S 46 SO 354/23

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 46 SO 354/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die Rückwirkung auf den Ersten des Kalendermonats nach § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB XII bezieht sich nur auf den Antrag auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Wenn ein Antragsteller erst im Laufe des Antragsmonats volljährig wird, kann er erst ab diesem Tag Leistungen erhalten.


I. Der Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 22. Februar 2023 und 1. Juni 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. September 2023 verurteilt, dem Kläger auch für die Zeit vom 11.09.2022 bis 31.12.2022 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewähren.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Berufung wird zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Der Kläger begehrt auch für die Zeit von 01.01.09.2022 bis 31.12.2022 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.

Der am 2004 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er leidet seit Geburt unter einer schweren geistigen Behinderung. Ihm sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen G und H zuerkannt. Im Rahmen der Pflegeversicherung wurde der Pflegegrad 5 festgestellt. Er wohnt bei seinen Eltern und wird von seiner Mutter rechtlich betreut für zahlreiche Aufgabenkreise. Der Kläger verfügt weder über Einkommen noch über Vermögen.

Die Betreuerin stellte für den Kläger einen Antrag auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, der dem Beklagten am 16.09.2023 zuging. Es wurde unter anderem ein ärztliches Gutachten vom 20.07.2022 vorgelegt, das anlässlich des Betreuungsverfahrens im Auftrag des Amtsgerichts M-Stadt erstellt worden war. Mit Schreiben vom 09.01.2023 forderte der Beklagte bei der Deutschen Rentenversicherung eine Prüfung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung gemäß § 45 SGB XII an. Mit Schreiben vom 16.02.2023 teilte die Rentenversicherung dem Beklagten mit, dass die volle Erwerbsminderung zumindest seit dem 09.01.2023 bestehe.

Mit Bescheid vom 22.02.2023 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.01.2023 bis 31.12.2023 in Höhe von monatlich 742,89 Euro. Dagegen erhob die Betreuerin des Klägers Widerspruch, die Leistungen seien bereits ab 01.09.2022 zu gewähren. Mit weiterem Bescheid vom 01.06.2023 lehnte der Beklagte die Gewährung von Leistungen für den Zeitraum vom 01.09.2022 bis 31.12.2022 ausdrücklich ab. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 18.09.2023 als unbegründet zurückgewiesen.

Der Kläger hat am 19.10.2023 Klage zum Sozialgericht München erhoben. Der Kläger sei seit Geburt gesundheitlich sehr eingeschränkt und erwerbsunfähig. Die Rentenversicherung habe das Datum 09.01.2023 nur benannt, weil das das Datum der entsprechenden Anfrage bei der Rentenversicherung gewesen sei. Der Beklagte hätte eine ergänzende konkretisierte Stellungnahme bei der Rentenversicherung einholen müssen.

Der Kläger beantragt,
dem Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 22.02.2023 unter Aufhebung des Bescheids vom 01.06.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.09.2023 zu verurteilen, dem Kläger auch für die Zeit von 01.09.2022 bis 31.12.2022 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Der Beklagte verweist darauf, dass er hinsichtlich der Festlegung des Bestehens der dauerhaften vollen Erwerbsminderung an die Entscheidung der Rentenversicherung gebunden sei.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die form- und fristgerecht erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig und überwiegend begründet. Der Kläger hat ab dem Tag der Vollendung seiner Volljährigkeit am 11.09.2022 Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Die Rückwirkung des Leistungsantrags gemäß § 44 Abs. 2 SGB XII führt aber nicht zu Leistungen für die Zeit vor der Volljährigkeit.

Der Beklagte ist für die strittige Leistung sachlich und örtlich zuständig (§ 97 Abs. 1, § 98 Abs. 1 SGB XII i.V.m. Art. 81 Abs. 1 BayAGSG). Der Kläger erfüllt ab dem Tag seiner Volljährigkeit alle Voraussetzungen für die Leistungsberechtigung nach § 19 Abs. 2, § 41 SGB XII. Er hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, kann seinen notwendigen Lebensunterhalt mangels Einkommen und Vermögen nicht selbst sichern und ist gemäß § 41 Abs. 3 SGB II dauerhaft und unabänderlich voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VI.

Das Gericht ist nicht an die Feststellungen der Rentenversicherung gebunden und hat das Vorliegen dieser Erwerbsunfähigkeit selbst festzustellen (BSG, Urteil vom 08.12.2022, B 8 SO 4/21 R, dort Rn. 13). Diese ergibt sich unmittelbar aus den im Verwaltungsverfahren vorgelegten ärztlichen Unterlagen. So bestätigt das Gutachten vom 20.07.2022, dass der Kläger seit Geburt eine schwergradige Intelligenzminderung hat, nicht sprechen kann; Fragen nicht versteht und seine freie Willensbildung in allen Bereichen aufgehoben ist. Hinzu kommt eine große psychomotorische Unruhe, die es erforderlich mache, beim Toilettengang und bei der Mittagsruhe eine mechanische Fixierung vorzunehmen. Eine Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen sei nicht möglich.

Dass der Beklagte als zuständiger Leistungsträger gemäß § 45 SGB XII zur Feststellung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung regelmäßig den Träger der gesetzlichen Rentenversicherung beauftragen muss und dessen Feststellungen für den ersuchenden Träger bindend sind, dient der Vermeidung von Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen dem Leistungsträger nach SGB II und der Sozialhilfebehörde. Allerdings hätte der Beklagte erkennen müssen, dass die Feststellungen der Rentenversicherung unzureichend waren, weil zeitlich vage ("zumindest seit dem 09.01.2023"), sich zu Unrecht an dem Datum des Schreibens des Beklagten an die Rentenversicherung orientierten und angesichts der vorhandenen Unterlagen inhaltlich falsch waren. Der Beklagte hätte noch im anfänglichen Verwaltungsverfahren, spätestens aber im Widerspruchsverfahren bei der Rentenversicherung eine weitere Stellungnahme anfordern müssen.

Ein Vorrang von Leistungen nach dem SGB II im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft des Klägers mit seinen Eltern gemäß § 21 Satz 1 SGB XII besteht nicht. Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 SGB XII sind Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, mithin Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, vorrangig vor Leistungen nach SGB II. Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB XII erhalten Nichterwerbsfähige nur dann Leistungen nach SGB II, soweit sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII haben. Ob es angesichts dieser Vorschriften und den unterschiedlichen Regelungen zur Einkommensanrechnung im SGB II und SGB XII sinnvoll sein kann, jemandem, der die Anspruchsvoraussetzungen für Grundsicherung nach §§ 41 ff SGB XII erfüllt, daneben einen Anspruch auf Leistungen nach SGB II offen zu halten (so BSG, Urteil vom 28.11.2018, B 4 AS 46/17 R und BSG, Urteil vom 11.11.2021, B 14 AS 89/20 R), kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls könnte hier allenfalls im SGB II Elterneinkommen durch anteilige Horizontalverteilung nach § 9 Abs. 2 SGB II auf den Bedarf des Klägers angerrechnet werden, mithin nur ein geringerer Anspruch auf Sozialgeld bestehen. Dann kann nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II kein Anspruch auf Leistungen nach SGB II bestehen.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII werden Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nur auf Antrag erbracht. Der Antrag ist eine weitere materielle Leistungsvoraussetzung (JurisPK, SGB XII, Stand 01.05.2024, § 44 Rn. 15; Grube/ Wahrendorf/ Flint, SGB XII, 8. Auflage 2024, § 41 Rn. 47; Schellhorn u.a. SGB XII, 21. Auflage 2023, § 44 Rn. 7). Allerdings wirkt der Antrag gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB XII auf den ersten Tag des Kalendermonats zurück, in dem er gestellt wird, wenn die Voraussetzungen des § 41 SGB XII innerhalb dieses Kalendermonats erfüllt werden.

Die in § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB XII angeordnete Vorwirkung bezieht sich allein auf die Leistungsvoraussetzung Antrag. Die Bewilligung erfolgt aber erst ab dem Tag, in dem alle Leistungsvoraussetzungen vorliegen (Grube/Wahrendorf/Flint, a.a.O., § 44 Rn. 7; Bieritz-Harder, SGB XII § 44 Rn. 8). Der am 16.09.2022 gestellte Antrag hat also eine Vorwirkung bis zum 01.09.2022, ein Leistungsanspruch kann aber erst ab Vorliegen aller Voraussetzungen, hier mit Eintritt der Volljährigkeit am 11.09.2022 bestehen.

Zum Teil wird ein Leistungsbeginn ab dem Monatsersten befürwortet, auch wenn die Leistungsvoraussetzungen erst im Laufe des Antragsmonats, also nach dem ersten Tag des Kalendermonats eintreten. Das wird daraus gefolgert, dass der Gesetzgeber sich bei der Änderung der Vorschrift zum 01.01.2016 in der Gesetzesbegründung dazu nicht geäußert habe (Hauck/Noftz, SGB XII, Stand 4.EL 2024, § 44 Rn. 22). Außerdem sei § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB XII, der anordne, dass Leistungen zur Deckung der Bedarfe nach § 42 SGB XII - mit Ausnahme der Bedarfe für Bildung und Teilhabe - nicht für Zeiten vor dem sich nach Satz 1 ergebenden Kalendermonat erbracht werden, im Umkehrschluss so zu verstehen, dass die anderen Bedarfe nach § 42 SGB XII für den vollen Kalendermonat zu gewähren seien (Schellhorn u.a., a.a.O., § 44 Rn. 19; Hauck/Noftz, a.a.O., § 44 Rn. 22).

Diese Argumente können nicht überzeugen. Der Wortlaut von § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB XII gibt allein dem Antrag eine Vorwirkung. Anlass für eine darüberhinausgehende Auslegung bietet die Gesetzesbegründung nicht. Im Gegenteil, in BT-Drs. 18/6284 vom 08.10.2015, Seite 28, führt der Gesetzgeber aus, dass die Rückwirkung des Antrags auf den Ersten des Kalendermonats eine Konsequenz des Monatsprinzips sei und zur Folge habe, dass allen Bedarfen des Kalendermonats die in diesem Monat vorhandenen Mittel gegenüber zu stellen sind. Das Monatsprinzip ist lediglich eine Berechnungsmethode zur Zuordnung von Einkommen zum Bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 08.12.2022, B 8 SO 4/21 R, dort Rn. 15). Laut Gesetzesbegründung (a.a.O.) entspricht die Rückwirkung von Anträgen nach § 44 Abs. 2 SGB XII der Regelung im SGB II. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II wirkt auch der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II auf den Ersten des Monats zurück. Das führt aber nicht dazu, dass dort Leistungen für die Tage gewährt werden, an denen die Leistungsvoraussetzungen noch nicht vorliegen. Bei Leistungsvoraussetzungen, bei denen kein Monatsprinzip gilt, wie etwa beim Vermögen, gibt es erst ab dem Tag Leistungen, ab dem die Vermögensfreibeträge unterschritten werden (BSG, Urteil vom 20.02.2020, B 14 AS 52/18 R, dort Rn. 34). Für andere vom Monatsprinzip unabhängige Leistungsvoraussetzungen nach § 41 SGB XII, wie das Erreichen der Altersgrenze, die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland und den Eintritt der dauerhaften vollen Erwerbsminderung, kann nichts anderes gelten.

Auch systematische Gründe sprechen dafür, dass sich die Vorwirkung allein auf den Antrag beschränkt. § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB XII bekräftigt, dass der Antrag für diese Grundsicherung eine materielle Leistungsvoraussetzung ist und dass es für die Zeit vor dem Antragsmonat mit Ausnahme der Leistungen für Bildung und Teilhabe keine Leistungen gibt. Die Vorschrift regelt nicht, wann im Antragsmonat Leistungsbeginn ist. Gemäß § 37 SGB I sind das SGB I und das SGB X anwendbar, soweit das SGB XII keine abweichende Regelung enthält. Es gilt daher § 40 Abs. 1 SGB I, wonach Ansprüche auf Sozialleistungen entstehen, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Dann kann der Kläger Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erst ab dem Tag erhalten, in dem er volljährig wird, § 41 Abs. 3 SGB XII.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Kläger hat weit überwiegend obsiegt.

Dir Berufung wird wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassen. Der Kläger ist nur für 10 Tage Leistungsbezug unterlegen, mithin deutlich mit weniger als 750,- Euro. Die Frage, ob die Rückwirkung nach § 44 Abs. 2 SGB XII auch für andere Leistungsvoraussetzungen als den Antrag gilt, ist in der Literatur umstritten und obergerichtlich nicht geklärt.

 

Rechtskraft
Aus
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