L 30 R 327/23

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 7 R 154/22
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 30 R 327/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 17. April 2023 aufgehoben und die Sache an das Sozialgericht Neuruppin zurückverwiesen.

 

            Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt eine Erwerbsminderungsrente.

 

Die am  1964 geborene Klägerin hat den Beruf einer Elektromontiererin erlernt und war zuletzt als Produktionsmitarbeiterin in der Plastikfabrikation bei der PD GmbH Neuruppin beschäftigt. Seit dem 20. September 2020 war sie arbeitsunfähig erkrankt und bezog später Krankengeld. Sie stellte am 22. Juni 2021 einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Sie reichte einen Entlassbericht der Klinik für Neurologie – RuK vom 10. November 2020 über einen stationärer Aufenthalt vom 6. bis 16. Oktober 2020 mit den Diagnosen „Verdacht auf chronisch entzündliche ZNS-Erkrankung, frischer Hirninfarkt rechts periventrikulär, Hyperlipidämie, nitrit-positiver Harnwegsinfekt, Zigaretten-konsum, chronischer Hüftschmerz links mehr als rechts“ sowie einen Bericht über eine weitere ambulante Vorstellung am 17. November 2020 ein.  

 

Die Beklagte holte einen Befundbericht des behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin G vom 26. Oktober 2021 mit Entlassbericht über eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 2. bis 30. Dezember 2020 im neurologisch-orthopädischen R ZP (Entlassung als arbeitsunfähig bei vollschichtigem Leistungsvermögen für letzte Tätigkeit als Produktionsmitarbeiterin) ein und veranlasste eine Begutachtung der Klägerin. Der Facharzt für Neurologie/Psychiatrie Dipl.-Med. H untersuchte die Klägerin am 1. Februar 2022 und stellte als Diagnosen „Zustand nach lakunärem Hirninfarkt, leichte kognitive Störungen, Ataxie“ fest. Die Leistungsfähigkeit für die letzte versicherungspflichtige Tätigkeit als Produktionsarbeiterin sei aufgehoben. Aus neuropsychiatrischer Sicht sei die Leistungsfähigkeit für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes für leichte Tätigkeiten in Tagesschicht überwiegend im Sitzen für sechs Stunden und mehr gegeben unter Ausschluss von hohen Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen, hohen Anforderungen an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen, Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten, Arbeiten an laufenden und rotierenden Maschinen, Zeitdruck und Stress, der über das im normalen Berufsalltag übliche Maß hinausgeht, Klettern, Steigen oder Bewegen in unebenem Gelände, Absturzgefahr aus großer Höhe, Leiter- und Gerüstarbeiten, Nachtdienst, unregelmäßigen Arbeitszeiten, hohen körperliche Belastungen und langen Anfahrts-wegen.

 

Mit Bescheid vom 21. Februar 2022 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Den dagegen eingelegten Widerspruch vom 28. Februar 2022 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2022 zurück.

 

Am 15. Juni 2022 ist beim Sozialgericht (SG) Neuruppin  ein handschriftlich erstelltes Schreiben mit folgendem Wortlaut eingegangen:

„Hiermit lege ich K. L zum Rentenbescheid vom 22.6.2021 Wiederspruch ein  N. den 13.06.2022

Rentenversicherung “.

Dem Schreiben beigefügt gewesen ist das Original der dritten und letzten Seite des Widerspruchsbescheides mit dem darauf angegebenen Datum vom 16. Mai 2022, die die Rechtsmittelbelehrung (Klage beim Sozialgerichts Neuruppin) enthalten hat.  Das SG hat daraufhin am 16. Juni 2022 bei der Beklagten die Daten der Klägerin telefonisch ermittelt. Mit Schreiben vom 16. Juni 2022 hat das SG der Klägerin den Eingang der Klage bestätigt und um Übermittlung der Klagebegründung sowie des angefochtenen Bescheides und Widerspruchsbescheides in Kopie gebeten. Zugleich hat es der Beklagten den Eingang der Klage mitgeteilt und die Verwaltungsakte angefordert. 

 

Mit Schriftsatz vom 30. Juni 2022 hat die Beklagte die Akten mit dem Bescheid vom 21. Februar 2022 und dem Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2022 übersandt.

 

Das SG hat die Klägerin mit Schreiben vom 28. Juli 2022 und 26. September 2022 an die Klagebegründung und die Übersendung der angegriffenen Bescheide erinnert.

 

Es hat die Klägerin dann erstmals mit Schreiben vom 9. November 2022 darauf hingewiesen, dass die am 15. Juni 2022 erhobene Klage wegen Unzulässigkeit abzuweisen sein dürfte.  Sie sei nicht unterschrieben und damit nicht rechtswirksam. Außerdem fehlten die Bezeichnung von Kläger und Beklagter und der Gegenstand des Klagebegehrens. Eine rechtswirksame Nachholung der Klageerhebung sei wegen des Ablaufs der Klagefrist nicht mehr möglich.

 

Die Klägerin hat sodann dem SG Neuruppin ihren Widerspruch vom 28. Februar 2022 sowie Kopien der ersten und zweiten Seite des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2022 übersandt (Eingang am 29. November 2022). Zudem hat sie sich mit bei Gericht am 9. Februar und 20. März 2023 eingegangenen handschriftlichen und unterschriebenen Schreiben gemeldet.

 

Nach Anhörung der Beteiligten zu der beabsichtigten Verfahrensweise hat das SG Neuruppin die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17. April 2023 „wegen Unzulässigkeit abgewiesen“. Der Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2022 enthalte eine zutreffende Rechtsmittelbelehrung zur Klageerhebung beim SG Neuruppin innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides. Die Beklagte habe als Absendungsdatum den 17. Mai 2022 angegeben. Erstmalig Kenntnis von dem Widerspruchsbescheid und dessen Datum habe das Gericht erst mit Schriftsatz der Beklagten vom 30. Juni 2022 erhalten. Auf eine rechtswirksame Klageerhebung habe das Gericht nicht mehr hinwirken können. Die Klage habe nicht den notwendigen Inhalt nach § 92 Sozialgerichtsgesetz (SGG) enthalten. Danach müsse die Klage den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Die Klägerin sei durch die mitgeteilte Rentenversicherungsnummer ermittelt worden. Weder der Name der Klägerin habe sich identifizieren lassen, noch habe sie ihre Anschrift benannt.

 

Gegen den ihr am 25. April 2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin mit beim SG Neuruppin am 24. Mai 2023 eingegangenem Schreiben „Wiederspruch“ unter Anführung des Aktenzeichens S 7 R 154/22 eingelegt und u.a. ausgeführt, dass sie keine sechs Stunden mehr arbeiten könne.

 

Die Berichterstatterin hat die Beteiligten mit Scheiben vom 17. August 2023 darauf hingewiesen, dass die Auffassung des SG, die Klage sei unzulässig, unzutreffend sein dürfte. Es werde erwogen, den angefochtenen Gerichtsbescheid aufzuheben und die Sache an das SG zurückzuverweisen, damit dort der Frage, ob der Klägerin ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente zustehe, nachgegangen werden könne.

 

Im Verhandlungstermin des Senats am 20. März 2024 ist die Klägerin nicht vertreten gewesen. Der Vertreter der Beklagten hat in diesem Termin keinen Antrag gestellt. 

 

Wegen des übrigen Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung geworden sind.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung ist zulässig. Insbesondere ist dem mit „Wiederspruch“ überschriebenen, am 24. Mai 2023 beim SG Neuruppin eingegangenen Schreiben der Klägerin unter Bezugnahme auf das erstinstanzliche Aktenzeichen nach Auslegung entsprechend § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen, dass sie sich gegen den Gerichtsbescheid des SG in dem bezeichneten Verfahren vom 17. April 2023 wenden möchte (vgl. § 123 SGG).

 

Die Berufung der Klägerin ist im Sinne einer Zurückverweisung, über die das Landessozialgericht von Amts wegen nach Ermessen entscheidet, begründet. Dies beruht auf § 105 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Danach kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden.

 

So liegt der Fall hier. Das SG Neuruppin hat mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen.

 

Ob und mit welchem Inhalt eine Klage erhoben ist, ist durch Auslegung zu ermitteln, für die die Auslegungsregel des § 133 BGB gilt. Hierfür sind die in der Klageschrift enthaltenen Angaben zu berücksichtigen. Fehlt es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des Gewollten, hat das Gericht darauf hinzuwirken, dass der Kläger bzw. die Klägerin die Zweifel beseitigt. Ist dies nicht mehr rechtszeitig möglich, ist rechtlich maßgebend der Wille des/der Erklärenden, wenn er innerhalb der Klagefrist in der Erklärung einen erkennbaren – wenn auch unvollkommenen –  Ausdruck gefunden hat. Entscheidend ist der objektive Erklärungswert, d.h. wie das Gericht und die übrigen Prozessbeteiligten bei Berücksichtigung aller ihnen erkennbaren Umständen das Rechtsschutzbegehren verstehen müssen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 9. August 2006 – B 12 KR 22/05 R, juris Rn. 19 m.w.N.).

 

Nach diesem Maßstab handelt es sich bei dem am 15. Juni 2022 eingegangenen Schreiben vom 13. Juni 2022 um eine willentlich von der Klägerin an das SG gesandte Klageschrift. Bei der Auslegung der Erklärung der Klägerin nach § 133 BGB sind alle Umstände zu berücksichtigen. Die Klägerin hat in einem an das SG übersandten handschriftlichen Schreiben mit der Verwendung des Begriffs „Wiederspruch“ und Anführung ihrer Versicherungsnummer um eine Überprüfung des Rentenbescheides gebeten. Auch wenn der handschriftlich verfasste Namen der Klägerin zunächst nicht mit Eindeutigkeit zu entziffern gewesen ist, so hat doch die übermittelte Rentenversicherungsnummer eine eindeutige Identifizierung der Klägerin ermöglicht, die dem SG auch unmittelbar durch telefonische Anfrage bei der Beklagten gelungen ist. In Kenntnis des Namens der Klägerin ist der Schriftzug auf der Eingabe auch eindeutig als „K. L“ zu entziffern gewesen.  Den Überprüfungsgegenstand hat sie mit der Übersendung der dritten Seite des  Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2022  hinreichend bezeichnet, so dass es nicht schadet,  dass die Klägerin mit dem Datum „22.6.2021“ nicht den Ausgangsbescheid, sondern den Tag ihrer Rentenantragstellung angegeben hat.

 

Die Klage muss nach § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Dies ist hier der Fall gewesen. Die Klägerin hat ihren Namen und ihre Rentenversicherungsnummer angeführt. Allein mit Hilfe der Rentenversicherungsnummer war das SG in der Lage, den vollständigen Namen der Klägerin und ihre Adresse zu ermitteln, worauf es auch den Eingang der Klage ohne Hinweis auf fehlende Formalien bestätigt hat. Die Beklagte war mit der mitübersandten dritten Seite des Originalwiderspruchsbescheides vom 16. Mai 2022 hinreichend bezeichnet. Auf Rückfrage des SG bei Eingang des Schreibens vom 13. Juni 2022 war die Beklagte anhand des beigefügten Teils des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2022 in der Lage, die Anschrift der Klägerin und  den Ausgangsbescheid zu ermitteln. Auch der Gegenstand des Begehrens – die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente – ließ sich aus der dritten Seite des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2022 hinreichend entnehmen. Den wesentlichen Raum der übersandten dritten Seite des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2022 nahm die Rechtsmittelbelehrung – Klage zum SG Neuruppin – ein. Die Verbindung der Eingabe beim SG mit diesem Teil des Widerspruchsbescheides machte den Rechtsverkehrswillen der Klägerin hinreichend deutlich.

 

Unerheblich ist hingegen die fehlende Unterschrift. Denn § 92 Abs. 1 Satz 3 SGG bestimmt nur, dass die Klage vom Kläger mit Orts- und Zeitangabe unterzeichnet sein „soll“, d.h. nicht muss (vgl. BSG, Beschluss vom 18. August 2022 – B 1 KR 35/22 B, juris Rn. 16). Die in § 90 SGG vorgeschriebene Schriftform erfordert nicht zwingend die handschriftliche Unterzeichnung; § 126 BGB gilt insoweit nicht (Diehm in BeckOGK, SGG, § 90 Rn. 31). Die eigenhändige Unterschrift ist entgegen der Rechtsauffassung des SG nicht Wirksamkeitsvoraussetzung der Klage und kann (wie hier mit am 9. Februar und 20. März 2023 eingegangenen Schreiben der Klägerin geschehen) außerhalb der Klagefrist nachgeholt werden. Dies gilt deshalb, weil die individuelle Zuordnung des Rechtsschutzbegehrens und die Unbedingtheit der Klageerhebung – wie bereits ausgeführt – aus dem Inhalt des eingereichten Schriftstücks hinreichend erkennbar gewesen ist.

 

Ging das SG – nach den obenstehenden Ausführungen in unzutreffender Weise – davon aus, dass die Eingabe vom 13. Juni 2022 nicht dem Schriftformerfordernis genügte, hätte es die Klägerin sobald wie möglich auf diesen Mangel hinweisen müssen, statt ihr unter dem 16. Juni 2022 ohne weiteren Hinweis den Eingang der Klage zu bestätigen und sie zugleich zur Klagebegründung und Übersendung der angefochtenen Bescheide aufzufordern sowie daran mit Schreiben vom 28. Juli und 26. September 2022 zu erinnern. Ein solcher Hinweis war hier keineswegs entbehrlich. Die Nachholung der Unterschrift war noch innerhalb der Klagefrist möglich, da es für die Fiktionswirkung des § 37 Abs. 2 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) wohl an einem Vermerk über die Aufgabe zur Post fehlte (ein solcher ist jedenfalls in den vorliegenden Verwaltungsvorgängen nicht ersichtlich). Im Übrigen wäre mit Blick auf eine etwaig versäumte Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG in Betracht gekommen, die auch von Amts wegen gewährt werden kann.

 

Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens („kann“) hat der Senat das Interesse der Klägerin an einer Erledigung des Rechtsstreits im vorliegenden Berufungsverfahren mit den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei ist berücksichtigt worden, dass die Berufung erst seit relativ kurzer Zeit anhängig ist, der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif ist und tatsächliche Ermittlungen in derzeit nicht erkennbarem Umfang erfordert, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz besonders ins Gewicht fiele. Deshalb erscheint es dem Senat geboten, dem SG zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben.

 

Das SG wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu befinden haben.

 

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht gegeben.

Rechtskraft
Aus
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