1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1070,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit 2.05.2022 an die Klägerin zu zahlen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der endgültige Streitwert beträgt 1070 Euro.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Auslegung des § 91 Abs. 2 SGB XI.
Die Klägerin ist nach § 72 SGB XI zugelassen für die Versorgung von Versicherten der Beklagten mit Pflegeleistungen. Eine vertragliche Regelung der Pflegevergütung nach §§ 85, 89 SGB X gibt es zwischen den Beteiligten nicht. Die Klägerin rechnet als Tagespflegeeinrichtung ihre Tagessätze über § 91 Abs. 1 SGB XI direkt gegenüber den Pflegebedürftigen ab und schickt die Rechnungen mit Abtretungserklärungen der Pflegebedürftigen („hiermit trete ich… meine fortlaufenden Ansprüche nach § 91 Abs. 2 SGB XI gegen meine gesetzliche Pflegekasse auf Kostenerstattung der nach § 91 Abs. 1 SGB XI vereinbarten Leistungen an die Tagespflege A. GmbH ab….“) an die Pflegekassen. Teile der vorliegend streitgegenständlichen Rechnungen wurden von der Beklagten zunächst vollständig beglichen. Die Beklagte führte in der Folge eine Rechnungsprüfung durch und forderte bezüglich mehrerer Tagespflegegäste von der Klägerin Teilbeträge zurück. Diese Rückforderungen beglich die Klägerin. Soweit aus der Verwaltungsakte ersichtlich, wurden andere Rechnungen der Klägerin von der Beklagten möglicherweise direkt nur gekürzt beglichen. Jedenfalls verblieb zulasten der Klägerin eine Differenz in Höhe von insgesamt 1070 Euro aufgrund nicht in vollem Umfang gezahlter Rechnungen (unabhängig von den tatsächlichen Zahlungsströmen). Auf die Auflistung der im einzelnen gekürzten Rechnungen auf Bl. 2 f. Gerichtsakte (Klageschrift vom 2.5.2022, S. 2) wird verwiesen. Die Beklagte begründete ihre Kürzungen damit, es könnten „gemäß der Vereinbarung nach § 91 SGB XI“ nur 80 % der jeweiligen pflegebedingten Aufwendungen übernommen werden. Die Klägerin mahnte die offenen Rechnungsbeträge in Höhe von insgesamt 1070 Euro u.a. mit Schreiben vom 22.2.2021 und 22.3.2021 an. Sie hat am 2.05.2022 Klage vor dem SG Darmstadt erhoben, nachdem seitens der Beklagten keine Zahlung des streitgegenständlichen Betrags erfolgt ist.
Die Klägerin meint, die 80 %-Regel des § 91 Abs. 2 SGB XI sei auf das gesetzliche Budget des konkret versicherten Tagespflegegastes zu berechnen und nicht auf jede einzelne Rechnung, wie dies die Beklagte vorgenommen habe. Die Klägerin stützt ihre Auffassung auf den Wortlaut des § 91 Abs. 2 S. 2 SGB XI, wonach auf den dritten Abschnitt des vierten Kapitels des SGB XI verwiesen wird.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere 1070 Euro nebst gesetzlicher Zinsen seit Rechtshängigkeit für Tagespflegeleistungen nach § 41 SGB XI an die Klägerin zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte meint, die Rechnungskürzungen seien zu Recht erfolgt. Der Anspruch auf Erstattung betrage höchstens 80 % der tatsächlich entstandenen Aufwendungen.
Das Gericht hat die Beteiligten zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte, die Gegenstand der Entscheidung waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, denn die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf und der Sachverhalt ist geklärt, § 105 Abs. 1 S. 1 SGG. Die Beteiligten wurden auch zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört, § 105 Abs. 1 S. 2 SGG.
Die zulässige Klage ist vollumfänglich begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte aus § 91 Abs. 2 SGB XI auf Erstattung von 80 % des Betrags, der den Pflegebedürftigen nach § 41 Abs. 2 SGB XI monatlich zustehen würde. Für darüberhinausgehende Kürzungen jeder einzelnen Rechnung gibt es keine Gesetzesgrundlage.
§ 91 SGB XI lautet:
Abs. 1: „Zugelassene Pflegeeinrichtungen, die auf eine vertragliche Regelung der Pflegevergütung nach den §§ 85 und 89 verzichten oder mit denen eine solche Regelung nicht zustande kommt, können den Preis für ihre ambulanten oder stationären Leistungen unmittelbar mit den Pflegebedürftigen vereinbaren.
Abs. 2: „Den Pflegebedürftigen werden die ihnen von den Einrichtungen nach Absatz 1 berechneten Kosten für die pflegebedingten Aufwendungen erstattet. Die Erstattung darf jedoch 80 vom Hundert des Betrages nicht überschreiten, den die Pflegekasse für den einzelnen Pflegebedürftigen nach Art und Schwere seiner Pflegebedürftigkeit nach dem Dritten Abschnitt des Vierten Kapitels zu leisten hat.“
§ 91 Abs. 1 SGB XI regelt eine Abkehr vom Sachleistungsprinzip in Fällen, in denen Pflegeeinrichtungen in bestimmten, näher definierten und im einzelnen strittigen Fällen die Befugnis eingeräumt wird, die Vergütung von Pflegeleistungen direkt mit Versicherten zu vereinbaren. Die Versicherten haben dabei nach § 91 Abs. 2 SGB XI einen der Höhe nach begrenzten Kostenerstattungsanspruch gegen die Pflegekasse. Dieser Anspruch ist als Anspruch auf Sozialleistungen nach § 53 Abs. 2 Satz 1 SGB I abtretbar, zumindest wie hier an den Träger der Pflegeeinrichtung (O´Sullivan in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 3. Aufl., § 91 SGB XI (Stand: 01.10.2021), Rn. 30). Der Klägerin darf daher Erstattungsansprüche „ihrer“ Pflegebedürftigen aus abgetretenem Recht gegenüber der Beklagten geltend machen.
Der geltend gemachte Anspruch steht der Klägerin vollumfänglich zu. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 91 Abs. 2 S. 2 SGB XI.
Der Höhe nach richtet sich der Erstattungsanspruch der Pflegebedürftigen gegen die Beklagte nach dem Wortlaut des § 91 Abs. 2 S. 2 SGB XI nach dem „Betrag, den die Pflegekasse für den einzelnen Pflegebedürftigen nach Art und Schwere seiner Pflegebedürftigkeit nach dem Dritten Abschnitt des Vierten Kapitels zu leisten hat“. Der dritte Abschnitt des vierten Kapitels des SGB XI regelt das Leistungsrecht der Pflegeversicherung, nämlich u.a. die Leistungen bei häuslicher (§§ 36 ff. SGB XI), teilstationärer (§§ 41, 42 SGB XI) und vollstationärer Pflege (§ 43 SGB XI).
Für die hier streitgegenständliche teilstationäre Tagespflege ist in § 41 SGB XI geregelt:
§ 41 Tagespflege und Nachtpflege
Abs. 1 „Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 haben Anspruch auf teilstationäre Pflege in Einrichtungen der Tages- oder Nachtpflege, wenn häusliche Pflege nicht in ausreichendem Umfang sichergestellt werden kann oder wenn dies zur Ergänzung oder Stärkung der häuslichen Pflege erforderlich ist. Die teilstationäre Pflege umfasst auch die notwendige Beförderung des Pflegebedürftigen von der Wohnung zur Einrichtung der Tagespflege oder der Nachtpflege und zurück“.
Abs. 2 „Die Pflegekasse übernimmt im Rahmen der Leistungsbeträge nach Satz 2 die pflegebedingten Aufwendungen der teilstationären Pflege einschließlich der Aufwendungen für Betreuung und die Aufwendungen für die in der Einrichtung notwendigen Leistungen der medizinischen Behandlungspflege. Der Anspruch auf teilstationäre Pflege umfasst je Kalendermonat
1.für Pflegebedürftige des Pflegegrades 2 einen Gesamtwert bis zu 689 Euro,
2.für Pflegebedürftige des Pflegegrades 3 einen Gesamtwert bis zu 1 298 Euro,
3.für Pflegebedürftige des Pflegegrades 4 einen Gesamtwert bis zu 1 612 Euro,
4.für Pflegebedürftige des Pflegegrades 5 einen Gesamtwert bis zu 1 995 Euro“.
Bei einem Pflegebedürftigen des Pflegegrads 2 begrenzt damit § 91 Abs. 2 SGB XI den Erstattungsbetrag für teilstationäre Pflege auf 80 % von 689 Euro monatlich. Dies entspricht auch der einhelligen Meinung in der Kommentarliteratur (vgl. O´Sullivan in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 3. Aufl., § 91 SGB XI (Stand: 01.10.2021), Rn. 29, 30; Sonja Reimer (geb. Mühlenbruch) in: Hauck/Noftz SGB XI, 3. Ergänzungslieferung 2023, § 91 SGB 11, Rn. 10; Knittel in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, 120. EL, § 91 Rz. 81, Baumeister in Berchtold/Huster/Rehborn, Gesundheitsrecht, 2. Aufl. 2018, § 91 Rz. 8; a.a.O. wohl, aber ohne Begründung Rolfs in Beck-Online Großkommentar, § 91 SGB XI Rz. 8). Für die von der Beklagten auf jede einzelne Rechnung vorgenommene Kürzung auf 80 % sieht das Gesetz dem Wortlaut nach dagegen keinen Anhaltspunkt vor.
Abweichende Erkenntnisse ergeben sich weder aus der systematischen noch aus der teleologischen Gesetzesauslegung. § 91 ist eine Ausnahmeregelung im Vergütungsrecht des SGB XI. Sie ist zugleich zwingende Folge des Vereinbarungsprinzips, das dem Vergütungsrecht zugrunde liegt. Danach hat jeder zur Versorgung zugelassene (§ 72) Einrichtungsträger das Recht, die Vergütung der Pflegeleistungen individuell mit den Leistungsträgern auszuhandeln und bei ausbleibender Einigung auf den Abschluss einer Vergütungsregelung zu verzichten. Der Verzicht hat für die Pflegebedürftigen, die Leistungen der Einrichtung in Anspruch nehmen, negative Konsequenzen: Sie erhalten die Pflegeleistungen nicht als Sachleistung, sondern sind in vermindertem Umfang auf Kostenerstattung angewiesen (Abs. 2). Die Regelung des § 91 SGB XI soll die Wahlfreiheit von Pflegebedürftigen erhalten, die trotz gewisser Leistungseinschränkungen von einer Einrichtung betreut werden möchten, deren Vergütungsniveau das Leistungsvermögen der Pflegeversicherung überschreitet (Udsching/Schütze/Udsching, 5. Aufl. 2018, SGB XI § 91 Rn. 2). Der Normcharakter als Ausnahmeregelung spricht nach allgemeinen Auslegungsregelungen für eine enge Auslegung, die es verbietet, der Beklagten und dem Gemeinsamen Rundschreiben des GKV-Spitzenverbands sowie der Verbände der Pflegekassen auf Bundesebene zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des SGB XI (letzter Stand 14.11.2023, S. 364) folgend über den Wortlaut hinausgehend eine „doppelte 80 %“-Grenze vorzusehen.
Die Entscheidung zu den Prozesszinsen beruht auf § 291 BGB. Rechtshängigkeit besteht im Sozialgerichtsverfahren bereits ab Eingang der Klage bei Gericht, § 94 S. 1 SGG, hier der 2.05.2022.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Der Streitwert war auf 1070,00 Euro festzusetzen. Da weder die Klägerin noch die Beklagte zu den in § 183 SGG genannten Personen gehört, werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes (GKG) erhoben, § 197 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz SGG. Die Höhe der Gebühr richtet sich nach dem Wert des Streitgegenstandes (Streitwert), soweit nichts Anderes bestimmt ist (§ 3 Abs. 1 GKG). In Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist der Streitwert grundsätzlich nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG). Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung, so ist deren Höhe maßgebend (§ 52 Abs. 3 GKG). Nebenforderungen (z.B. Zinsen) werden nicht berücksichtigt (§ 43 Abs. 1 GKG). Vorliegend hatte die Klägerin mit der Klageschrift einen Betrag von 1070 Euro eingeklagt, so dass dieser zugrunde zu legen war.