die Verjährungsfrist durch laufende Verhandlungen gemäß § 203 BGB gehemmt worden sei. Die Klägerin solle sich bis 31.05.2022 dazu äußern, da andernfalls eine Abgabe des Widerspruchs an die Widerspruchsbehörde erfolgen werde. Die Klägerin teilte am 31.05.2022 mit, dass der Widerspruch nicht zurückgenommen werde, weil die Verjährung eingetreten sei.

Der Beklagte nahm zu der Erwiderung der Klägerin mit Schreiben vom 08.06.2022 nochmals Stellung. Die dreijährige Erlöschensfrist des § 102 Abs. 4 Satz 1 SGB XII sei gemäß § 203 Satz 1 BGB durch Verhandlungen zwischen den Beteiligten gehemmt worden. Die Klägerin habe auf das Anhörungsschreiben vom 03.12.2021 hin mit E-Mail vom 15.12.2021 Verhandlungsbereitschaft gezeigt. Dem widersprach die Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 30.06.2022. Am 26.10.2022 erfolgte eine Sachstandsanfrage der Bevollmächtigten der Klägerin beim Beklagten.

Der Beklagte gab das Widerspruchsverfahren mit Vorlageschreiben vom 12.12.2022 an die Widerspruchsbehörde ab. Eine Abgabenachricht an die Klägerin erging nicht.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 21.02.2024 als unbegründet zurückgewiesen. Die Verjährung sei noch vor Ablauf der drei Jahre nach dem Tod der Leistungsempfängerin gehemmt worden durch die Antwort auf das Schreiben des Beklagten vom 17.01.2019 und durch die Stellungnahme der Klägerin vom 15.12.2021 auf das Anhörungsschreiben vom 03.12.2021.

Die Klägerin hat am 20.03.2024 Klage zum Sozialgericht München erhoben. Der Anspruch auf Kostenersatz sei verjährt. Der Bescheid vom 22.12.2022 sei erst am 16.03.2022 zugestellt worden und damit nach Ablauf der dreijährigen Verjährungsfrist. Selbst wenn am 15.12.2021 eine Verjährungshemmung eingetreten wäre, was bestritten werde, wäre der Anspruch spätestens bei Klageerhebung verjährt gewesen. Eine Hemmung nach Zugang des Bescheids ende gemäß § 204 Abs. 2 BGB sechs Monate nach der letzten Verfahrenshandlung, hier sechs Monate nach der Antwort der Klägerin vom 30.06.2022 auf die Stellungnahme des Beklagten vom 08.06.2022. Der Widerspruchsbescheid sei erst am 21.02.2024 ergangen. Der Stillstand bei der Widerspruchsbehörde führe ebenfalls zur Verjährung. Der Beklagte habe der Klägerin die Abgabe des Verfahrens nicht mitgeteilt, auch nicht durch das Schreiben vom 11.05.2022. Es sei gemäß BGH, Urteil vom 06.07.1995, IX ZR 132/94, im Interesse der Rechtssicherheit auf nach außen erkennbare Umstände des Verfahrensstillstandes abzustellen. Dabei gehe es um die Bekanntgabe der Verfahrenshandlungen gegenüber dem anderen Verfahrensbeteiligten, so VG Cottbus, Urteil vom 28.05.2015, VG 5 K 737/11.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 22.12.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.02.2024 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt, die Klage in Höhe eines Kostenersatzes von 34.168,27 Euro abzuweisen.

Der Beklagte trägt vor, dass eine Verjährung des Anspruchs nicht vorliege. Die Erstattungsforderung sei aber auf 34.168,27 Euro zu reduzieren. Die im Kostenersatz geltend gemachten 477,66 Euro an Blindenhilfe seien nicht zurückzufordern, weil die Bewilligung des Blindengelds ab 01.05.2018 zu Unrecht erfolgt sei. Die Klägerin habe durch die Auszahlung der Kapitallebensversicherung im Mai 2018 den Vermögensfreibetrag für Blindengeld von 5.000,- Euro überschritten. Ferner seien weitere 65,- Euro aus der Erstattungsforderung zu nehmen, weil es sich dabei nicht um Sozialhilfeaufwendungen für die Leistungsempfängerin, sondern um Kosten für ein ärztliches Gutachten gehandelt habe. Bei den Leistungen der Eingliederungshilfe sei die Vermögensfreigrenze wegen § 60a SGB XII, der ab 01.01.2017 einen zusätzlichen Vermögensfreibetrag von 25.000,- Euro festgelegt habe, nicht überschritten.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die form- und fristgerecht erhobene Anfechtungsklage ist zulässig, aber nur zum geringen Teil begründet. Die Voraussetzungen des Anspruchs auf Kostenersatz nach § 102 SGB XII sind grundsätzlich gegeben und der Anspruch ist wegen Hemmungstatbeständen entsprechend §§ 203, 204 BGB nicht erloschen.

1. Die Forderung von 34.710,93 Euro (siehe monatsbezogene Kostenaufstellung in der Verwaltungsakte) ist um Blindenhilfe in Höhe von 477,66 Euro und die 65,- Euro für Gutachtenskosten auf 34.168,27 Euro zu vermindern. Die Gutachterkosten sind schon kein Kosten der Sozialhilfe, die für die Leistungsempfängerin aufgewendet wurden. Die in der Kostenerstattung enthaltene Blindenhilfe für die Zeit von Mai bis November 2018 von 477,66 Euro (anfangs zwei mal 66,53 Euro und dann fünf mal 68,92 Euro) kann der Beklagte nicht zurückfordern, weil diese Leistung nicht rechtmäßig erbracht wurde - die Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung ist aber Voraussetzung des Anspruchs nach § 102 SGB XII (ständige Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 27.02.2019, B 8 SO 15/17 R, dort Rn. 16). Für das Blindengeld galt bis 31.12.2022 ein Vermögensfreibetrag von 5.000,- Euro (§ 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i.V.m. § 1 Satz 1 Barbetragsverordnung a.F.), der nach Auszahlung der Kapitallebensversicherung im Mai 2018 bis zum Erbfall überschritten war. Dass der Beklagte den Freibetrag nach § 102 Abs. 1 Satz 2 SGB XII in Höhe des dreifachen Grundbetrags nach § 85 Abs. 1 SGB XII, also den sechsfachen Regelbedarf der Stufe 1 von insgesamt 2.544,- Euro (424,- Euro mal zwei mal drei) vom Nachlass abgezogen hat statt von den zu ersetzenden Sozialhilfeaufwendungen, ist dem Gericht leider erst nach der Entscheidung aufgefallen.

2. Die Voraussetzungen des Kostenersatzes nach § 102 Abs. 1 SGB XII liegen im Übrigen vor.

a) Die Klägerin ist Alleinerbin der Leistungsempfängerin. Der Beklagte hatte in den letzten zehn Jahren vor dem Erbfall Leistungen der Eingliederungshilfe in Höhe von 34.168,27 Euro aufgewendet. Diese Leistungen wurden als Eingliederungshilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnen gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1, § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 1 und 2 Nr. 6 SGB IX auch rechtmäßig erbracht. Die Leistungsempfängerin war auch hilfebedürftig gemäß § 19 Abs. 3 SGB XII. Das Renteneinkommen lag unter den Grenzen von §§ 85 ff SGB XII. Der Vermögensfreibetrag von 5.000,- Euro war seit 01.01.2017 durch § 60a SGB XII um weitere 25.000,- Euro erhöht, so dass auch die Auszahlung der Lebensversicherung von 18.165,30 Euro im Mai 2018 diese Freibeträge nicht überschritt. Die Auszahlung war lediglich eine Umschichtung von vorhandenem Vermögen, kein Einkommen.

Der Kostenersatz ist gemäß § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB XII auf den Wert des Nachlasses im Zeitpunkt des Erbfalles beschränkt. Den Nachlasswert hat der Beklagte mit 56.778,87 Euro zutreffend bestimmt aus dem Anteil der Leistungsempfängerin an der Immobilie abzüglich der darauf lastenden Kredite und der Guthaben auf Bankkonten (siehe Berechnung im Bescheid vom 22.12.2022). Abzüglich der Bestattungskosten von 3.494,98 Euro verblieben 53.283,89 Euro, mithin deutlich mehr als der geforderte Kostenersatz.

Ein Fall, in dem der Kostenersatz nach § 102 Abs. 3 SGB XII nicht geltend zu machen wäre, insbesondere eines geringen Nachlasswertes oder einer besonderen Härte, liegt nicht vor.

b) Der Anspruch auf Kostenersatz ist auch nicht gemäß § 102 Abs. 4 SGB XII erloschen.

Der Anspruch auf Kostenersatz erlischt gemäß § 102 Abs. 4 Satz 1 SGB XII drei Jahre nach dem Tod der leistungsberechtigten Person. Da diese am 10.01.2019 verstorben war, wäre diese Frist mit Ablauf des 10.01.2022 abgelaufen (§ 26 Abs. 1 SGB X, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB). Der Bescheid vom 22.12.2021 wurde erst am 16.03.2022 zugestellt. Das Erlöschen des Anspruchs wurde aber rechtzeitig gehemmt.

Gemäß § 102 Abs. 4 Satz 2 SGB XII ist § 103 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB XII entsprechend anwendbar. Nach diesen Vorschriften gelten für die Hemmung, die Anlaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung die Vorschriften des BGB sinngemäß (Satz 2). Der Erhebung der Klage steht der Erlass eines Leistungsbescheids gleich (Satz 3).

Entgegen § 214 Abs. 1 BGB, wonach der Schuldner nach Eintritt der Verjährung berechtigt ist, die Leistung zu verweigern, also eine Einrede geltend machen kann, ist das Erlöschen des Anspruchs nach § 102 Abs. 4 SGB XII von Amts wegen zu beachten (Bieback in Grube/ Wahrendorf/ Flint, SGB XII, 8. Auflage 2014, § 102 Rn. 41). Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut "Der Anspruch auf Kostenersatz erlischt ..." in § 102 Abs. 4 Satz 1 SGB XII.

Ein Hemmungstatbestand bewirkt gemäß § 209 BGB, dass der Zeitraum, während dessen die Verjährung bzw. das Erlöschen des Anspruchs gehemmt ist, in die Verjährungsfrist bzw. die Erlöschensfrist nicht eingerechnet wird. Hier erfolgte zuerst eine Hemmung bei Verhandlungen entsprechend § 203 BGB und direkt anschließend eine Hemmung durch Rechtsverfolgung entsprechend § 204 BGB.

aa) Gemäß § 203 Satz 1 BGB ist die Verjährung gehemmt, wenn zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände schweben, bis der eine oder der andere Teil die Fortsetzung der Verhandlungen verweigert. Nach § 203 Satz 2 BGB tritt die Verjährung frühestens drei Monate nach dem Ende der Hemmung ein. Der Begriff der Verhandlungen ist weit auszulegen. Es genügt, dass der Gläubiger klarstellt, welchen Anspruch er geltend machen will und worauf er diesen im Kern stützen will, und anschließend ein Meinungsaustausch beginnt über den Anspruch und seine tatsächlichen Grundlagen. Keine Verhandlungen schweben, wenn der Schuldner Verhandlungen sofort ablehnt. Es genügen Erklärungen des Schuldners, die den Gläubiger zu der Annahme berechtigen, der Schuldner lasse sich auf Erörterungen über die Berechtigung des Anspruchs ein (Ellenberger in Grüneberg, BGB, 81. Auflage 2022, § 203 Rn. 2 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH).

Es kann dahingestellt bleiben, ob bereits die Antwort der Klägerin vom 04.02.2019 auf die Anfrage vom 17.01.2019 den Beginn der Verhandlungen darstellt. Jedenfalls war die Antwort der Klägerin vom 25.11.2021, dem Beklagten zugegangen am 29.11.2021, ein Verhandeln im Sinn von § 203 BGB. Der Beklagte hatte mit Schreiben vom 17.11.2021 nochmals dargestellt, dass er von der Klägerin als Erbin ihrer Mutter für die dieser erbrachten Sozialhilfeleistungen Kostenersatz fordern wolle und deshalb der Wert des Nachlasses zu ermitteln sei. Die Klägerin hat daraufhin Nachweise zum Immobilienverkauf und den Beerdigungskosten übermittelt, sich nach einem weiteren Abzugsposten (Grabsteinkosten) erkundigt und für die weitere Kommunikation eine E-Mailadresse angeboten. Damit hat die Klägerin einen Meinungsaustausch über den Kostenersatzanspruch geführt. Diese Verhandlungen hat die Klägerin fortgesetzt durch das E-Mail vom 15.12.2021, in dem sie Fristverlängerung und Rechnungsbelege zur Anspruchsprüfung vom Beklagten forderte. Darauf antwortete der Beklagte mit E-Mail vom 17.12.2021 und Übermittlung einer Erklärung zum Verjährungsverzicht. Die Verhandlungen dauerten mindestens bis 17.12.2021. Eine Verweigerung der Fortsetzung der Verhandlungen wurde von keiner Seite erklärt. Damit endete die Hemmung gemäß § 203 Satz 2 BGB frühestens drei Monate nach dem 17.12.2021, nach §§ 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 17.03.2022. Der strittige Bescheid vom 22.12.2021 wurde nachweislich am 16.03.2021 zugestellt und damit vor dem frühestmöglichen Ende der Hemmung nach § 203 BGB.

Im Übrigen könnte sich die Klägerin wegen fortgesetzt unredlichem Verhalten nicht auf eine Verjährung berufen (Ellenberg, a.a.O., Rn. 19 vor § 194). Der Grundsatz, dass ein rechtsmissbräuchliches Verhalten, das einen falschen Vertrauenstatbestand für den anderen Teil erzeugt, bei der Frage der Verjährung nicht zu einem Rechtsvorteil führen darf (BGH, Urteil vom 14.09.2004, XI ZR 248/03) gilt gemäß § 102 Abs. 4 Satz 2, § 103 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB XII entsprechend auch für den Erlöschenstatbestand in § 102 Abs. 4 SGB XII.

Die Klägerin hat gegenüber dem Beklagten mehrfach ihren Umzug innerhalb Münchens verschwiegen und gezielt einen Kommunikationsweg zur Verschleierung ihres Umzugs durch E-Mailverkehr gesucht. Damit hat sie rechtsmissbräuchlich versucht, die rechtzeitige Geltendmachung des Kostenersatzes zu verhindern. Die Klägerin war zum Februar 2021 umgezogen. Sie hat das Schreiben des Beklagten vom 17.11.2021 unter ihrer früheren Anschrift erhalten und geantwortet, ohne ihre neue Anschrift bekanntzugeben. Sie hat vielmehr im Antwortschreiben vom 25.11.2021 ohne Angabe ihrer tatsächlichen Wohnanschrift geantwortet und um Kommunikation per E-Mail gebeten. Das war ein Akt der aktiven Täuschung. Im anschließenden E-Mail vom 01.12.2021 zur Übermittlung weiterer Seiten des Immobilienkaufvertrags verschwieg die Klägerin erneut ihren Umzug. Das Anhörungsschreiben vom 03.12.2021 unter der früheren Anschrift machte der Klägerin erneut deutlich, dass der Beklagte nicht über ihre tatsächliche Anschrift verfügte. In ihrer Antwort darauf per E-Mail vom 15.12.2021 verschwieg sie aber erneut ihren Umzug und versuchte den rechtzeitigen Erlass des Kostenersatzbescheids durch eine erstmalige Anforderung von Unterlagen zu verhindern. Dass die Klägerin Kenntnis von der dreijährigen Erlöschensfrist hatte, wird bestätigt durch das Drängen auf Fristverlängerung mit E-Mail vom 16.12.2021 und anschließendem Ignorieren der mit E-Mail vom 17.12.2021 angebotenen Fristverlängerung gegen Erklärung des Verjährungsverzichts. Hätte die Klägerin tatsächlich ein Interesse an der Prüfung der angefallenen Sozialhilfeausgaben gehabt, dann hätte sie den Verjährungsverzicht unterschrieben. Stattdessen setzte die Klägerin auf den Ablauf der drei Jahre zum 10.01.2021 und forderte weder im Widerspruchsverfahren noch im Klageverfahren Unterlagen zu den Sozialhilfeausgaben an.

bb) Durch die Zustellung des Bescheids vom 22.12.2021 am 16.03.2022 erfolgte die Hemmung der Verjährung bzw. des Erlöschens entsprechend § 204 BGB.

(1) Gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB wird die Verjährung durch Erhebung der Klage gehemmt. Nach § 102 Abs. 4 Satz 2, § 103 Abs. 3 Satz 3 SGB XII steht der Erlass eines Leistungsbescheids der Erhebung der Klage gleich. Damit ist am 16.03.2022 die Hemmung der Verjährung eingetreten.

Gemäß § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB endet eine Hemmung nach § 204 Abs. 1 BGB sechs Monate nach der rechtskräftigen Entscheidung oder anderweitigen Beendigung des Verfahrens. Das Widerspruchsverfahren wurde durch das Klageverfahren abgelöst, so dass eine derartige Beendigung hier nicht vorliegen kann.

(2) Nach § 204 Abs. 2 Satz 2 BGB tritt an die Stelle der Beendigung des Verfahrens die letzte Verfahrenshandlung der Parteien, des Gerichts oder einer sonst mit dem Verfahren befassten Stelle, wenn die Parteien das Verfahren nicht betreiben und dadurch ein Stillstand des Verfahrens eintritt. Das bedeutet, dass es auch bei einer Verfahrenszuständigkeit Dritter (Gericht, sonstige befasste Stelle wie die Widerspruchsbehörde) zu einem Stillstand des Verfahrens kommen kann, wenn der weitere Fortgang von einem Betreiben durch die Parteien abhängt. Die Förderung des Verfahrens muss von notwendigen Handlungen der Parteien abhängen, die diese unterlassen, weswegen das Verfahren in Stillstand gerät. Wenn die weitere Förderung des Verfahrens dagegen Sache des Gerichts oder der sonstigen Stelle wäre, ist ein Stillstand nicht durch die Parteien verursacht und ein Fall von § 204 Abs. 2 Satz 2 BGB nicht gegeben (Ellenberg, a.a.O., § 204 Rn. 47).

Zum anderen ist zu beachten, dass ein parteienverursachter Stillstand nicht die Hemmung beendet, sondern an die Stelle der rechtskräftigen Entscheidung tritt und damit die Sechsmonatsfrist bis zum Ende der Hemmung in Gang setzt.

Wenn eine Partei das Verfahren weiterbetreibt, beginnt die Hemmung gemäß § 204 Abs. 2 Satz 3 BGB erneut. Das Weiterbetreiben muss objektiv durch eine nach außen erkennbare Handlung erfolgen, ggf. gegenüber dem Gericht oder der sonstigen befassten Stelle (BGH, Urteil vom 06.07.1995, IX ZR 132/94, dort Rn. 11). Es ist nicht erforderlich, dass der Schuldner von der Handlung Kenntnis erhält (Ellenberger, a.a.O., § 204 Rn. 50; Hau/ Poseck in BeckOK BGB, Stand 01.05.2024, § 204 Rn. 92). So genügte etwa das Einreichen einer Klageschrift mit Antrag auf Prozesskostenhilfe beim Gericht und es kam nicht auf eine Zustellung dieser Schreiben an den Gegner an (BGH, Urteil vom 30.04.1984, II ZR 293/83, dort Rn. 21).

Dies angewendet auf den Erlass des strittigen Bescheids und das nachfolgende Widerspruchsverfahren bedeutet das Folgendes: Der Erlass des Kostenersatzbescheids am 16.03.2022 führte zu einer Hemmung des Erlöschens entsprechend § 204 BGB für zumindest sechs Monate. Anschließend kam es aufgrund wechselseitigen Schriftverkehr zumindest bis 30.06.2022 nicht zu einem Stillstand des Verfahrens und damit zumindest bis zum Ablauf des 30.12.2022 nicht zu einer Beendigung der Hemmung des Erlöschens des Anspruchs. Mit der Abgabe des Widerspruchsverfahrens an die Widerspruchsbehörde Mitte Dezember 2022 erfolgte eine erneute Hemmung des Erlöschens durch Weiterbetreiben des Verfahrens entsprechend § 204 Abs. 2 Satz 3 BGB. Es genügt, dass das Weiterbetreiben objektiv erfolgte, es ist nicht erforderlich, dass der Beklagte die Klägerin über die Vorlage an die Widerspruchsbehörde informierte. Weil das weitere Betreiben des Verfahrens ab dann der Widerspruchsbehörde oblag, konnte ein anschließender Stillstand nicht von der Ausgangsbehörde verursacht worden sein.

Die Klägerin legte am 29.03.2022 Widerspruch ein. Mit Schreiben vom 11.05.2022 nahm der Beklagte dazu umfassend Stellung. Darauf antwortete die Klägerin mit Schreiben vom 31.05.2022. Hierzu entgegnete der Beklagte mit Schreiben vom 08.06.2022. Darauf ging die Klägerin mit Schreiben vom 30.06.2022 erneut ein. Alle Schreiben befassten sich inhaltlich mit dem geltend gemachten Anspruch, insbesondere mit der Frage des fristbedingten Erlöschens des Anspruchs. Das war ein wechselseitiges Betreiben des Verfahrens. Ob die Sachstandsanfrage der Klägerin mit E-Mail vom 26.10.2022 ebenfalls eine ausreichende Verfahrenshandlung war, kann dahinstehen, weil der Beklagte das Widerspruchsverfahren mit Schreiben vom 12.12.2022 an die Widerspruchsbehörde abgab. Die sechs Monate ab der letzten inhaltlichen Stellungnahme der Klägerin vom 30.06.2022 waren noch nicht abgelaufen, so dass die Hemmung durch die Rechtsverfolgung noch nicht durch parteienverursachtem Stillstand beendet sein konnte.

Durch die Abgabe an die Widerspruchsbehörde mit Schreiben vom 12.12.2022 erfolgte ein Weiterbetreiben des Verfahrens gemäß § 204 Abs. 2 Satz 3 BGB. Auf die dadurch gemäß § 204 Abs. 2 Satz 1 und 2 BGB bewirkte erneute Hemmung von mindestens sechs Monaten kommt es nicht an, weil ab der Abgabe an die Widerspruchsbehörde diese für den weiteren Fortgang des Verfahrens als "sonst mit dem Verfahren befasste Stelle" gemäß § 204 Abs. 2 Satz 2 BGB zuständig ist. Über Widersprüche in den Bereichen der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe entscheiden in Bayern gemäß Art. 66d Satz 1 und Art. 80 Abs. 3 BayAGSG die Regierungen. Weil der Weiterbetrieb hier nicht mehr vom Beklagten abhing, denkbar etwa bei einer Rückgabe an die Ausgangsbehörde zwecks Abhilfeprüfung (vgl. Meyer-Ladewig u.a., SGG, 14. Auflage 2023, § 85 Rn. 2), konnte ein erneuter Stillstand durch Nichtbetreiben der Parteien nicht eintreten (BHGH, Urteil vom 07.02.2013, VII ZR 263/11, zur Unschädlichkeit der Untätigkeit der Parteien bei Zuständigkeit des Gerichts). Das ist einer der Gründe, wieso das von der Klägerin zitierte Urteil des VG Cottbus vom 28.05.2015, 5 K 737/11, nicht einschlägig ist - dort waren Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch. Die Interessen der Klägerin an einem Weiterbetreiben des Widerspruchsverfahrens werden im sozialgerichtlichen Verfahren durch die Möglichkeit der Untätigkeitsklage nach § 88 SGG ausreichend gewahrt.

3. Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Bescheid zum Kostenersatz in Höhe von 34.168,27 Euro rechtmäßig ergangen ist, weil die Voraussetzungen nach § 102 SGB XII vorliegen und der Anspruch nicht entsprechend den Verjährungsvorschriften drei Jahre nach dem Tod der Leistungsempfängerin erloschen ist. Die Gesamtforderung von 34.710,93 Euro war lediglich um 542,66 Euro (477,66 Euro plus 65,- Euro) zu vermindern, weil das Blindengeld teilweise zu Unrecht gewährt wurde und die 65,- Euro keine erbrachten Sozialleistungen betrafen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Ein Erbe gehört nicht zum Personenkreis, der gemäß § 183 SGG begünstigt ist (BSG, Urteil vom 27.02.2019, B 8 SO 15/17 R, dort Rn. 28). Die Klägerin ist weit überwiegend unterlegen.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 3 Satz 1 Gerichtskostengesetz.

 

Rechtskraft
Aus
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