Eine nicht erwerbstätige EU-Ausländerin kann ein zum Bezug von Grundsicherungsleistungen berechtigtes Aufenthaltsrecht zur Wahrung der familiären Verhältnisse haben, wenn sie in Deutschland mit ihrem dreijährigen Kind und dessen über ein eigenes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer verfügenden Vater zusammenlebt.
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juli 2020 sowie der Bescheid des Beklagten vom 20. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2017 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, der Klägerin laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Monat Januar 2017 i. H. v. 166,15 €, für den Monat Februar 2017 i. H. v. 163,67 €, für den Monat März 2017 i. H. v. 164,34 €, für den Monat April i. H. v. 159,14 € und für den Monat Mai 2017 i. H. v. 211,14 € zu gewähren.
Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Klageverfahren vollständig und für das Berufungsverfahren zu 34 % .
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Mai 2017 einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) hat.
Die 1991 geborene Klägerin hat die polnische Staatsangehörigkeit und war in den streitigen Monaten die damals noch unverheiratete Lebensgefährtin des am 2. Januar 1992 geborenen polnischen Staatsbürgers Ji. Die Klägerin und Herr J sind die Eltern des am 2013 in Polen geborenen Sohns O. Herr J war ausweislich der erweiterten Meldebescheinigungen des Bezirksamtes vom 20. Mai 2016 seit dem 1. März 2015 und die Klägerin mit dem gemeinsamen Sohn O seit dem 1. Juni 2015 mit Zuzug aus Polen in der R Str. 114 im Bezirk von Berlin gemeldet. Am 24. März 2016 zog die Klägerin gemeinsam mit Herrn J und O in eine im Zuständigkeitsbereich des Beklagten belegene Wohnung in der Wstr. um. Herr J und die Klägerin heirateten am August 2017 und wurden am Juni 2018 Eltern des weiteren gemeinsamen Sohns E.
Für ihre Zweizimmerwohnung in der Wstr. mit einer Wohnfläche von ca. 62,26 m² und dezentraler Warmwasserversorgung (Durchlauferhitzer) hatte die Familie nach dem Mietvertrag bis zum 31. März 2017 eine Bruttowarmmiete von 610,00 € und ab dem 1. April 2017 von 623,50 € zu zahlen. Aufgrund einer dreißigprozentigen Mietminderung zahlte die Familie im Streitzeitraum bis zum 30. April 2017 tatsächlich nur eine Bruttomiete von 427,00 €. Für den Monat Mai 2017 zahlte die Familie tatsächlich 610,00 €.
Herr J übte ab dem 9. Januar 2016 eine geringfügige abhängige Beschäftigung als Küchenaushilfe aus, und zwar in den Monaten Januar bis März und Mai 2016 in einem zeitlichen Umfang von 12 Stunden und im Juni und Juli 2016 von 28 Stunden monatlich. Der Stundenlohn betrug 8,50 €. Ab dem 1. Juni 2016 arbeitete Herr J gegen einen Stundenlohn von 8,50 € zusätzlich als Büromitarbeiter, Fahrer und Beifahrer in einem regelmäßigen zeitlichen Umfang von 5 Stunden wöchentlich und ab dem 1. August 2016 in einem regelmäßigen zeitlichen Umfang von 14-15 Stunden wöchentlich bei der Firma W..
Nach eigener Kündigung des vorgenannten Arbeitsverhältnisses nahm Herr J ab dem 11. Oktober 2016 eine Vollzeitbeschäftigung als Auslieferungsfahrer bei der Firma TGmbH auf. Hieraus erzielte er ein Einkommen im Januar 2017 von 1.545,00 € brutto und 1.163,90 € netto, im Februar 2017 von 1.610,00 € brutto und 1.169,76 € netto, im März 2017 von 1.606,88 € brutto und 1.168,19 € netto, im April 2017 von 1.589,55 € brutto und 1.180,48 € netto, sowie im Mai 2017 von 1.691,21 € brutto und 1.226,41 € netto. Der Lohn wurde jeweils im Abrechnungsmonat ausgezahlt. Weiteres Einkommen erzielten die Klägerin und ihre Familie nicht.
Für O bezog Herr J im Streitzeitraum das Kindergeld i. H. v. 192,00 € monatlich.
O besuchte seit dem 1. Februar 2016 eine Kindertagesstätte.
Die Klägerin und Herr J beantragten nach vorangegangenem Leistungsbezug vom Jobcenter und dem mit Zustimmung dieses Jobcenters erfolgten Umzug erstmals im Mai 2016 Leistungen bei dem Beklagten.
Dieser erließ am 20. Mai 2016 zunächst einen Versagungsbescheid und lehnte mit zwei getrennten Bescheiden vom 31. Mai 2016 die Gewährung von Leistungen einerseits gegenüber Herrn J und O sowie andererseits gegenüber der Klägerin ab. Die hiergegen gerichteten Widersprüche wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheiden vom 21. Juli 2016 zurück. Auch einen am 23. Juni 2016 gestellten Neuantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 2016 gegenüber Herrn J und O und mit Bescheid vom 29. Dezember 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2017 gegenüber der Klägerin ab. Zur Begründung der Leistungsablehnung bezog sich der Beklagte auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II und führte aus, Herr J habe kein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 des Gesetzes über die Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU), weil er keine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübe. Auch O und die Klägerin verfügten über kein Aufenthaltsrecht.
Aufgrund eines von Herrn J und der Klägerin betriebenen einstweiligen Rechtschutzverfahrens (Az.: S ) verpflichtete das Sozialgericht Berlin den Beklagten mit Beschluss vom 8. September 2016 zur vorläufigen Leistungserbringung für die Zeit vom 26. August bis zum 30. November 2016.
Im Hauptsacheverfahren (Az.: S ) verurteilte das Sozialgericht den Beklagten mit Urteil vom 27. August 2016, Herrn J und O für die Monate Juli und August 2016 und der Klägerin für den Zeitraum von Juni bis November 2016 Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zur gewähren. Zur Begründung führte es bezogen auf die Klägerin aus, diese sei nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil sie ein Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU i. V. m. dem Auffangtatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) als Partnerin des als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigten Herrn J und Mutter von O habe. Das von dem Beklagten geführte Berufungsverfahren (Az.: L 3 AS 1753/19) endete mit einem Vergleich, welcher im Wesentlichen zum Inhalt hat, dass das beigeladene Bezirksamt von Berlin als Sozialhilfeträger die aufgrund des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 8. September 2016 erbrachten Leistungen dem Beklagten zu erstatten hat und die Familie der Klägerin auf weitere Leistungsansprüche nach § 23 Abs. 1 Satz 3 des Zwölften Buchs des Sozialgesetzbuches (in der bis zum 28. Dezember 2016 geltenden Fassung) gegen das Bezirksamt und der Beklagte auf Rückforderungsansprüche gegen Herrn J und O verzichtet.
Am 26. Oktober 2016 stellte die Familie der Klägerin bei der Beklagten einen Weiterbewilligungsantrag.
Mit Bescheid vom 20. Januar 2017 lehnte der Beklagte den Antrag gegenüber Herrn J und O mangels Hilfebedürftigkeit ab.
Mit weiterem Bescheid vom 20. Januar 2017 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin unter Bezugnahme auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ab.
Die hiergegen eingelegten Widersprüche von Herrn J und der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheiden vom 13. Februar 2017 zurück. Gegenüber der Klägerin führte der Beklagte aus, diese sei nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zwecke der Arbeitssuche ergebe.
Ein von der Klägerin und ihrer Familie vor dem Sozialgericht Berlin geführtes einstweiliges Rechtschutzverfahren (Az.: S 189 AS 714/17 ER) blieb ohne Erfolg. Mit Beschluss vom 14. März 2017 lehnte das Sozialgericht deren am 17. Januar 2017 gestellten Antrag, den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen für die Zeit vom 17. bis 31. Januar 2017 vorläufig Leistungen i. H. v. 108,87 € und für die Zeit vom 1. Februar bis zum 30. April 2017 Leistungen i. H. v. 225,00 € monatlich zu gewähren, ab. Bei einem sich ohne Berücksichtigung der Einkommens-Absetzbeträge ergebenden rechnerischen monatlichen Leistungsanspruch der Antragsteller von 48,79 € (Klägerin und Herr J jeweils 20,58 € und Or 7,63 €) fehle es am Anordnungsgrund. Darüber hinaus habe die Klägerin kein Aufenthaltsrecht glaubhaft gemacht.
Am 3. März 2017 hat die Klägerin Klage erhoben.
Am 14. Juni 2017 stellte die Klägerin mit ihrer Familie bei dem Beklagten einen erneuten Antrag auf die Bewilligung von laufenden Leistungen nach dem SGB II, welchen der Beklagte mit zwei Bescheiden vom 7. Juli 2017 für den Zeitraum ab dem 1. Juni 2017 ablehnte.
Dem hiergegen gerichteten Widerspruch half der Beklagte nach Kenntniserlangung von der am 11. August 2017 erfolgten Eheschließung zwischen der Klägerin und Herrn J teilweise ab. Mit Bescheid vom 31. August 2017 gewährte der Beklagte der Bedarfsgemeinschaft für den Monat August Leistungen i. H. v. 246,59 € (Leistungsgewährung für die Klägerin ab 11. August 2017) sowie für die Monate September bis November 2017 i. H. v. 351,48 € monatlich.
Zur Begründung ihrer Klage hat die Klägerin vorgetragen, sie halte sich wegen der Kindessorge für O in Deutschland auf. Wegen des grundrechtlichen Schutzes der Familie seien ihr für den Zeitraum von Dezember 2016 bis Mai 2017 laufende Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Der Beklagte ist der Klage mit der Begründung entgegengetreten, die Klägerin könne sich nicht auf ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen berufen. Ein Recht auf Freizügigkeit ergebe sich nicht aus § 3 Abs. 1 FreizügG/EU, weil die Klägerin im Streitzeitraum nicht Familienangehörige eines dem § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 Freizüg/EU unterfallenden Unionsbürgers gewesen sei. Ein Freizügigkeitsrecht aufgrund der Verwandtschaft mit O nach § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU bestehe nicht, weil die Klägerin nicht, wie nach § 4 FreizügG/EU erforderlich, über ausreichende Existenzmittel verfügt habe. Auch im Hinblick auf Art. 6 Grundgesetz (GG) und unter Berücksichtigung des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Januar 2013 (B 4 AS 54/12 R) ergebe sich kein Leistungsanspruch.
Die Beigeladene hat vorgetragen, der Leistungsausschluss der Klägerin könnte durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen. Einem Anspruch auf Sozialhilfe stehe § 21 Satz 1 SGB XII entgegen, wozu auf die Begründung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 18. Januar 2017 (S ) Bezug genommen werde.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 8. Juli 2020, das im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergangen ist, abgewiesen. Begründend hat es ausgeführt, die Klägerin habe im Zeitraum vom 1. Dezember 2016 bis zum 31. Mai 2017 dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterlegen. Die Voraussetzungen für eine Freizügigkeit als Familienangehörige nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU lägen nicht vor, weil die Klägerin im Streitzeitraum keine Familienangehörige i. S. v. § 3 Abs. 2 FreizügG/EU gewesen sei. Von Leistungen nach dem SGB XII sei die Klägerin bis einschließlich zum 28. Dezember 2016 nach § 23 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 SGB XII a. F. – entsprechend der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – ausgeschlossen. Ab dem 29. Dezember 2016 ergebe sich der Leistungsausschluss aus § 23 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 SGB XII n. F.
Gegen dieses ihrem Prozessbevollmächtigten am 9. Juli 2020 zugestellte Urteil richtet sich die am gleichen Tage eingelegte Berufung der Klägerin, zu deren Begründung sie vorträgt, dass sie entgegen der Auffassung des Gerichts ein familiäres Verhältnis zu Or gehabt habe. Da dieser wiederum über sein Verhältnis zu Herrn J ein Aufenthaltsrecht habe, stehe ihr ein solches ebenfalls zu.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts vom 8. Juli 2020 sowie den Bescheid des Beklagten vom 20. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Monat Januar 2017 i. H. v. 166,15 €, für den Monat Februar 2017 i. H. v. 163,67 €, für den Monat März 2017 i. H. v. 164,34 €, für den Monat April i. H. v. 159,14 € und für den Monat Mai 2017 i. H. v. 211,14 € zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung trägt er vor, dass der Klägerin auch kein Aufenthaltsrecht aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG i. V. m. § 11 FreizügG/EU zustehe, weil O kein minderjähriger lediger Deutscher sei und auch nicht nach Art. 18 AEUV als solcher zu behandeln sei. Das FreizügG/EU sei eine direkte Umsetzung der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38 EU. Diese zentrale Vorschrift zum Aufenthaltsrecht innerhalb der EU werde überflüssig, wenn man nach Art. 18 AEUV auch ein Gebot zur Gleichbehandlung auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts annehmen wollte. Zu verweisen sei auf Ziffer 29 der Richtlinie, wonach diese nicht die Anwendung günstigerer einzelstaatlicher Rechtsvorschriften berühren solle. Diese Vorgabe sei in § 11 Abs. 1 letzter Satz FreizügG/EU umgesetzt worden. Hiernach sei nur das nationale Recht zu prüfen und dieses nicht mit der Folge europarechtlich so zu modifizieren, dass sich eine Begünstigung ergebe, die weder vom nationalen Recht noch vom Europarecht vorgesehen sei. Art. 18 AEUV sei als Art. 12 bereits im Gründungsvertrag der EG vom 25. März 1957 enthalten. Eine generelle Gleichstellung von EU-Bürger mit Angehörigen der Nationalstaaten wolle die Vorschrift ganz offensichtlich nicht bewirken, weil ansonsten sämtliche Richtlinien und Verordnungen, welche die Voraussetzungen der Freizügigkeit (RL 2004/38/EG) oder der sozialen Sicherheit (VO 883/2004) zum Gegenstand haben, überflüssig seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands, insbesondere wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen, wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Gerichtsakte des Berufungsverfahrens L 3 AS 1753/19 sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die nach § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, insbesondere nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG statthaft.
Gegenstand des Verfahrens sind neben dem erstinstanzlichen Urteil des Sozialgerichts vom 8. Juli 2020 der Bescheid vom 20. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2017 und der Leistungszeitraum vom 1. Januar bis zum 31. Mai 2017.
Die Berufung der Klägerin ist begründet. Das Sozialgericht hat die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGG zulässige Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid vom 20. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Monate Januar bis Mai 2017. Anspruchsgrundlage sind §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 1 SGB III in der im Streitzeitraum geltenden Fassung vom 13. Mai 2011 (BGBl. I, S. 850). Die Klägerin erfüllte in den streitigen Monaten die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Sie hatte das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II), war erwerbsfähig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II), hilfebedürftig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) und hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II).
Die Klägerin war hilfebedürftig, weil ihr Bedarf auch unter Berücksichtigung des von Herrn J erzielten Einkommens aus dessen Tätigkeit als Auslieferungsfahrer bei der Firma TGmbH nicht gedeckt war. Das Einkommen von Herrn J war nach § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II auch bei ihr zu berücksichtigen, da sie mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft zusammen lebte (§ 7 Abs. 3 lit. c) SGB II). Zur Bedarfsgemeinschaft gehörte darüber hinaus der gemeinsame Sohn O als dem Haushalt angehörendes unverheiratetes Kind, das die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen konnte (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II).
Die Höhe der monatlichen Leistungsansprüche ergibt sich nach § 19 Abs. 3 Satz 1 SGB II aus der Gegenüberstellung der zu berücksichtigenden Bedarfe mit dem zu berücksichtigenden Einkommen:
Der Bedarf der Klägerin setzte sich aus der Regelleistung i. H. v. 368,00 € sowie in den Monaten Januar bis April 2017 aus den kopfanteiligen (vgl. BSG, Urteil vom 22. August 2013 – B 14 AS 85/12 R – Rn. 20) Bedarfen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II i. H. v. 142,33 € und im Monat Mai 2017 i. H. v. 203,33 € sowie dem Mehrbedarf für dezentrale Warmwassererzeugung i. H. v. 8,46 € (2,3 % des Regelbedarfs nach § 20 Abs. 3 SGB II, vgl. § 21 Abs. 7 Satz 2 Nr. 1 SGB II) zusammen. Er betrug damit in den Monaten Januar bis April 518,79 € und im Monat Mai 579,79 €. Der Bedarf von Herrn J bestand in gleicher Höhe. Der Bedarf von O setzte sich aus dem Sozialgeld i. H. v. 237,00 € und den kopfanteiligen Bedarfen für Unterkunft und Heizung sowie dem Mehrbedarf für dezentrale Warmwassererzeugung i. H. v. 1,90 € (0,8 % des Regelbedarfs nach § 23 Nr. 1 SGB II, vgl. § 21 Abs. 7 Satz 2 Nr. 4 SGB II) zusammen. Er betrug damit in den Monaten Januar bis April 2017 monatlich 381,23 € und im Monat Mai 2017 monatlich 442,23 €.
Soweit die Klägerin und Herr J gegenüber ihrem Vermieter die Miete gemindert haben, ist für den Zeitraum der geminderten Mietzahlung nur die geminderte Miete als Bedarf für Unterkunft und Heizung zu berücksichtigen, sofern die Mietminderung nicht offensichtlich unwirksam ist (BSG, Beschluss 23. März 2021 – B 4 AS 8/21 BH – Rn. 3). Denn Verbindlichkeiten aus einem Mietverhältnis werden – ausgehend vom Wortlaut des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II, wonach nur tatsächlich entstandene Bedarfe Unterkunftsbedarf sind – erst im Zeitpunkt ihrer Geltendmachung als aktueller Bedarf des Leistungsberechtigten berücksichtigt (BSG, Urteil vom 22. März 2010 – B 4 AS 62/09 R – Rn. 13; Urteil vom 6. April 2011 – B 4 AS 12/10 R – Rn. 15; Urteil vom 24. November 2011 – B 14 AS 121/10 R – Rn. 15; Urteil vom 13. Juli 2017 – B 4 AS 12/16 R – Rn. 17). Es obliegt den Grundsicherungsträgern und im Streitfall den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht, gegebenenfalls umstrittene zivilrechtliche Fragen zu klären. Aus grundsicherungsrechtlicher Perspektive sind privatrechtliche Vereinbarungen (beziehungsweise Erklärungen) insofern nur stets unbeachtlich, wenn entweder im konkreten Fall rechtskräftig ihre Unwirksamkeit festgestellt ist oder wenn die zivilrechtliche Rechtslage offensichtlich ist. Letzteres ist nur dann der Fall, wenn sich eine Rechtsfrage unmittelbar aus dem Gesetz beantworten lässt, durch höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt ist oder in der zivilrechtlichen Rechtsprechung der Berufungsgerichte wiederholt entschieden und dabei einheitlich beurteilt worden ist (BSG, Urteil vom 30. Juni 2021 – B 4 AS 76/20 R – Rn. 21). Wenn später in einem wegen der Mängel der Wohnung geführten Gerichtsverfahren festgestellt wird, dass dem Mieter kein Minderungsrecht oder jedenfalls kein Minderungsrecht in der geltend gemachten Höhe zustand, und es zu Nachforderungen kommt, gehören diese dann einmalig geschuldeten Zahlungen als weiterer einmaliger Unterkunftsbedarf im Rahmen der Kostenangemessenheit zum aktuellen Bedarf des Monats, in dem die Nachforderung rechtskräftig und damit fällig geworden ist. Erst zu diesem Zeitpunkt steht endgültig fest, dass die von dem Beklagten ursprünglich gezahlten Mietkosten nicht den angemessenen Bedarf des Klägers gedeckt haben (Urteil des Senats vom 16. November 2013 – L 4 AS 1640/20; Sächsisches Landessozialgericht [LSG], Urteil vom 17. März 2022 – L 3 AS 568/21, Rn. 21 f.; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 29. Oktober 2020 – L 6 AS 21/18, Rn. 21 f.; Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 17. August 2020 – S 5 AS 1414/20 – Rn. 28; dem wohl zustimmend: BSG, Beschluss vom 23. März 2021, a. a. O.). Anhaltspunkte dafür, dass die Mietminderung offensichtlich unwirksam war, sind hier nicht gegeben.
Den hiernach maßgeblichen Bedarfen ist zur Berechnung der monatlichen Leistungsansprüche nach §§ 9, 11 SGB II das zu berücksichtigende Einkommen gegenüberzustellen. Dieses bestand vorliegend aus dem von Herrn J erzielten Arbeitseinkommen und dem für O bezogenen Kindergeld. Diese laufenden Einnahmen sind nach § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II in dem Monat zu berücksichtigen, in dem sie zufließen. Sie sind außerdem um die Absetzbeträge nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 8 SGB II zu bereinigen, im Falle des Erwerbseinkommens von Herrn J also insbesondere um Steuern (§ 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II) und Sozialversicherungsbeiträge (§ 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II). Nach § 11 b Abs. 2 Satz 1 SGB II ist bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die erwerbstätig sind, anstelle der Beträge nach Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 5 ein Betrag von insgesamt 100,00 € monatlich abzusetzen. Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die erwerbstätig sind, ist von dem monatlichen Einkommen aus Erwerbstätigkeit ein weiterer Betrag gem. § 11b Abs. 3 Satz 1 SGB II abzusetzen. Dieser beläuft sich für den Teil des monatlichen Einkommens, das 100,00 € übersteigt und nicht mehr als 1.000,00 € beträgt, auf 20 % (§ 11b Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II) und für den Teil des monatlichen Einkommens, das 1.000,00€ übersteigt und nicht mehr als 1.200,00 € beträgt, auf 10%. Nach § 11b Abs. 3 Satz 2 SGB II tritt anstelle des Betrages von 1.200,00 € für erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die entweder mit mindestens einem minderjährigen Kind in Bedarfsgemeinschaft leben oder die mindestens ein minderjähriges Kind haben, ein Betrag von 1.500,00 €. Nach § 2 Abs. 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld/Sozialgeld (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung in der Fassung vom 24. März 2011 [Alg II-VO a.F.]) ist bei der Berechnung des Einkommens aus nichtselbständiger Arbeit von den Bruttoeinnahmen auszugehen. Danach bestimmt das Bruttoeinkommen die Höhe der Erwerbstätigenbeiträge nach § 11b Abs. 3 SGB II, die von dem nach § 11b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 SGB II bereinigten Einkommen abzusetzen sind (BSG, Urteil vom 30. Juli 2008 – B 14 AS 43/07 R – Rn. 34). Für das Kindergeld der zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden Kinder gilt nach § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II, dass dieses als Einkommen dem jeweiligen Kind zuzurechnen ist, soweit es bei dem jeweiligen Kind zur Sicherung des Lebensunterhalts, mit Ausnahme der Bedarfe nach § 28, benötigt wird.
Nach diesen Maßgaben ergibt sich neben dem Kindergeld für den Streitzeitraum folgendes zu berücksichtigendes Einkommen:
Januar 2017 (1.545,00 € brutto, 1.163,90 € netto) = 833,90 €
Februar 2017 (1.610,00 € brutto, 1.169,76 € netto) = 839,76 €
März 2017 (1.606,88 € brutto, 1.168,19 € netto) = 838,19 €
April 2017 (1.589,55 € brutto, 1.180,48 € netto) = 850,48 €
Mai 2017 (1.691,21 € brutto, 1.226,41 € netto) = 896,41 €
Da der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft von 1.530,99 € in den Monaten Januar bis April und von 1.582,66 € im Monat Mai 2017 das anzurechnende Einkommen damit überstieg, war die Klägerin hilfebedürftig. Unter Berücksichtigung des auf den Bedarf von O anzurechnenden Kindergeldes und ausgehend von § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II (Bedarfsanteilmethode) errechnen sich für den Streitzeitraum folgende individuelle Leistungsansprüche der Bedarfsgemeinschaft.
Januar 2017
|
Summe |
Klägerin |
Herr J |
O |
Gesamtbedarf |
1.418,81 € |
518,79 € |
518,79 € |
381,23 € |
Gesamtbedarf abzüglich Kindergeld |
1.226,81 € |
518,79 € |
518,79 € |
189,23 € |
Bedarfsanteile |
|
42,2877218 % |
42,2877218 % |
15,4245564 % |
Zu berücksichtigendes Einkommen |
833,90 €
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Anspruch |
|
166,15 € |
166,15 € |
60,60 € |
Februar 2017
|
Summe |
Klägerin |
Herr J |
O |
Gesamtbedarf |
1.418,81 € |
518,79 € |
518,79 € |
381,23 € |
Gesamtbedarf abzüglich Kindergeld |
1.226,81 € |
518,79 € |
518,79 € |
189,23 € |
Bedarfsanteile |
|
42,2877218 % |
42,2877218 % |
15,4245564 % |
Zu berücksichtigendes Einkommen |
839,76 €
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Anspruch |
|
163,67 € |
163,67 |
59,70 € |
März 2017
|
Summe |
Klägerin |
Herr J |
O |
Gesamtbedarf |
1.418,81 € |
518,79 € |
518,79 € |
381,23 € |
Gesamtbedarf abzüglich Kindergeld |
1.226,81 € |
518,79 € |
518,79 € |
189,23 € |
Bedarfsanteile |
|
42,2877218 % |
42,2877218 % |
15,4245564 % |
Zu berücksichtigendes Einkommen |
838,19 €
|
|
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|
|
|
|
Anspruch |
|
164,34 € |
164,34 € |
59,94 € |
April 2017
|
Summe |
Klägerin |
Herr J |
O |
Gesamtbedarf |
1.418,81 € |
518,79 € |
518,79 € |
381,23 € |
Gesamtbedarf abzüglich Kindergeld |
1.226,81 € |
518,79 € |
518,79 € |
189,23 € |
Bedarfsanteile |
|
42,2877218 % |
42,2877218 % |
15,4245564 % |
Zu berücksichtigendes Einkommen |
850,48 €
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Anspruch |
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159,14 € |
159,14 € |
58,05 € |
Mai 2017
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Summe |
Klägerin |
Herr J |
O |
Gesamtbedarf |
1.601,81€ |
579,79 € |
579,79 € |
442,23 €. |
Gesamtbedarf abzüglich Kindergeld |
1.409,81 € |
579,79 € |
579,79 € |
250,23 € |
Bedarfsanteile |
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41,1253999 % |
41,1253999 % |
17,7492002 % |
Zu berücksichtigendes Einkommen |
896,41 €
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Anspruch |
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211,14 € |
211,14 € |
91,12 € |
Die Klägerin war nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der bis zum 28. Dezember 2016 geltenden Fassung (a. F.) von den Leistungen ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen ausgenommen.
Die Klägerin verfügte über ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) in der vom 9. Dezember 2014 bis zum 23. November 2020 geltenden Fassung vom 21. Januar 2013 (BGBl. I S. 86). Danach sind Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen, unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt.
Die Klägerin hatte daneben zunächst kein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a FreizügG/EU. Nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). Diese Voraussetzungen waren im streitbefangenen Zeitraum noch nicht erfüllt, da sich die Klägerin erst seit dem 1. Juni 2015 in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Ersichtlich ist auch keine andere der in § 4a FreizügG/EU geregelten Fallgruppen einschlägig.
Die Klägerin hatte kein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU in Verbindung mit § 3 Abs. 1 FreizügG/EU. Danach haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Für Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger gilt dies nach Maßgabe des § 4 FreizügG/EU. Die Klägerin war als unverheiratete Partnerin des Herrn J keine Familienangehörige (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013, B 4 AS 54/12 R – Rn. 33; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Juni 2023, § 2 FreizügG/EU, Rn. 85).
Auch § 3a FreizügG/EU, wonach eine „nahestehenden Person“ eines Unionsbürgers unter bestimmten Voraussetzungen auf Antrag das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verliehen werden kann, vermittelte der Klägerin kein Aufenthaltsrecht. Diese Vorschrift ist erst durch Gesetz zur aktuellen Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften vom 12. November 2020 (BGBl. I, S. 2416) in das FreizügG/EU aufgenommen worden und dementsprechend für den Streitzeitraum nicht anwendbar.
Offen bleiben kann hier die bisher ungeklärte Rechtsfrage (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 8. Juli 2020, 1 BvR 932/20, Rn. 15; Beschluss vom 4. Oktober 2019, 1 BvR 1710/18, Rn.13), ob ein Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU in der vom 1. September 2011 bis zum 23. November 2020 geltenden Fassung (a. F.) vom 12. April 2011 (BGBl. I S. 610) in Verbindung mit einer analogen Anwendung des für den Familiennachzug zu Deutschen geltenden § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) und mit dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Art. 18 Abs. 1 AEUV angenommen werden kann (verneinend: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. April 2022 – L 18 AS 312/22 B ER – Rn. 8 ff.; Beschluss vom 17. März 2022 – L 18 AS 232/22 B ER – Rn. 10 ff.; Urteil vom 9. Juni 2021 – L 34 AS 850/17 – Rn. 51 ff.; Beschluss vom 22. Mai 2017 – L 31 AS 1000/17 B ER – Rn. 2 ff.; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16. November 2021 – L 2 AS 438/21 B ER – Rn. 46 ff.; Hessisches LSG, Beschluss vom 24. Mai 2023 – L 7 AS 26/23 B ER – Rn. 36; Beschluss vom 29. Juli 2021 – L 6 AS 209/21 B ER – Rn. 140 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Juli 2017 – L 21 AS 782/17 B ER – Rn. 44 ff.; bejahend: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16. Mai 2023 – L 1 AS 35/21 – Rn. 47; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Juni 2023 – L 7 AS 586/23 B ER – Rn. 19; Beschluss vom 30. Oktober 2018 – L 19 AS 1472/18 B ER – Rn. 28 ff.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25. Januar 2023 – L 3 AS 3922/20 – Rn. 83; LSG Saarland – Urteil vom 7. September 2021 – L 4 AS 23/20 WA – Rn. 35).
Die Klägerin hatte jedenfalls ein Aufenthaltsrecht zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit ihrem älteren Kind gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU a.F. in Verbindung mit § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
Insoweit ist unschädlich, dass eine solcher Aufenthaltstitel nicht erteilt worden ist. Erforderlich ist nur eine fiktive Prüfung, ob neben einem Aufenthaltsrecht allein zum Zwecke der Arbeitsuche auch andere Aufenthaltszwecke den Aufenthalt des Unionsbürgers im Inland rechtfertigen konnten (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R – Rn. 24).
Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU findet auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die – wie die Klägerin – nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt haben, unter anderem § 36 AufenthG entsprechende Anwendung. Nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.
Die Regelung des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist im Zusammenhang mit § 27 Abs. 1 AufenthG auszulegen. Danach wird die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige (Familiennachzug) zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 des Grundgesetzes (GG) erteilt und verlängert. Die Regelung des § 27 AufenthG stellt selbst keine Ermächtigungsgrundlage für die Erteilung eines Aufenthaltstitels dar. Sie trifft lediglich ergänzende und ausgestaltende Regelungen, für eine Erteilung nach den §§ 28, 29, 32, 36 AufenthG (Kluth, in Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht Band 3, 4. Auflage 2020, Der Aufenthalt aus familiären Gründen nach §§ 27 ff., Rn. 219).
Der persönliche Anwendungsbereich des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist hier bezüglich der Klägerin eröffnet. Der Begriff der sonstigen Familienangehörigen umfasst auch unverheiratete Elternteile, da diese keinem der sonst in Betracht kommenden Tatbestände des Familiennachzuges zuzuordnen sind (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15.12 – Rn. 14; Oberverwaltungsgericht [OVG] Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Dezember 2018, 3 B 8.18, Rn. 23; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2023, § 36 AufenthG, Rn. 10; Dienelt, in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 36 AufenthG, Rn. 23; Oberhäuser, in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Auflage 2023, § 36 AufenthG, Rn. 15).
Eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist hier ebenfalls zu bejahen. Der Nachzug nach dieser Vorschrift ist auf seltene Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG und des Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre. Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann, wobei gegebenenfalls unionsrechtliche Maßstäbe Berücksichtigung finden müssen. Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden (BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – 1 C 8.21, Rn. 23; Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15/12 – Rn. 12; Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 9.12 – Rn. 23).
Zwar gewährt Art. 6 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Das Grundgesetz überantwortet die Entscheidung, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen Fremden der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht werden soll, weitgehend der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, wonach der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über die Aufenthaltsberechtigung seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Art. 6 GG entfaltet ausländerrechtliche Schutzwirkungen nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist. Der Schutz des Art. 6 GG gilt zwar zunächst und zuvorderst der Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Besteht eine solche zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann sie nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange zurück. Bei der Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich aber eine schematische Einordnung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, zumal auch der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts unabhängig vom Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung ist und daher unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG steht. Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Es ist auch in Rechnung zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich wird. Eine verantwortungsvoll gelebte und dem Schutzzweck des Art. 6 GG entsprechende Eltern-Kind-Gemeinschaft lässt sich nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten des persönlichen Kontakts oder genauem Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen. Die Entwicklung eines Kindes wird nicht nur durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass selbst der persönliche Kontakt des Kindes zu einem getrenntlebenden Elternteil und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient und das Kind beide Eltern braucht (BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2005 – 2 BvR 1001/04 – Rn. 17 ff.).
Nach diesen Maßgaben ist hier festzustellen, dass die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts der Klägerin zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit ihrem Sohn O unter Berücksichtigung des Art. 6 Abs. 1 GG unvertretbar gewesen wäre. Zwischen den Familienmitgliedern bestand durchgehend eine tatsächliche Verbundenheit, die durch das Zusammenleben in einer Wohnung zum Ausdruck kam. Der im Streitzeitraum erst drei Jahre alte O konnten in dieser Zeit kein eigenständiges Leben führen, sondern war als Kleinkind unabweisbar auf die Hilfe seiner Mutter angewiesen.
Diese Hilfe konnte auch in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden. Sowohl Herr J als auch O hatten ein Aufenthaltsrecht in Deutschland. Herr J hatte wegen der im Streitzeitraum ausgeübten Beschäftigung als Auslieferungsfahrer bei der Firma TGmbH ein Aufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU a. F. als Arbeitnehmer. Dieses Aufenthaltsrecht setzt eine wirtschaftliche Tätigkeit voraus, die nur vorliegt, wenn es sich um eine tatsächliche und echte, also nicht völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit handelt (Gerichtshof der Europäischen Union [EuGH], Urteil vom 1. Februar 2017 – C-392/15 – Rn. 100; Urteil vom 20. November 2001 – C-268/99 – Rn. 33), was bei der hier ausgeübten Vollzeitbeschäftigung nach einer Gesamtbetrachtung aller Umstände (tatsächliche Entlohnung, Zeitumfang, Urlaubsanspruch, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) keinen Zweifeln unterliegt (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 2022, B 4 AS 2/21 R, Rn. 19). O hatte in den streitigen Monaten ein von Herrn J als dem Kindesvater abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger aus § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU.
Eine Rückkehr in die Heimat war hier rechtlich unzumutbar. Der EuGH hat entschieden, dass dem Aufenthaltsrecht eines Elternteils mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats, der für einen minderjährigen Unionsbürger tatsächlich sorgt, jede praktische Wirksamkeit genommen würde, wenn ihm nicht erlaubt würde, sich mit diesem Bürger im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, da der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein Kleinkind voraussetzt, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgende Person bei diesem aufhalten darf und dass es ihr demgemäß ermöglicht wird, während dieses Aufenthalts mit dem Kind zusammen im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen (Urteil vom 8. November 2012 – C-40/11 – Rn. 69; Urteil vom 19. Oktober 2004 – C-200/02 – Rn. 45). Zudem wäre auch das Aufenthaltsrecht von O in seiner praktischen Wirksamkeit eingeschränkt worden, wenn er faktisch gezwungen gewesen wären, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit der Klägerin zu verlassen (vgl. allgemein zur Auslegung der Unionsbürgerrichtlinie: EuGH, Urteil vom 11. April 2019 – C-483/17 – Rn. 38; Urteil vom 5. Juni 2018 – C-673/16 – Rn. 39; Urteil vom 25. Juli 2008 – C-127/08 – Rn. 84; Urteil vom 11. Dezember 2007 – C-291/05 – Rn. 43).
Hier ist auch eine Ausnahme von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu bejahen, wonach die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraussetzt, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Nach dem Konzept des Gesetzgebers gehört die Sicherung des Lebensunterhalts zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels. Ein Ausnahmefall liegt bei besonderen atypischen Umständen vor, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen, aber auch dann, wenn die Erteilung des Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK geboten ist, zum Beispiel weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012 – 10 C 4.12 – Rn. 36; Urteil vom 30. April 2009 – 1 C 3.08 – Rn. 14). Ein solcher Ausnahmefall ist gegeben, wenn – wie hier – eine außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG zu bejahen ist, weil die Fortführung der Familieneinheit im Ausland unzumutbar und deshalb eine Verletzung des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK anzunehmen ist (BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15.12 – Rn. 22).
Soweit § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG für einen Familiennachzug zu einem Ausländer voraussetzt, dass der Ausländer eine Niederlassungserlaubnis, Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU, Aufenthaltserlaubnis oder eine Blaue Karte EU besitzt, sind wegen des „Günstigkeitsprinzips“ des § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU diese Voraussetzungen durch das Aufenthaltsrecht von O nach dem FreizügG/EU a. F. erfüllt.
Der Klägerin und ihrer Familie stand auch ausreichender Wohnraum im Sinne von § 2 Abs. 4 AufenthG zur Verfügung (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Das Wohnraumerfordernis muss auch beim Familiennachzug nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erfüllt sein. Als ausreichender Wohnraum wird nach § 2 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht mehr gefordert, als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in einer öffentlich geförderten Sozialmietwohnung genügt. Der Wohnraum ist nach § 2 Abs. 4 Satz 2 AufenthG nicht ausreichend, wenn er den auch für Deutsche geltenden Rechtsvorschriften hinsichtlich Beschaffenheit und Belegung nicht genügt (OVG Berlin-Brandenburg – Urteil vom 5. Dezember 2018 – 3 B 8.18 – Rn. 27). Das Mindestmaß ergibt sich in einigen Bundesländern aus landesrechtlichen Vorschriften der Wohnungsaufsichtsgesetze, die Wohnungsmissstände, unter anderem die Überbelegung von Wohnraum, verhindern beziehungsweise ihnen vorbeugen sollen. So bestimmt beispielsweise § 7 Abs. 1 des Wohnungsaufsichtsgesetzes Berlin vom 3. April 1990 (GVBl. S. 1081), dass Wohnungen nur überlassen oder benutzt werden dürfen, wenn für jede Person eine Wohnfläche von mindestens 9 Quadratmetern, für jedes Kind bis zu sechs Jahren eine Wohnfläche von mindestens 6 Quadratmetern vorhanden ist (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. August 2005 – 7 B 24.05 – Rn. 44). Da § 2 Abs. 4 AufenthG einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum einräumt, ist letztlich entscheidend darauf abzustellen, in welcher Weise die jeweilige Verwaltungspraxis diesen Spielraum ausschöpft. Nach Nr. 2.4.2 der vom Bundesministerium des Inneren erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG vom 26. Oktober 2009 (GMBl. S. 178) ist ausreichender Wohnraum unbeschadet landesrechtlicher Regelungen stets vorhanden, wenn für jedes Familienmitglied über sechs Jahren 12 Quadratmetern und für jedes Familienmitglied unter sechs Jahren 10 Quadratmetern Wohnfläche zur Verfügung stehen und Nebenräume (Küche, Bad, WC) in angemessenem Umfang mitbenutzt werden können. Eine Unterschreitung dieser Wohnungsgröße um etwa 10 Prozent ist unschädlich (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. November 2014 – 2 B 13.12 – Rn. 34-35; Urteil vom 25. März 2010 – 3 B 9.08 – Rn. 27). Die Wohnung der Klägerin und ihrer Familie genügte mit ca. 62,26 Quadratmetern diesen Anforderungen. Bei Berücksichtigung von jeweils 12 Quadratmetern für die Klägerin und Herrn J sowie von 10 Quadratmetern für O ergeben sich zunächst 34 Quadratmeter, woraus sich nach Abzug von 10 Prozent eine Mindestgröße von 30,6 Quadratmetern errechnet, welche die Wohnfläche der vorhandenen Unterkunft deutlich unterschreitet.
Die Erteilung eines Aufenthaltstitels steht gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG grundsätzlich im Ermessen der Ausländerbehörde. Ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich, so ist deren Versagung im Rahmen des durch § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG eröffneten Ermessens nur durch gegenläufige Belange von überwiegendem Gewicht zu rechtfertigen. Fehlt es an derartigen Belangen, so ist das Ermessen der Ausländerbehörde auf Null reduziert und diese zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis verpflichtet (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Dezember 2014 – 18 A 1689/13 – Rn. 26). Das ist hier aus den oben genannten Gründen der Fall (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 1. Juni 2023 – L 32 AS 2002/19 – Rn. 38; OVG Berlin-Brandenburg – Beschluss vom 3. Mai 2019 – 11 N 89.18 – Rn. 12).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.