S 2 U 1039/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Heilbronn (BWB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 1039/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1.) Eine auflösende Bedingung muss den Wegfall der Leistung vom Eintritt eines genau bezeichneten, zukünftigen ungewissen Ereignisses abhängig machen. Insbesondere muss hinreichend bestimmt geregelt werden, dass der rentenbewilligende Verwaltungsakt ohne weiteren Rücknahmebescheid bei Eintritt eines des Ereignisses automatisch entfallen soll. Unklarheiten gehen zu Lasten der Verwaltung. Lässt ein Vorbehalt mehrere Auslegungen zu, so muss sich die Verwaltung diejenige Auslegung entgegenhalten lassen, die der Leistungsempfänger vernünftigerweise zugrunde legen darf, ohne die Unbestimmtheit oder Unvollständigkeit des Bescheides willkürlich zu seinen Gunsten auszunutzen. 2.) Die Auslegung einer Formulierung als auflösende Bedingung in einem Bescheid über Hinterbliebenenleistungen scheitert, wenn die Leistungen bewilligt werden „solange Sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden“ und sich daraus nicht ergibt, dass der rentenbewilligende Verwaltungsakt ohne weiteren Rücknahmebescheid der Beklagten bei Beendigung der genannten Ausbildung automatisch entfallen soll. 3.) Der Formulierung „solange Sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden“ lässt sich nicht entnehmen, was genau unter dem Begriff „Schuldausbildung“ zu verstehen sein soll. Nimmt ein Leistungsbezieher an einer Maßnahme zur Erlangung des Hauptschulabschlusses im Rahmen eines Fernlehrgangs teil, ist ohne weitere Erläuterung auch für einen verständigen Beteiligten nicht unzweideutig erkennbar, dass es sich hierbei nicht um eine Schulausbildung im Sinne der Formulierung der Beklagten handeln soll. Die Verwaltung muss sich die Auslegung über das Vorliegen einer Schulausbildung, die der Kläger vernünftigerweise zugrunde legen durfte, in diesem Fall entgegenhalten lassen.

 

Gericht:

Sozialgericht Heilbronn

 

Datum:

18.04.2024

 

Aktenzeichen:

S 2 U 1039/23

 

Entscheidungsart:

Urteil

 

 

 

 

 

 

Normenkette:

§ 32 Abs 1 SGB 10, § 33 Abs 1 SGB 10, § 67 SGB 7

 

Titelzeile:

Unklarheiten gehen zu Lasten der Verwaltung, wenn diese eine Formulierung in einem ihrer Bescheide als im Einzelfall einschlägige auflösende Bedingung verstanden wissen will, der Bescheidsempfänger aber vernünftigerweise eine andere Auslegung zugrunde legen durfte.

 

 

Leitsatz:

1.) Eine auflösende Bedingung muss den Wegfall der Leistung vom Eintritt eines genau bezeichneten, zukünftigen ungewissen Ereignisses abhängig machen. Insbesondere muss hinreichend bestimmt geregelt werden, dass der rentenbewilligende Verwaltungsakt ohne weiteren Rücknahmebescheid bei Eintritt eines des Ereignisses automatisch entfallen soll. Unklarheiten gehen zu Lasten der Verwaltung. Lässt ein Vorbehalt mehrere Auslegungen zu, so muss sich die Verwaltung diejenige Auslegung entgegenhalten lassen, die der Leistungsempfänger vernünftigerweise zugrunde legen darf, ohne die Unbestimmtheit oder Unvollständigkeit des Bescheides willkürlich zu seinen Gunsten auszunutzen.

 

2.) Die Auslegung einer Formulierung als auflösende Bedingung in einem Bescheid über Hinterbliebenenleistungen scheitert, wenn die Leistungen bewilligt werden „solange Sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden“ und sich daraus nicht ergibt, dass der rentenbewilligende Verwaltungsakt ohne weiteren Rücknahmebescheid der Beklagten bei Beendigung der genannten Ausbildung automatisch entfallen soll.

 

3.) Der Formulierung „solange Sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden“ lässt sich nicht entnehmen, was genau unter dem Begriff „Schuldausbildung“ zu verstehen sein soll. Nimmt ein Leistungsbezieher an einer Maßnahme zur Erlangung des Hauptschulabschlusses im Rahmen eines Fernlehrgangs teil, ist ohne weitere Erläuterung auch für einen verständigen Beteiligten nicht unzweideutig erkennbar, dass es sich hierbei nicht um eine Schulausbildung im Sinne der Formulierung der Beklagten handeln soll. Die Verwaltung muss sich die Auslegung über das Vorliegen einer Schulausbildung, die der Kläger vernünftigerweise zugrunde legen durfte, in diesem Fall entgegenhalten lassen.

 

 

 

 

 

Tenor:

Der Bescheid vom 03.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.04.2023 wird aufgehoben.

 

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

 

 

 

Der Kläger wendet sich gegen die Rückforderung einer Halbwaisenrente für den Zeitraum vom 01.12.2019 bis 31.08.2020.

 

Der am 18.08.1999 geborene Kläger ist der Sohn von A. L., der am 18.11.2016 bei einem Arbeitsunfall getötet wurde, als er auf einer Baustelle von einem ungesicherten Flurförderfahrzeug erfasst wurde, welches ohne Fahrer losgerollt war. Die Mutter des Klägers lebt noch.

 

Dem Kläger wurde von der Beklagten erstmals mit Bescheid vom 10.10.2017 eine Waisenrente (gemeint wohl: Halbwaisenrente) ab dem Todestag seines Vaters in Höhe von 348,60 € pro Monat bewilligt. Die Rente werde bis zum 31.08.2017 gezahlt, also dem Ende des Monats, in welchem der Kläger das 18. Lebensjahr vollende. Über diesen Zeitpunkt hinaus bestehe momentan kein Anspruch, da der Kläger sich nicht in einer Schul- oder Berufsausbildung befinde, kein Studium begonnen habe, noch ein freiwilliges soziales Jahr oder einen Bundesfreiwilligen Dienst absolviere. Wenn eine der genannten Voraussetzungen erfüllt sei, könne die Weitergewährung der Waisenrente bis zur Vollendung des 27. Lebensjahrs geprüft werden.

 

Im Juli 2019 legte der Kläger eine Zusage der O.-W.-Schule (vom 28.06.2019) bezüglich eines geplanten einjährigen Besuchs der Berufsfachschule Farbtechnik vor. Die Einschulung sei am 11.09.2019. Später legte der Kläger auch die entsprechende Schulbescheinigung vom 18.09.2019 über Unterricht in Vollzeit vom 11.09.2019 bis voraussichtlich 31.07.2020 vor.

 

Mit Bescheid vom 21.10.2019 bewilligte die Beklagte dem Kläger ab 11.09.2019 eine Halbwaisenrente in Höhe von 378,32 € pro Monat „über das 18. Lebensjahr bis zur Vollendung des 27. Lebensjahrs“, solange der Kläger sich „in Schul- oder Berufsausbildung“ befinde. Dem Bescheid war ein Merkblatt „Renten aus der gesetzlichen Unfallversicherung beigefügt“ (vgl. Bl. 37 SG). In dem Merkblatt fanden sich keine Erläuterungen zu dem Begriff „Schul- oder Berufsausbildung“.

 

Mit Bescheid vom 22.06.2020 wurde die Rente im Zuge der Rentenanpassung 2020 ab 01.07.2020 auf 391,37 € pro Monat erhöht.

 

Auf eine Mitteilung der Beklagten über die geplante Einstellung der Rente zum Ende der Berufsausbildung am 31.07.2020 hin legte der Kläger eine Bescheinigung des Bildungsträgers X vom 09.12.2019 vor, wonach er dort seit dem 14.11.2019 für den Fernlehrgang „Hauptschulabschluss mit Englisch“ angemeldet sei. Es handele sich um einen Vorbereitungslehrgang für die staatliche Abschlussprüfung. Der Lehrgang habe eine Regelstudiendauer von 18 Monaten. Diese könne bis zum 31.05.2022 überzogen werden. Das Lehrmaterial sei fernstudiengerecht aufgebaut. Die Organisationsform des Lehrgangs entspreche nicht jener einer herkömmlichen Schule. Alle eingereichten Aufgabenlösungen würden korrigiert und zensiert, die Frequenz der Einreichung von Aufgabenlösungen werde aber nicht vorgeschrieben. Die Dauer der Ausbildung liege allein im Verantwortungsbereich des Schülers. Um den Lehrgang in der Regelstudiendauer zu absolvieren seien ca. 20-25 Unterrichtsstunden je Woche an Arbeitszeit aufzuwenden.

 

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 16.09.2020 die Weiterzahlung der Waisenrente (gemeint wohl: Halbwaisenrente) ab 01.08.2020 ab (die Rente für den Monat August 2020 war zu diesem Zeitpunkt bereits ausbezahlt worden). Eine Schulausbildung im für Hinterbliebenenrenten nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung maßgeblichen Sinn liege nur vor, wenn folgenden Voraussetzungen erfüllt seien:

 

  1. Anbieten des Lehrstoffes durch voll ausgebildete Lehrkräfte in einer als Schule zu bezeichnenden Einrichtung,

 

  1. in festgelegten Zeiträumen,

 

  1. mit Leistungskontrolle und Kontrolle des Arbeitsaufwands,

 

  1. räumlichem Beisammensein von Schülern und Lehrern während des Unterrichts (bzw. zumindest Bestehen eines gewissen Kontakts und Austauschs zwischen Lehrern und Schülern),

 

  1. überwiegender Inanspruchnahme der Arbeitskraft und

 

  1. einer der herkömmlichen Schulausbildung vergleichbaren Stetigkeit und Regelmäßigkeit der Ausbildung, wobei die ausschließlich selbstbestimmte Zeit der Vorbereitung auf eine Prüfung nicht als Schulausbildung anzuerkennen sei.

 

Da es sich bei dem vom Kläger absolvierten Fernlehrgang um einen Vorbereitungslehrgang auf eine staatliche Prüfung handele, die Organisationsform nicht jener einer herkömmlichen Schule entspreche, die Dauer der Ausbildung allein im Verantwortungsbereich des Klägers liege und auch die Frequenz der Einreichung von Aufgabenlösungen nicht vorgeschrieben sei, liege keine Schulausbildung im hier maßgeblichen Sinn vor. Es handle sich bei der Aufhebung um eine Ermessensentscheidung, wobei die Interessen des Klägers hinter denen der Mitglieder der Beklagten zurücktreten müssten. Dem Kläger sei es zumutbar den geltend gemachten Betrag zurückzuzahlen während es der Beklagten nicht zuzumuten sei, durch ungerechtfertigte Kosten belastet zu werden.

 

Die vom Kläger zuvor besuchte O.-W.-Schule teilte der Beklagten am 23.09.2020 telefonisch mit, dass der Kläger die Schule verlassen habe. Am 26.11.2019 sei er einfach nicht mehr wiedergekommen, weshalb er abgemeldet worden sei.

 

Die Beklagte bat den Kläger daraufhin zunächst um Erstattung der Waisenrente (gemeint wohl: Halbwaisenrente) für den Zeitraum vom 01.12.2019 bis 31.08.2020 in Höhe von 3.430,98 €.

 

Nachdem hierauf keine Reaktion erfolgt war, erließ die Beklagte einen auf den genannten Betrag lautenden Erstattungsbescheid vom 03.11.2020. Der Anspruch auf Waisenrente habe „gem. § 73 Abs. 2 SGB VII bis zum 30.11.2019“ bestanden (der erste Satz der genannten Vorschrift lautet: „Fallen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen die Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente weg, wird die Rente bis zum Ende des Monats geleistet, in dem der Wegfall wirksam geworden ist.“). Die Leistung sei „gem. § 50 Abs. 2 SGB X zu erstatten („Soweit Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, sind sie zu erstatten.“). Auf Vertrauensschutz könne der Kläger sich nicht berufen, weil „kein Anspruch auf Waisenrente zu diesem Zeitpunkt“ bestanden habe.

 

Der Kläger legte anwaltlich vertreten Widerspruch gegen diese Entscheidung ein. Eine Schulausbildung liege vor, wenn der zeitliche Aufwand wöchentlich mehr als 20 Stunden erfordere. Die sei hier der Fall, da ein wöchentlicher Aufwand von 20-25 Stunden anfalle, um den Lehrgang in der Regelstudiendauer zu absolvieren. Die von der Beklagten aufgestellten strengeren Kriterien ergäben sich nicht aus dem Gesetzestext. Im Übrigen sei davon auszugehen, dass der Bescheid der Beklagten Ermessenfehler aufweise nachdem der Kläger weder über Einkommen, noch über Vermögen verfüge.

 

Die Beklagte nahm eine Kopie einer Beschreibung eines Kurses des X zur Akte, die augenscheinlich von einer Homepage stammt. Darin wird zum Fernstudium „Hauptschulabschluss (Erster allgemeinbildender Schulabschluss“) mitgeteilt, dass der Lehrgang jederzeit begonnen werden könne und die Lehrgangsdauer bei etwa 15 Stunden pro Woche 18 Monate dauere. Dass es sich bei dem genannten Lehrgang um den vom Kläger absolvierten handelt („Hauptschulabschluss mit Englisch“) ergibt sich aus dem Dokument nicht.

 

Der Kläger legte eine weitere Bescheinigung des X vom 12.01.2022 vor. Diese entsprach inhaltlich weitgehend jener vom 09.12.2019, allerdings wurde diesmal bescheinigt, dass die Regelstudiendauer bis zum 30.09.2023 überzogen werden könne.

 

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.04.2023 zurück. Grundlage der Entscheidung sei die Internetseite des X, die am 03.12.2020 abgerufen worden sei. Es werde zutreffend eine Erstattung gem. § 50 Abs. 2 SGB X geltend gemacht. Die Ermessenserwägungen der Beklagten seien fehlerfrei. Auf seine Mitteilungspflichten sei der Kläger im Merkblatt zum Bescheid vom 21.10.2019 auf Seite 2 Punkt 4 hingewiesen worden („Als Rentenempfänger sind Sie verpflichtet, uns nachstehende Änderungen, die auf die Zahlung oder die Höhe der Rente Einfluss haben, unverzüglich mitzuteilen: [...] 4.6 Bei Bezug von Waisenrenten [...] die Beendigung, den Abbruch oder die Unterbrechung der Schul- oder Berufsausbildung“).

 

Der Kläger hat am 19.05.2023 anwaltlich vertreten Klage beim SG Heilbronn erhoben. Zur Begründung verweist er auf sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren. Ein Hinweis dazu, was unter einer Schulausbildung gem. § 67 SGB VII zu verstehen sei, sei ihm nicht erteilt worden.

 

Der Kläger beantragt sinngemäß,

 

den Bescheid vom 03.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.04.2023 aufzuheben.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Zur Begründung bezieht sie sich auf die den angefochtenen Entscheidungen zugrundeliegenden Feststellungen.

 

Mit Schreiben vom 16.11.2023 hat die Beklagte mitgeteilt, dass dem Bescheid vom 03.11.2020 keine Anhörung vorangegangen sei. Diese werde hiermit nachgeholt.

 

Der Kläger hat hierauf nicht reagiert.

 

Das Gericht hat die Beklagte um Prüfung gebeten, ob die verfügte Rückforderung der Rente für den Zeitraum vom 01.12.2019 bis 31.08.2020 an § 73 Abs. 2 S. 1 SGB VII scheitern könnte. Nach dieser Vorschrift werde die Rente bis zum Ende des Monats gezahlt, in dem die Gründe des Wegfalls dem Versicherten gegenüber durch einen Bescheid bekannt gegeben worden sind. Das Wirksamwerden des Wegfalls sei also abhängig von der Bekanntgabe des Rentenentziehungsbescheids. Die Ablehnung einer Rentenzahlung ab dem 01.08.2020 dürfte erst mit Bescheid vom 16.09.2020 erfolgt sein. Nach § 73 Abs. 2 S. 1 SGB VII dürfte der Rentenanspruch auch im Falle des vorherigen Wegfalls der materiellen Voraussetzungen noch bis 30.09.2020 bestanden haben.

 

Die Beklagte hat hierzu ausgeführt, dass dies nicht bei befristeten oder auflösend bedingten Renten gelte. Mit Bescheid vom 21.10.2019 liege eine entsprechende Einschränkung vor („solange“).

 

Entscheidungsgründe

 

Die gemäß § 54 Abs. 1 SGG statthafte Anfechtungsklage ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 03.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.04.2023 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

 

1. Rechtsgrundlage des Bescheids vom 03.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.04.2023 ist ausweislich der eindeutigen Begründungen der genannten Bescheide § 50 Abs. 2 SGB X, wonach Leistungen zu erstatten sind, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind.

 

2. Die Voraussetzungen dieser Rechtsgrundlage sind nicht erfüllt, weil die dem Kläger geleistete Halbwaisenrente für den Zeitraum vom 01.12.2019 bis 31.08.2020 nicht ohne Verwaltungsakt erbracht worden ist, sondern aufgrund des Bescheids vom 21.10.2019.

 

a) Dieser Bescheid ist jedenfalls für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht aufgehoben worden. Insbesondere enthalten die angefochtenen Bescheide keine solche Aufhebungsentscheidung, sondern regeln ausdrücklich nur eine Erstattung bei einem von der Beklagten angenommenen bereits erfolgten Wegfall der Leistungspflicht ab 01.12.2019. Auch der Bescheid vom 16.09.2020 enthält weder vom expliziten Verfügungssatz, noch von der Begründung her, eine Aufhebung des Bescheids vom 21.10.2019.

 

Selbst wenn einer der genannten Bescheide eine Aufhebung des Bescheids vom 21.10.2019 beinhalten würde, hätte diese keine Auswirkungen auf den Anspruch des Klägers im Zeitraum vom 01.12.2019 bis 31.08.2020.

 

Fallen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen die Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente weg, wird die Rente bis zum Ende des Monats geleistet, in dem der Wegfall wirksam geworden ist, § 73 Abs. 2 S. 1 SGB VII.

 

Nach dieser Vorschrift wird die Rente bis zum Ende des Monats gezahlt, in dem die Gründe des Wegfalls dem Versicherten gegenüber durch einen Bescheid bekannt gegeben worden sind (Meibom in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl. Stand: 15.01.2022, § 73 Rn. 28, 29). Das Wirksamwerden des Wegfalls ist also abhängig von der Bekanntgabe des Rentenentziehungsbescheids (Ricke in Beck’scher Online Groß-Kommentar SGB VII, Stand15.11.2023, § 73, Rn. 13 iVm Rn. 9).

 

Die Ablehnung einer Rentenzahlung ab dem 01.08.2020 ist erst mit Bescheid vom 16.09.2020 erfolgt. Nach § 73 Abs. 2 S. 1 SGB VII hat der Rentenanspruch des Klägers daher auch im Fall des vorherigen Wegfalls seiner materiellen Voraussetzungen jedenfalls noch bis einschließlich 31.08.2020 bestanden, wenn der Bescheid vom 16.09.2020 (der vor den hier streitgegenständlichen Bescheiden ergangen ist) als Aufhebungsbescheid auszulegen wäre.

 

b) Der Bescheid vom 21.10.2019 hat sich bezüglich des streitgegenständlichen Zeitraums auch nicht aufgrund einer wirksamen Befristung oder wegen des Eintritts einer auflösenden Bedingung erledigt.

 

aa) Nach § 32 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht, mit einer Nebenbestimmung nur versehen werden, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist oder wenn sie sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt werden.

 

Gem. § 32 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt unbeschadet davon nach pflichtgemäßem Ermessen erlassen werden mit (1.) einer Bestimmung, nach der eine Vergünstigung oder Belastung zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnt, endet oder für einen bestimmten Zeitraum gilt (Befristung), oder (2.) einer Bestimmung, nach der der Eintritt oder der Wegfall einer Vergünstigung oder einer Belastung von dem ungewissen Eintritt eines zukünftigen Ereignisses abhängt (Bedingung).

 

bb) Der Bescheid vom 21.10.2019 ist bestandskräftig und damit zwischen den Beteiligten bindend geworden, § 77 SGG. Daher ist er mit dem darin verfügten Inhalt wirksam geworden, ohne dass das Vorliegen der Voraussetzungen von § 32 Abs. 1 SGB X zu prüfen wäre.

 

cc) Vorliegend hat sich der Bescheid vom 21.10.2019 nicht durch den Eintritt einer Befristung erledigt.

 

Eine Befristung bezieht sich auf ein künftiges gewisses Ereignis (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 3. Aufl. Stand: 12.01.2024, § 32 Rn. 40). Die Formulierung in Bescheid vom 21.10.2019 „bis zur Vollendung des 27. Lebensjahrs“ stellt daher eine Befristung dar. Das Datum dieser Befristung (zum Ablauf des 17.09.2026) ist bis zum 31.08.2020 aber nicht erreicht worden.

 

Ob der Kläger seine Schul- oder Berufsausbildung vor der Vollendung des 27. Lebensjahrs beenden würde, war dagegen zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 21.10.2019 ungewiss. Bereits deshalb kann die entsprechende Passage (solange der Kläger sich „in Schul- oder Berufsausbildung“ befindet) nicht als Befristung ausgelegt werden.

 

dd) Der Bescheid hat sich jedenfalls bis zum Ablauf des 31.08.2020 auch nicht durch den Eintritt einer auflösenden Bedingung erledigt.

 

Eine Bedingung liegt vor, wenn die innere Rechtswirksamkeit des Verwaltungsaktes vom Eintritt eines künftigen, objektiv ungewissen Ereignisses abhängt (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 3. Aufl. Stand: 12.01.2024, § 32 Rn. 51). Die Beendigung der Schul- oder Berufsausbildung des Klägers vor der vor der Vollendung des 27. Lebensjahrs hätte als ungewisses Ereignis also grundsätzlich im Rahmen einer auflösenden Bedingung geregelt werden können.

 

Dies ist vorliegend aber nicht geschehen, denn die Formulierung im Bescheid vom 21.10.2019, wonach die Halbwaisenrente nur zu gewähren ist, „solange Sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden“ führt mangels ausreichender Bestimmtheit nicht zu einem Entfallen des Rentenanspruchs im Zeitraum vom 01.12.2019 bis 31.08.2020.

 

Gemäß § 33 Abs. 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Ein Verwaltungsakt ist hinreichend bestimmt, wenn für den verständigen Beteiligten der Wille der Behörde unzweideutig erkennbar wird und eine unterschiedliche subjektive Bewertung nicht möglich ist (vgl. hierzu und im Folgenden Hessisches LSG vom 12.11.2021, L 6 AS 401/19, Rn. 93 juris mwN). Der Betroffene muss bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers und unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls in die Lage versetzt werden, die getroffene Rechtsfolge vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen und sein Verhalten daran auszurichten (BSG vom 10.09.2013, B 4 AS 89/12 R, Rn. 15 juris mwN). Eine auflösende Bedingung muss den Wegfall der Leistung vom Eintritt eines genau bezeichneten, zukünftigen ungewissen Ereignisses abhängig machen. Insbesondere muss hinreichend bestimmt geregelt werden, dass der rentenbewilligende Verwaltungsakt ohne weiteren Rücknahmebescheid der Beklagten bei Eintritt eines bestimmten, zukünftigen Ereignisses automatisch entfallen soll. Dabei darf sich die Formulierung nicht auf die Wiedergabe einer von mehreren gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente beschränken, wenn dabei das mögliche Ereignis selbst, von dessen Eintritt das Entfallen der Rentenbewilligung abhängen soll, nicht hinreichend konkret bezeichnet wird (Bayerisches LSG, Urteil vom 12.07.2017, L 2 U 100/11, Rn. 96 juris). Unklarheiten gehen zu Lasten der Verwaltung. Lässt ein Vorbehalt mehrere Auslegungen zu, so muss sich die Verwaltung diejenige Auslegung entgegenhalten lassen, die der Leistungsempfänger vernünftigerweise zugrunde legen darf, ohne die Unbestimmtheit oder Unvollständigkeit des Bescheides willkürlich zu seinen Gunsten auszunutzen. (Burkiczak aaO, § 32 SGB X Rn. 14; BSG, vom 11.06.1987, 7 RAr 105/85, Rn. 23 juris).

 

Im vorliegenden Fall scheitert die Auslegung der Formulierung „solange Sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden“ als auflösende Bedingung daran, dass sich daraus nicht ergibt, dass der rentenbewilligende Verwaltungsakt ohne weiteren Rücknahmebescheid der Beklagten bei Beendigung der genannten Ausbildung automatisch entfallen soll. Vielmehr beschränkt sich die Formulierung auf die Wiedergabe einer von mehreren gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen für den Anspruch auf eine Halbwaisenrente. Dabei wird das mögliche Ereignis, von dessen Eintritt das Entfallen der Rentenbewilligung abhängen soll, nicht hinreichend konkret bezeichnet. Der Formulierung „solange Sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden“ lässt sich zwar noch mit ausreichender Bestimmtheit entnehmen, dass der Rentenanspruch nur bestehen soll, wenn ein Versicherter irgendeine Art von Ausbildung mit Schul- oder Berufsbezug absolviert. Es wird allerdings weder im Bescheid noch im dazu übersandten Merkblatt erläutert, was genau unter dem Begriff „Schuldausbildung“ zu verstehen sein soll. Auch die gesetzliche Vorschrift zum Anspruch auf Halbwaisenrenten (§ 67 Abs. 3 S. 2 SGB VII) trägt nur wenig zur Konkretisierung bei („Eine Schulausbildung oder Berufsausbildung im Sinne des Satzes 1 liegt nur vor, wenn die Ausbildung einen tatsächlichen zeitlichen Aufwand von wöchentlich mehr als 20 Stunden erfordert“). Der Kläger hat noch vor Beendigung des Schulbesuchs an der O.-W.-Schule ab dem 14.11.2019 den Fernlehrgang „Hauptschulabschluss mit Englisch“ bei X begonnen. Um den Lehrgang in der Regelstudiendauer zu absolvieren sind ausweislich der Bescheinigungen des X vom 09.12.2019 und 12.01.2022 ca. 20-25 Unterrichtsstunden je Woche an Arbeitszeit aufzuwenden. Dass es sich hierbei nicht um einen Schulbesuch im Sinne der zitierten Passage im Bescheid vom 21.10.2019 handeln soll, ist für einen verständigen Beteiligten nicht unzweideutig erkennbar. Auf die erstmals im Bescheid vom 16.09.2020 benannten zusätzlichen Kriterien, die von der Beklagten für die Annahme einer Schulausbildung angelegt werden, ist der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum nicht hingewiesen worden. Auch zuvor wurde er hierüber nicht informiert, insbesondere nicht im Bescheid vom 21.10.2019. Diese Unklarheit geht nach den dargelegten Grundsätzen zu Lasten der Beklagten. Die genannte Passage im Bescheid vom 21.10.2019 lässt sich bei bloßer Kenntnis des Bescheids und des einschlägigen Gesetzes auch so auslegen, dass der Fernlehrgang „Hauptschulabschluss mit Englisch“ bei X ausreicht, um den Rentenanspruch des Klägers aufrechtzuerhalten. Die Beklagte muss sich diese Auslegung, die der Kläger vernünftigerweise zugrunde legen durfte, im vorliegenden Fall entgegenhalten lassen. Dabei nutzt er die Unbestimmtheit oder Unvollständigkeit des Bescheides nicht willkürlich zu seinen Gunsten aus.

 

c) Damit war der Bescheid vom 21.10.2019 im Zeitraum vom 01.12.2019 bis 31.08.2020 weiterhin wirksam und vermittelte dem Kläger einen Anspruch auf Halbwaisenrente. Der Bescheid vom 03.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.04.2023 ist daher rechtswidrig, weshalb er aufzuheben war.

 

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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